Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Unbetäubt (Noch nie waren wir uns so nah)

Ich betäube mich mit Worten. Mit dem Wort betäuben. Betäuben kommt von täuben. Täuben kommt von taub. Taub kommt von weit her, vom althochdeutschen toub: unempfindlich, stumpf, unsinnig. Im Mittelhochdeutschen hieß es dann döf, woraus englisch deaf und neuhochdeutsch doof hervorging. Doof ist also das ursprüngliche, über das gehörlose hinausgehende taub.

Zurück zum heute gebräuchlichen Verb betäuben, mit dem ich mich betäube. Ich stoße auf umfangreiche Lektüre. Klassisches Betäuben heißt unterdrücken, oft gewaltsam. Das zeigen die Jahrhunderte, die seit dem Althochdeutschen vergangen sind. Moderneres Betäuben heißt ablenken: mit Arbeit, mit ausschweifenden Vergnügungen, mit digitalem Gedaddel, mit Lektüre.

Ich lege die Lektüre, mein Betäubungsmittel, ab, um mich selbst abzulegen. Ich fühle mich schwach und verletzlich, gleichzeitig stark und mächtig. Keine betäubenden Gedanken mehr. Gibt es das Gegenteil von betäubt, von taub, von doof? So fühle ich mich: ruhend, gleichzeitig wach und klar.

Du liegst neben mir, und ich spüre, wie du dich fühlst: schwach und verletzlich, gleichzeitig stark und mächtig. Liegend ruhen wir. Wir lenken uns nicht ab mit ausschweifenden körperlichen Vergnügungen. Wir sind unbetäubt. Unser Atem hält uns wach und klar. Noch nie waren wir uns so nah.

Ich bin tief unten

Ich bin tief unten. Das kann ich jetzt sagen, weil ich zwischenzeitlich weit oben war. Lange war ich nur tief unten. Es gab kein Unten und kein Oben. Unten war normal. Unten schob ich ein schweres Bassin, das randvoll mit Wasser gefüllt war. Alle anderen, zumindest die, die ich kannte, schoben auch ein Bassin. Jeder hatte sein Bassin, das randvoll mit Wasser gefüllt war. Wir mussten aufpassen, nicht mit den schweren, wassergefüllten Bassins aneinanderzustoßen oder zwischen ihnen zerquetscht zu werden. Solche Zerquetschungen kamen oft vor, die nicht selten tödlich endeten.

Als ich Zeuge einer solchen tödliche Zerquetschung wurde, verweigerte ich, mein wassergefüllte Bassin weiter herumzuschieben, woraufhin große Aufregung herrschte. Das sei doch nicht normal, war die einhellige Meinung, dass einer sein wassergefülltes Bassin nicht mehr herumschieben will. Das machen doch alle. Meine Eltern, für die das Herumschieben des wassergefüllten Bassins eine furchtbare Plackerei war, die es aber trotzdem widerstandslos taten, machten sich große Sorgen um mich, und sie sorgten dafür, dass ich in psychiatrische Behandlung komme, um meine Verweigerung, mein wassergefülltes Bassin herumzuschieben, aufzugeben.

In die Psychiatrie musste und durfte ich mein wasserbefülltes Bassin nicht mitnehmen. Das schoben derweil meine Eltern zusätzlich hin und her, um es mir nach meiner Rückkehr wieder zu übergeben. Denn es war wichtig, scheinbar überlebenswichtig, sein Bassin nicht zu verlieren. Ohne Bassin war man nichts. Tatsächlich fehlte mir mein Bassin in der Psychiatrie. Ich saß buchstäblich auf dem Trockenen. Nach längerem Nachdenken bemerkte ich, dass mir nicht das Bassin mit seinen harten Wänden, sondern das Wasser darin fehlte. Mir fehlte das Wasser so sehr, dass ich mich nachts aus der Psychiatrie zu meinem Bassin schlich. Ich wollte unbedingt ins Wasser, obwohl ich nicht schwimmen konnte. Ich versuchte, die Außenwand des Bassins hochzuklettern, rutschte aber immer wieder ab. Plötzlich aber zog es mich nach oben, und von oben plumpste ich ins Wasser. Die Wände des Bassins waren verschwunden. Ich konnte nicht sagen, wo oben und unten ist. Es war auch nicht wichtig. Ich sah nur mehr Wasser um mich. Ich patschte unbeholfen im Wasser herum. Ich war nicht gewohnt, mich im Wasser zu bewegen, ich war nur gewohnt, es im Bassin herumzuschieben. Ich hatte Panik unterzugehen und zu ertrinken, doch dann bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass ich getragen wurde.

Ehe ich das Getragenwerden genießen kann, finde ich mich wieder in der Psychiatrie. Mir wird gesagt: Das Untensein ist der Normalzustand. Schlag dir das Oben aus dem Kopf. Oben gibt es nicht.

Zum Tod von Milan Kundera

Ich ging zum Bücherregal und betrachtete die Rücken seiner Bücher. Ich wollte alle lesen und nahm keines in die Hand.

Stattdessen las ich wieder und wieder: Am Dienstag, dem 11. Juli, ist Milan Kundera in Paris gestorben. Das ist an sich keine Nachricht. Ich habe Milan Kundera nicht gekannt und Milan Kundera wollte nicht gekannt werden. Der Romancier ist im Hintergrund.

Seine Bücher sind tiefer Hintergrund. Vielleicht ist sein Tod deshalb so ein stiller, weil der aktuelle Zeitgeist nur den Vordergrund kennt.

 

Weil du mich liebst

Die feinen Härchen auf deiner Haut stellten sich auf und signalisierten Abwehr. Obwohl du nackt warst, verhülltest du dich. Alles an dir verschloss sich. Ich machte eine ungeschickte Bewegung, weil ich überrascht und überfordert war von deiner plötzlichen Verschlossenheit.

Du kommentiertest meine ungeschickte Bewegung: Bist du behindert? sagtest du.

Ich war drauf und dran, mich als behindert wahrzunehmen und mich in dieser Wahrnehmung aus dem Zimmer ins Bad zu schleichen. Dann besann ich mich und ließ das Schleichen sein. Ich richtete mich auf und ging aufrecht ins Bad.

Als ich zurückkam, schmolltest du. Wir schwiegen. Augenkontakt verweigtertest du. Nach einer Weile sprangst du auf und gingst ins Bad.

Als du zurückkamst, hatte ich mich hingelegt. Du beugtest dich über mich. Bist du mir böse? flüstertest du mir ins Ohr. Ich begann deine Haare und deine Haut zu streicheln: Böse? Ich bin dir nicht böse. Ich bin dir nie böse. Weil ich weiß, dass du mich liebst.

Wahre Liebe

Anfangs fuhr ich den Neckar entlang, dann, bevor ich Stuttgart erreichte, bog ich ab und hügelte mich durchs Ländle. Ohne dich hätte ich diese Reise nicht unternommen. Du hast mich geschickt. Ich bin dir dankbar für überall, wo du mich hinschickst. Durch dich bewege ich mich, wie ich mich aus mir heraus nicht bewegte.

Ich kam an die Murr, einen Nebenfluss des Neckars. Ich sah die Murr nicht. Ich sah nur die Straße und die Häuser an ihr, und hatte ohnehin nur einen Blick für die Straßenschilder, um dort hin zu gelangen, wo du mich hingeschickt hast. Am Schleifrain – was immer das heißt – lieferte ich ab, um dann frei zu sein zu gehen, ins Land von Schiller, Hesse und Hölderlin. Ich verließ den Schleifrain und ging die Straße entlang, an den Häusern entlang, die hier Steinheime genannt werden. Schließlich war ich in Steinheim an der Murr. Die Murr sah ich immer noch nicht, stattdessen schwere Wolken am Himmel, und so beschloss ich, die hügeligen Fluren nicht zu durchwandern, sondern in einen Bus nach Marbach zu steigen. Der Bus hügelte nicht nach Marbach, sondern tunnelte sich durch Tunnels. Kurz vor Marbach, gerade aus dem Tunnel kommend, sah ich die Murr, wie sie in den Neckar fließt. In Marbach schillerte der Himmel nicht, im Gegenteil, die schweren Wolken hingen noch schwerer am Himmel, sodass ich nicht nach Schiller-Town ging, sondern am Bahnhof blieb und einen Zug nach Stuttgart bestieg.

Zunächst ließ ich mich über den Neckar brücken, um dann durch die Hügel nach Stuttgart hineingetunnelt zu werden, bis ich dem Zug ent- und aufwärts ins Tageslicht stieg, wo mich die Königstraße aufnahm. Stuttgart also, noch immer die schweren Wolken, zu denen der Dunst des gefallenen Regens hinaufstieg. Ich sah nicht die Möglichkeit hierzubleiben. Ich hatte zu große Sehnsucht nach dir. Ich wollte in Bewegung bleiben. Ich ging eine Schleife über Schlossplatz und Schlossgarten, bis ich die große Baustelle am Hauptbahnhof erreichte, wo mich ein Holzverschlag aufnahm, der in langem Bogen zu den Gleisen der Fernzüge führte. Mit hunderten Anderen durchschritt ich den Holzverschlag, die wie ich zu den Fernzügen wollten, und hunderte Andere kamen uns entgegen, die von den Fernzügen kamen. Wie zwei Kolonnen Gefangener durchschritten wir den Holzverschlag. Wie Opfer der modernen Welt. Back on the Chain Gang – ich hörte Chrissie Hyndes Stimme in meinem Kopf.

Wo warst du? Ich glaubte, dich verloren zu haben. Dass du mich nach Stuttgart geschickt hast, erschien mir eine harte Prüfung. Doch durch dich ist mir keine Prüfung zu hart. Du bist die Prüfung, die ich bestehen will.

Der Zug stieß hinaus aus der Stadt zum Neckar, fuhr ihn eine Weile entlang. Dann raste er durch die Tunnel nach Ulm. Bei Augsburg erreichte er den Regen, der an die Scheiben perlte. Ein Schauer durchjagte meinen Leib bei dem Gedanken, bald wieder bei dir zu sein.

Alles kommt und geht, sagtest du.
Jetzt sind wir hier, sagte ich.
Du liebst mich, sagte ich.
Ja, ich liebe dich, sagtest du.

Ich durchschritt die Bahnhofshalle. Ich bin gekommen, und ich werde gehen. Jetzt bin ich hier. From this moment on I know exactly where my life will go. Ich hörte John Lennons Stimme in meinem Kopf, während alle Gesichter mir sagten: Ja, es ist wahre Liebe. Die Stadt jubilierte. Das alles schien nur möglich, weil du mich nach Stuttgart geschickt hast. Muss man Stuttgart und sein Land nicht lieben? Es ist magisch, wie du mich das Glück erkennen lässt.

Lass uns nicht von Sex reden

Du sagst, dass wir uns brauchen. Wir brauchen uns? Ich brauche dich. Aber brauchst du mich? Brauche ich dich?

Wir liegen unter der Decke, ohne uns zu vereinigen. Wir vereinigeln uns in unserer gemeinsamen Einsamkeit, in grausamer Bedürftigkeit. Neugier und Freude kriechen aus der Decke, werden verscheucht von der mit aller Macht hereinkriechenden Angst.

Ein ängstliches Erwarten hemmt unsere Leiber. Das Blut stockt und das Fleisch wird hart und kalt. Nicht einmal die Tränen schaffen es aus meinen Augen. Wie können wir uns brauchen, wenn das Leben aus uns zu weichen scheint?

Mein Herz schlägt – noch – trotz meines erstarrten Leibes. Ich spüre es heftig pochen in meiner Brust. Es ermahnt mich, hier zu bleiben, hier in meinem Leib, hier bei dir. Jenseits meiner Angst begehre ich dich, begehre ich deinen Leib. Ich lege meinen Kopf auf deine Brust und spüre dein Herz pochen.

Lass uns nicht von Sex reden, sage ich, nicht von dem Sex, den ich bisher dachte:

Durch dich will ich ihn hinter mir lassen.

Lass uns überhaupt nicht reden, sagst du, während ich mit meiner Zunge von den Tränen auf deinen Wangen koste. Ich spüre das Blut in meinen Adern. Ich spüre die Kraft meines Begehrens und lege mich auf deinen warmen, offenen Leib.