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Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Väter erzählen

In den Buchhandlungen gibt es Bücher zu kaufen, auf denen steht: „Papa, erzähl mal!“ Diese Bücher sind unbeschrieben und bestehen aus vielen weißen Seiten. Auf diese weißen Seiten sollen die Väter dann etwas hineinschreiben, also erzählen. Das klingt recht nett und niedlich. Trotzdem habe ich mich lange nicht getraut, so ein Buch zu kaufen und meinen Vater erzählen zu lassen. Das war mir nicht geheuer. Ich glaube, es ging ihm ähnlich, und so waren wir uns auf fatale Weise einig.

Um uns beide auszutricksen, habe ich bei meinem Urgroßvater angefangen und ihn gebeten, zu erzählen:

Urgroßvater (1883-1953)

Es war großartig. Ich hatte den Hof erworben mit der dazugehörigen Werkstatt. Alles lief prächtig. Die Kinder wurden geboren und wuchsen heran. Dann kam der Krieg. Anfangs dachte ich, das sei eine gute Sache, zu kämpfen für dieses unser schönes Land, zu kämpfen für den Kaiser. So etwas wie Niederlage kannte ich nicht. Es war doch nur bergauf gegangen bisher für mich.

Doch dann erlebte ich schreckliche Dinge. Ich sah Bomben die einschlugen und detonierten. Ich sah zerfetzte tote Körper, denen die Eingeweide heraushingen. Ich hatte Todesängste. Ich überlebte. Doch als es vorbei war und ich wieder nachhause kam an den Hof, war ich ein anderer. Ich bekam die Bilder nicht mehr aus dem Kopf, die Bilder des Leidens und Sterbens. Immer wieder diese Bilder. Am schlimmsten war es, wenn mein ältester Sohn, dein Großvater, mich in einem solchem Moment ertappte, wenn die Bilder wieder auftauchten; denn in solchen Momenten stand ich da wie schockgefroren, vollkommen hilflos, und ich schämte mich dafür.

„Was ist denn?“ fragte er dann immer wieder, und er fragte es immer genervter, je älter er wurde. Ich sagte es sei nichts. Und wie ich ihn so heranwachsen sah, hatte ich immer mehr Angst, dass er auch so etwas erleben muss.

Großvater (1910-1955)

Ich habe meinem Vater und seiner Generation nie verziehen, was er mir und meiner Generation angetan hat. Erst verlieren sie den Krieg, weil sie zu feige waren zum Kämpfen. Dann kommt er nachhause und lässt den Hof halb verlottern mit seiner Nichtstuerei. Oft ertappte ich ihn dabei, dass er einfach nur dastand und dumm in die Gegend schaute. Er machte mich rasend vor Wut. Die Zeiten wurden immer schwieriger, und er tat nichts. Er schaute einfach nur zu. Ich wollte weg, wollte dazugehören zu denen, die etwas taten. Und die Neuen, die Nationalsozialisten, die taten endlich etwas, stürzten das untätige etablierte Pack von seinem Sockel. Mein Vater würde schon sehen!

Wie hätte ich denn wissen sollen, dass ich so enttäuscht werden würde? Alles verloren, obwohl ich so viel investiert hatte. Ich war erschöpft, am Boden, und nicht sicher, ob ich froh sein sollte, überlebt zu haben.

Mein Vater übergab mir den Hof, und ich musste ihm auch noch dankbar sein. Ich war nicht gern zuhause. Manchmal wünschte ich mir, meine Söhne wären nie geboren. Zuhause sein war für mich Kapitulation; das Aufgeben von all dem, was ich mir vom Leben erhofft hatte.

Vater (1941-1997)

Mein Vater, dein Großvater, war ein großartiger Mann; ein Draufgänger und Genie. Ich verstehe bis heute nicht, warum sein Bruder und nicht er die Werkstatt bekommen hat. Er war kein Bauer, nein, er war ein Visionär mit großem technischem Verständnis.

Mein Vater und sein Vater mochten sich nicht. Ständig ging mein Vater seinem Vater aus dem Weg. Oft war mein Vater in der Wirtschaft und meine Mutter hatte dann immer große Angst davor, dass er sehr betrunken und übellaunig nachhause kommen würde. Ich verstand ihn. Sollte er gut gelaunt sein? Niemand mochte ihn, obwohl er so ein großartiger Mann, so ein Draufgänger und Genie war.

Ich wollte auch so sein wie mein Vater, aber ich kam nie dazu, denn ich musste immer zuhause sein und meine kleinen Brüder hüten. Wieso verstand meine Mutter nicht, was für ein großartiger Mensch mein Vater war?

Mein Vater ist früh gestorben, keine zwei Jahre nach seinem Vater. Obwohl er seinen Vater nicht mochte, fehlte er ihm trotzdem sehr, nachdem er gestorben war. Ich glaube, er war sehr verbittert, weil ihn niemand mochte.

Immer wollte ich so sein wie mein Vater, aber ich kam nie dazu, auch nicht später im Leben. Immer stellte sich mir jemand oder etwas in den Weg. Ich habe es einfach nicht geschafft.

Ich habe Angst, mein Sohn, dass sich auch dir jemand oder etwas in den Weg stellt und du dem genauso schutzlos ausgeliefert bist wie ich. Aber ich merke, dass ich dir nicht helfen kann, dass du mir entgleitest, so wie mir alles entgleitet ist im Leben, was mir jemals wichtig war.

War es gut, meine Väter erzählen zu lassen? Ich haderte. Doch jetzt bin ich froh, dass sie ihr Schweigen gebrochen haben. Ich habe ihnen endlich verziehen für alles was sie getan und nicht getan haben. Ich habe die Kraft entdeckt, die sie mir geben. Ich habe gelernt, sie zu lieben und zu achten. Ich habe gelernt, mich zu lieben und zu achten und meinen Weg zu gehen; und dass sie auf diesem Weg meine größten Fans sind.

Wo ist das Problem?

Sie tanzen zur Musik. Ich stehe am Rand und gehe nicht hinein, zu ihnen und zur Musik. Ich sträube mich. Ich suche nach einem Grund, nicht zu ihnen hineinzugehen, aber es gibt keinen. Wo ist das Problem, denke ich mir, aber es gibt keines. Was mache ich nur?

Aus Rilkes Liebes-Lied:
… alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Ich will wissen, wer der Geiger ist. Er scheint das Problem zu sein, weil er einen so gewaltsam da hineinzieht. Ich bin wütend auf ihn.

Doch nach dem Geiger zu fragen, heißt das nicht zu sagen: Wo ist das Problem? Nach dem Geiger zu fragen anstatt mit ihm mitzuschwingen, heißt das nicht: Ich sträube mich, werde unrund, arrhythmisch und disharmonisch? Ich schaffe ein Problem, weil ich es unbedingt benennen will.

Jetzt endlich: Ich gehe hinein, schwinge mit und tanze mit ihnen. Da ist eine Harmonie und Resonanz, die ich vorher nicht geahnt habe, weil ich so mit der Suche des Problems beschäftigt war.

Mauerbau

Wie soll ich es sagen? Ich fühle es nur. Sobald ich es denke, wird es überlagert von einer weißen, milchigen Schicht.

Ich versuche es: Ich habe Angst. Es fällt mir schwer es einzugestehen. Ich will keine Angst. Wieso diese Angst? Ich habe doch nichts getan.

Also haben andere etwas getan, dass ich Angst habe. Die anderen, natürlich. Die anderen. Die anderen! Sie werden nicht locker lassen. Ich muss mich schützen. Ich baue eine Mauer.

Ich starre auf die Mauer und habe noch immer Angst. Was tun wenn sie sie einreißen und über mich herfallen? Ich muss sie noch stärker bauen. Viel zu viele Gedanken. Die Angst brodelt gefährlich unter ihnen. Die Gedanken können sie nicht in Schach halten. Sie kämpfen verzweifelt gegen die brodelnde Hitze an.

Erschöpft gehe ich zu Boden. Sie sind sicher zu allem bereit auf der anderen Seite. Ich muss auf der Hut sein. Die dicke hohe Mauer ist vor mir. Ich fühle mich eingesperrt, tot. Was passiert, wenn sie die Mauer tatsächlich einreißen? Ich werde den Gedanken nicht los, dass sie die Mauer einreißen werden. Wie eine weiße, milchige Schicht legt er sich über meine Angst. Ich habe doch nie beabsichtigt, eine Mauer zu bauen. Ich habe doch nur getan, was man tun musste. Kann man toter als tot sein?

Ich habe Angst. Und bin so allein mit ihr. Ich habe Angst zu leben.

Heute ist viel schöner als gestern

Ich kam nachhause. Sie stand nackt in der Küche, mit einem Handspiegel ihr Gesicht betrachtend. Das Licht des Abends legte sich sanft auf ihre Haut. Das war gestern.

Ich will diesen Moment wieder erleben. Ich rief sie heute an, ungefähr zehn Minuten bevor ich nachhause kommen würde, und bat sie, sich wieder nackt in die Küche zu stellen, mit dem Handspiegel in der Hand, um mich wieder so zu empfangen, wie gestern.

Ich war aufgeregt. Doch dann hielt die U-Bahn plötzlich im Tunnel und blieb lange stehen. Endlich an der Station angekommen, stürmte ich aus dem Waggon, drängte mich an den Leuten vorbei und lief nachhause.

Sie stand in der Küche, aber nicht nackt, sondern mit einem Bademantel übergezogen, und nicht mit einem Handspiegel, sondern mit einem Buch in der Hand.

Sie: Da bist du ja./Ich: Ja, tut mir leid. Ich gehe nochmal aus der Wohnung./Sie: Warum?/Ich: Könntest du, bis ich wiederkomme, den Bademantel ausziehen und den Handspiegel in die Hand nehmen, wie gestern?/Sie schaute mich an, halb verständnislos, halb lächelnd und sagte schließlich: Geh. Raus mit dir!

Als ich wieder reinkam, stand sie da, wie gestern, nackt, mit einem Handspiegel in der Hand. Es ist nicht so wie gestern, sagte ich enttäuscht. Es ist dunkler als gestern, weil es schon später ist./Na und, sagte sie, bin ich deshalb weniger schön?/Nein, aber anders./Ja klar, es ist ja auch heute und nicht gestern.

Stimmt. Es ist heute und nicht gestern. Wieso hänge ich so an gestern? Ich schüttle mich kurz, so als müsste ich mich aus einer Schockstarre befreien. Ich ziehe mich aus und gehe zu ihr. Ich streichle ihre Haare und küsse ihren Nacken. Heute ist viel schöner als gestern.

Nichts ist bewiesen

Alles ist Vermutung auf dieser Welt, und nichts ist bewiesen. Nichts kann zu Ende gedacht werden, nur gedacht und wieder losgelassen werden.

Geschichten. Wozu brauche ich Geschichten? Viel zu lange habe ich mich an ihnen festgehalten. Jetzt benutze ich sie als Stütze, und steige über sie hinweg, wenn ich sie nicht mehr brauche. Ich mag das Bild von Wittgenstein, dass man Geschichten benutzt wie eine Leiter, die man unter sich wegwirft nachdem sie einem weitergeholfen hat. Und ich mag das Bild, dass mein Leben jeden Tag beginnt wie ein unbeschriebenes, weißes Blatt Papier.

Wenn alles nur Vermutung ist auf dieser Welt und nichts bewiesen ist, was bleibt mir dann? Mir bleibt mein Leben, und das ist alles was ich brauche.

Quantenphysik für Laien

Ich habe beschlossen, eine Reise zu machen. Dahin, wo mir meine Geschichte nicht diktiert, wo ich wann zu sein habe und vor allem wie ich zu sein habe.

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Ich bade in weitem, klarem Wasser. Die Grenzen zerfliessen. Ich bin eins mit dem Wasser. Raum und Zeit zerfliessen und vereinen sich mit dir und mir.

Zweifel und Vertrauen

Ich habe gelernt, mich mindestens zweigeteilt zu erleben. Ich erlebe den kleinen Jungen in mir, der ständig Angst davor hat, allein zu sein. Wird dieser Junge tatsächlich so allein gelassen, oder hat er es nur so erlebt und das Gefühl lässt ihn nicht mehr los? Wäre er sonst nicht schon längst ein großer Mann?

Der kleine Junge kam zu mir, panisch, aufgeregt, weinend. „Siehst du“, sagte er, „sie hat mich verlassen, weil ich ihr nicht gefallen habe. Ich habe ihr nicht gefallen, dabei habe ich so darauf geachtet, ihr zu gefallen!“

Ich, das ist der andere Teil in mir, den ich den großen Mann nenne und den ich erst kürzlich in mir entdeckt habe, nahm den Jungen in den Arm. Anfangs sträubte sich der Junge hierzubleiben, er sagte: „Nein! Was verstehst du schon? Du hast doch keine Ahnung wie enttäuscht ich bin!“

Aber dann wusste er die Wärme der Umarmung des großen Mannes mehr und mehr zu schätzen und sträubte sich nicht mehr, sondern weinte hemmungslos. Als seine Tränen weniger wurden und seine Trauer nachließ, da sagte der große Mann zu ihm: „Du hast vergessen, dir selbst zu gefallen; deshalb ist sie weg gegangen, hat dich verlassen. Sie will dich erleben und nicht den Gefallen, den du vorgibst ihr zu geben.

„Wird sie wiederkommen?“ fragte der kleine Junge, noch immer ängstlich. „Sie wird sich davor hüten, solange du sie anbettelst darum wie mich gerade; und ich würde sie ohnehin nicht zu dir lassen“, sagte der große Mann. „Denn du brauchst Zeit, um dir selbst zu gefallen. Du brauchst Zeit bis zu dem Morgen, an dem du vor dein Spiegelbild trittst und zu ihm sagst: ‚Ich liebe dich!‘ Und du hast Zeit. Du hast Zeit. Mit ruhigen Schritten gehst du über grüne Wiesen, denn du hast Zeit, Zeit, Zeit.“

Daraufhin schlief der kleine Junge in den Armen des großen Mannes ein.

Londoner Erinnerung: The Story of Tami

Diese Geschichte ist 2003 in London entstanden:

Real stories must take place at weekends, I always thought. I mean, maybe I should not say real stories, but stories which are of interest to anybody. Who is interested in the dullness of a Monday morning in the office when everything you can tell is the rush hour hell you have just experienced another time. Crowded tube station, missed bus – is it worth talking about that?

Well, nonetheless I am going to begin my story on a Monday morning at my office desk. It is because I need a starting point. And it is because I want to tell you a real story, a story that talks about the real concerns of human nature.

What else do real stories contain? – A woman, of course. My story will contain a woman. Let me give her a name: Her name is Mia. She will be my thread throughout the story. I will manipulate her. I will let her do things that I want her to do. She will be my aid to underline the real concerns, to show you a good grasp of reality.

Let me first of all tell you the story of Tami: Tami is a young boy who becomes a young man. Then he realises what a struggle life can be. But he has a strong belief: He believes that he can find the woman he can be happy with his whole life, against all the odds of human life. I always wanted to write the story of Tami, and how he gets along and handles all the struggle and finally ends in the arms of his beloved woman; because I used to think that I was Tami.

Why do I introduce Mia into my story? Because she believed in the contrary. She thought life without a man would be much easier, would be the desirable state. Being with a man she considered the inevitable, because in the end you would have to give in to your sexuality. And she was highly sexual. She wanted to have sex every day. She wanted a man to touch her breasts, to penetrate her, to make her scream out of sexual pleasure. But the man she imagined did not have a face. It was a stranger, and as soon as they finished making love to each other, she turned away from him and he went away without saying a word.

When she had such fantasies, Mia masturbated regularly, but after that she was always very scared. She put the blanket over her head and was ashamed of her body, of her whole sexuality. She imagined her body as an eating-and-shitting-organism, (Yes, our body is an eating-and-shitting-mechanism!), she lost all her dignity and self-respect and had to cry. She was afraid the man might return and desire her body again when she was denying her body at the same time. On nights like this she always got up to drink a glass of water, but not before she had covered her body with her wide, not-showing-any-shape night dress. She could not bear to see her naked body when she was in such a miserable mental condition.

Have I manipulated Mia enough? I think so. Because when I got to know her, she appeared as a very asexual woman to me. She was more a girl than a woman, scared of the world and scared of herself. We had escaped the dullness of our office desks and walked along the pavement which was wet from the drizzling rain. (In fact, now the story really begins – we are not in the office any more.) She was cold, and her cheeks were red, so lovely red. I offered her my hat and she took it immediately. She was so lovely, with her red curly hair coming out under the hat.

We went into a café, one of those chains, and my hot chocolate tasted horrible. Life felt like a piece of shit. It was January, January in a big city, with so many lonely hearts, looking out of their windows and starring at the drizzling rain. But I could share this shit with Mia. My body was not an eating-and-shitting-organism at all. It was a body that contained a soul that felt delighted by the moment.

Love was inevitable. This is the sentence that had to come now. In our case, it was inevitable that our bodies would find out that we are man and woman. I laid my arm around Mia, and she got irritated by that. But she did not resist. She almost forced us to get to her place. She had Tami in her mind. She suddenly knew about the story I was always dreaming of. She took me home and led me straight to her room.

For a moment she was not sure what to do, but then she decided that I should be the man of her dreams. She dimmed the light before she undressed so that my face would not be clearly recognisable during our love-making. We made love and I touched her breasts and penetrated her and it all felt so easy.

But Mia had to wake up from her dream. She turned aside as usual in order not to see the man anymore. However, the man did not go. I stayed with her, and in the morning I kissed her gently and got up and made breakfast. I thought my story of Tami was becoming true. When I came back to bed my face was enlightened by the sunshine. It was so clear, so clearly recognisable for Mia in this pure morning light. It was too much for her. She took the cup of coffee and spilt it into my face. She covered herself with the duvet and cried silently. Oh, if this was not so real! And if only the story of Tami was a real story, I thought when I left her place in the morning light. It was not weekend, and I had to get to work.

Stillsee – oder: Aus dem Leben eines Spießers

Sonntag, das muss ich zugeben, ist der Tag, mit dem ich am wenigsten anfangen kann. Dem Sonntag fehlt die Ordnung der anderen Wochentage.

Während der Woche komme ich gar nicht zum Denken, was ich tun könnte. Meistens wird es spät in der Arbeit. Abends wartet meine Frau mit dem Essen, oder auch nicht. Wenn nicht, dann trinke ich ein Bier mit einem Kollegen, meistens mit Basti. Wenn Fußball läuft schauen wir Fußball zum Bier. Selber Sport machen geht sich meist nicht aus, obwohl ich eine Jahreskarte im Fitnessstudio habe. So vergeht also jede Woche.

Auch der Samstag hat meist seine feste Ordnung. Einkaufen, etwas besorgen, sich um die Wohnung kümmern. Nachmittags oder abends trifft man sich mit Freunden und die Männer reden über Fußball. Oder über die neueste Technik und was man sich davon geleistet hat. Da denk ich mir oft: Gottseidank hab ich so einen guten Job dass ich mir all das leisten kann und hoffentlich verlier ich den nie, sonst können wir uns das alles nicht mehr leisten was wir uns leisten, und bei den Freunden bräuchten wir uns gar nicht mehr blicken lassen.

Doch am Sonntag, da wache ich manchmal auf und denke mir: Was mache ich bloß mit diesem Tag? Die Geschäfte haben zu, man kann also nichts besorgen. Und dauernd online sein ist auch nicht gut; ich lese immer mehr Artikel über Internet-Süchtige, zu denen will ich wirklich nicht gehören. Wobei mir jetzt gerade einfällt, dass ich mich schon längst um eine vollintegrierte Musikanlage für die ganze Wohnung kümmern wollte.

Meine Frau meint, wir könnten rausfahren, in die Natur, an den See. Und sie hat recht: Am Sonntag soll man etwas Schönes tun, sich entspannen, damit man montags wieder fit in die Arbeitswoche startet. Also packen wir die Sachen. Doch dann sagt meine Frau, ich solle doch mal ihre Haare anschauen! So könne sie sich nicht blicken lassen. Mir ist klar – das dauert mindestens eine halbe Stunde, bis sie fertig ist. Bleibt mir Zeit, die neue Navigations-App runterzuladen. So finden wir viel leichter an den See.

Nach dieser halben Stunde höre ich sie dann im Kleiderschrank rumkramen. Als ich zu ihr ins Schlafzimmer gehe, meint sie: „Ich finde kein passendes Kleid!“
„Was ist mit diesem Zalando-Paket hier? Ist da nicht vielleicht ein passendes drin?“
„Nein, das habe ich mir für die Grillfeier nächsten Samstag gekauft.“

Beinahe können wir nicht fahren, weil sie kein passendes Kleid findet. Doch wie meist findet sich doch noch ein passender Stoff, mit dem sie ihre Haut bedeckt. Schade eigentlich, ich hatte gerade Lust zum Vögeln bekommen. „Lass das, wir fahren jetzt!“ sagt sie nur dazu.

Meine App ist runtergeladen. Die Alternativroute ist gut, wir entgehen dem Stau am Ring, stelle ich mit Stolz fest als ich den Verkehrsfunk im Radio höre.

„Ich habe diese Woche gelesen von einem Stillsee. Es soll recht still und romantisch sein dort. Lass uns doch dorthin fahren!“ meint sie, wie aus einer Laune heraus.
„Wie, wir fahren nicht ins Lauterer Strandbad?“
„Lass uns doch mal was anderes machen.“
„Jetzt habe ich extra die neue App runtergeladen, um besser ins Strandbad zu kommen. Aber gut… Wo ist dieser Stillsee?“
„In der Nähe von Scheibersbrunn.“

Ganz andere Richtung, dachte ich. Hätte sie das nicht früher sagen können! Wir standen im Stau am Ring, und ich fand auf meiner App nur einen Stillsee in Mecklenburg-Vorpommern.

„Wo ist jetzt dieser Stillsee, herrgott nochmal?“
„In der Nähe von Scheibersbrunn, hab ich doch gesagt.“
„Ja, aber wo genau??“
„Du kennst dich doch immer so gut aus, wirst ihn schon finden!“

Gefühlt irgendwann kamen wir an einem Parkplatz im Wald an, in dessen Nähe der Stillsee sein soll. Kaum ausgestiegen, beschwerte sie sich über die Insekten und den dreckigen Pfad. Ich meinte, sie solle still sein, es war schließlich ihre Idee. Still, das war er dann, der Stillsee. Wiese und Wasser, sonst nichts. Nicht einmal ein Steg zum Reinspringen. Zudem hängen sie auch nackt hier rum, wie eklig. Wir hatten nur lauwarmes Wasser zum Trinken, und was zu kaufen gab es sowieso nicht.

Dann kamen plötzlich Basti und Katja, und wie sich herausstellte, hatte auch Katja den Geheimtipp gelesen vom Stillsee. Michael würde auch noch kommen und einen Kasten Bier mitbringen, meinte Basti. Als Michael dann wirklich mit seinem Kasten ankam, war der Sonntag doch noch gerettet. Wir prosteten uns zu und lachten und scherzten; das ließ die Langeweile dieses Ortes vergessen. Mitten in unserer Mordsgaudi kam dann plötzlich ein Fremder zu uns und fragte, ob wir nicht ein bißchen leiser sein könnten. Dies sei ein Ort, an den die meisten Leute kommen, um etwas Ruhe zu finden.

„Was willst du Alter?“ rief Basti, vom Bier wohl etwas übermütig. „Verpiss dich und geh woanders hin, wenn du deine Ruhe haben willst.“
„Jetzt werden Sie nicht unverschämt!“ sagte der Fremde. „Nehmen Sie Rücksicht auf Ihre Umwelt. Hier sind andere Menschen, hier leben Tiere und Pflanzen.“
„Du Klugscheißer“, redete Basti sich in Rage, „verzieh dich oder ich polier dir die Fresse!“

Katja und meine Frau hielten ihn zurück, als er auf den Mann losgehen wollte. Ich verstand nicht. Was war das denn eben? Die Stimmung war jedenfalls im Eimer. Bald darauf trollten wir uns in Richtung Parkplatz. Der Fremde lief uns nach, mit zwei leeren Flaschen in der Hand, die wir liegen gelassen hatten. Ich nahm sie wortlos entgegen.

Meine Frau setzte sich ans Steuer; ich hatte zuviel Bier getrunken. Die Landschaft zog an uns vorbei, doch es langweilte mich. Ich zog mein Smartphone und checkte meine E-Mails. Da fühlte ich mich aufgehoben, geordnet. Gottseidank war morgen wieder Montag. Ich würde wissen, was ich zu tun habe und es gut machen. Soll dieses faule Gesindel doch die ganze Woche abhängen an ihrem stillen Stillsee und Ameisen zählen! Ich habe Wichtigeres zu tun. Mein Chef, ich komme!

Gute-Nacht-Geschichte

Der Regen hatte aufgehört, und von Westen her wurde es wieder hell; so als hätte der Morgen die Seiten gewechselt. Der Dunst stieg auf und gab den Blick frei auf das saftige, sommerliche Grün ringsumher. Ich spüre noch meine Füße im feuchten Gras, als wir unseren Lichttanz aufführten.

Später, als ich mit dem Fahrrad nachhause fuhr, erschien mir die Nacht sehr hell; heller als andere Nächte. Die Schellingstraße gab den Blick frei auf die erleuchtete Ludwigskirche. Ich fuhr weiter, an zuhause vorbei, zur erleuchteten Ludwigskirche, meinem Stern dieser Nacht. Die Luft zog angenehm um meinen Kopf, und die Leute, die unterwegs waren, zogen an mir vorbei wie Engelsgestalten.

Als ich nach einer großen Schleife zuhause angekommen war, schrieb ich voller Euphorie etwas von lichtbeschienenen Gesichtern nach dem Regen und dass das Ich die Gemeinschaft und Liebe anderer braucht, um sich selbst finden und lieben zu können. Aber das klang alles nicht richtig in meinen Ohren, höchstens pathetisch. Schiller lässt grüßen mit seinen schwülstigen Worten, die mich immer skeptisch machen.

Also Musik: Ich hörte die Suite für Viola da Gamba in D-Dur von Carl Friedrich Abel – das hörte sich richtig an. Ich gab mein Bemühen um die richtigen Worte an die Musik ab, die die richtigen Töne fand für mich, um mich wahrhaftig zu fühlen. Durch sie beschritt ich einen Tunnel, der mich zum Altar meiner wahren Gefühle bringt.

Doch ich ging nicht den ganzen Weg, denn ich war müde. Ich legte mich in eine Nische, froh und glücklich darüber, dass ich auf dem Weg bin, der sich mein Leben nennt. Nun genug der Worte: Musik, meine Freunde, schlafbeschwörende Musik!