Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Back to Anger (Ihr Kinderlein saufet) 2

Fortsetzung von Teil 1

Nach diesem gemeinsamen Ausflug sahen Mitterbichler und ich uns nicht wieder. Ich wollte, ich musste weg vom Stoissertal: war in Wien, in Rom, in Paris, in London. Und schließlich landete ich in München.

Und hier bin ich, in München, an einem grauen Dezembertag des Jahres 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Lockdown der Corona-Krise, Vorderbrandner fuhr mich mit einem London-Taxi durch die Stadt, wir hatten, wie gesagt, triftige Gründe dafür, schließlich arbeiteten wir an unserem weihnachtlichen Feature Alkoholismus unterm Tannenbaum, kamen aber nicht recht voran. Bewegung inspiriert, hofften wir. Vorglühen zu Weihnachten, Vollrausch zu Sylvester – beides ist dieses Jahr nicht möglich. Es herrscht eine Sehnsucht nach Normalität. Das hatte ich bisher notiert. Wir warfen uns Parolen zu wie Alkohol, das Öl der Gesellschaft oder Gemeinsam saufen ist normal, alleine saufen ist fatal. Die Sehnsucht der Herzen nach Normalität. Um uns weiter zu inspirieren, spielte ich im geräumigen Fond des Taxis, wo ich meine Gitarre fertig gestimmt hatte, die umgetextete Version des Weihnachtsklassikers Ihr Kinderlein kommet:

Ihr Kinderlein saufet, oh saufet doch all
Ins Koma euch saufet zu Bethlehems Stall
Und seht was in dieser hochgeistigen Nacht
das Saufen ins Koma für Freude uns macht

Oh sehet die Hirten, den Kai und den Udo,
Ihnen ist kotzübel, sie kotzen ins Stroh
Vom vielen Komasaufen ist ihnen ganz schlecht
Manche würden sagen: "Das geschieht ihnen recht!"

Oh sehet das Kindlein im vollgekotzten Stroh
Maria und Josef suchen derweil ein Klo
Und weil sie keins finden machen sie ins Gebüsch
Da sehen sie Kai und Udo und rufen: "Erwischt!"

Hier die Version unseres Features, die wir schlussendlich gesendet haben:

Aber das nur nebenbei, denn unsere Taxifahrt ging weiter und nahm einen unerwarteten Verlauf: Plötzlich nämlich, ich legte die Gitarre gerade zur Seite, fiel mir eine verwirrte Gestalt am Straßenrand auf, ich schaute ihr nach, die Gestalt trug eine abgetragene braune Jacke mit einem roten, einem gelben und einem weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln. Ich schaute in die andere Richtung, um das eben Gesehene zu verarbeiten. Oder um es zu vergessen. Als es mich wie der Blitz traf: Mitterbichler? Mitterbichler. Mitterbichler! –

„Halt sofort an!“
„Geht hier nicht.“
„Doch, halt an! Lass mich raus!“
Unter einem Hupkonzert lief ich über die Straße. Er war es, natürlich, wer sonst, die verwirrte Gestalt war Mitterbichler, in der Jacke wie damals in Schwabing, fröstelnd, mit wirrem Blick. Als ich näherkam, merkte ich: Er war völlig betrunken.

Ich hätte ihn stehen lassen können, aber ich tat es nicht, ich zerrte ihn ins London Taxi, Vorderbrandner fuhr weiter, Mitterbichler lag auf der Rückbank, völlig apathisch, nicht ansprechbar, ich sagte zu Vorderbrandner: „Oasis: Don’t Look Back in Anger – spiel das mal!“ Als die ersten Töne erklangen, horchte Mitterbichler auf: „Back to Anger“, murmelte er. Dann kotzte er ins Auto.

Nachdem wir an der Tanke das Gröbste entfernt hatten, sagte ich zu Vorderbrandner:
„Fahr nach Anger!“
„Wohin?“
„Salzburger Autobahn, kurz vor der Grenze.“
Es war schlechte Luft im Wagen. Mitterbichler schlief röchelnd auf der Rückbank ein, während ich ihn vom Klappsitz hinter der Fahrerkabine beobachtete. Ab und zu zuckte er hoch, schaute erschreckt, um wieder wegzudösen.

Back to Anger – mit freundlicher Genehmigung von Volvo Autohaus München. Foto: Isabel Sieber

„Ich sag dir, was mit dem ist“, sagte Vorderbrandner und setzte zu einem Vortrag an: „Der Opa war bei der Wehrmacht und hat nicht darüber geredet, die Oma hat das Mutterkreuz verliehen bekommen und war stolz darauf, mit dem Vater durfte nicht über Neger geredet werden, denn schon Schlesier und Sudetendeutsche waren unerträgliche Menschen, und die Mutter flüchtete sich in ihrer Verzweiflung in eine christliche Doppelmoral. Ein ganz normaler bayrischer Lebenslauf: Über nichts darf geredet werden, man spürt und fühlt es dafür umso mehr, man bekommt Angst vor diesen Gefühlen und muss sie betäuben. Mit Alkohol.“ Mitterbichler röchelte unbeeindruckt auf der Rückbank weiter, während ich überlegte, ob wir Vorderbrandners Vortrag in unser Feature aufnehmen sollten.

In Anger hielten wir am Dorfplatz, Mitterbichler röchelte weiter, Vorderbrandner und ich stiegen aus. Ich schaute zurück und sah, wo Mitterbichlers Wagen gestanden hatte, damals, als wir nach München aufbrachen. Da kam mein Onkel daher: „Emil, was für eine Überraschung! Schöne Weihnachten! Schau doch wieder mal am Sportplatz vorbei!“ Seine Augen wurden glasig, das werden sie immer, seit mein Vater, sein Bruder, tot ist: „Was führt dich hierher, Junge? Hat dich das Heimweh gepackt?“
„Wir haben den Mitterbichler im Auto. Wohnt der noch hier?“
„Ja, ja, gleich da drüben. Bei seinen Schwiegerleuten im Haus, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern… – ja, was ist denn mit ihm?“
„Der hat einen totalen Rausch.“
„Oh mei, oh mei, des Corona! Normalerweise geht er zum Sportverein oder zur Musikkapelle einen heben, aber des geht ja jetzt ned…“
Mein Onkel schaute verwundert auf unser Taxi. Ich öffnete die Tür, daraufhin stieg mein Onkel in den Wagen und weckte Mitterbichler unsanft: „Geh jetzt heim und schlaf dein Rausch aus, du besoffener Depp!“
Mitterbichler kroch aus dem Wagen und schlurfte nachhause.

Ich blickte hoch zum Stoissberg und überlegte für einen Moment, Vorderbrandner allein fahren zu lassen und in Anger zu bleiben, da sagte mein Onkel: „Und jetzt? Fahrt’s wieder? Weg aus dem Risikogebiet Berchtesgadener Land?“ Er lächelte mit seinen immer noch glasigen Augen.

Ich stieg ein, Vorderbrandner lenkte das Taxi auf die Autobahn. Ich blickte hinten raus, zurück nach Anger, und sagte zu Vorderbrandner: Spiel bitte noch einmal Oasis – Don’t Look Back in Anger!“

Back to Anger (Ihr Kinderlein saufet) 1

Ein grauer Dezembertag im Jahr 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Corona-Lockdown. Vorderbrander fuhr mich mit einem London-Taxi durch München, triftige Gründe hatten uns dazu gebracht: Wir waren auf der Suche nach Inspiration für unser Feature Alkoholismus unterm Weihnachtsbaum, kamen aber nicht recht voran. Dann wurden wir auch noch von der Realität eingeholt. Doch bevor ich von dieser realistischen Einholung erzähle, muss für Ihr Verständnis, geneigter Leser, Folgendes erwähnt werden:

Zum Tal der Stoisser Ache – dem Stoissertal, wie ich es nenne – habe ich eine romantische Beziehung, obwohl es nicht nur von der Ache, sondern auch vom Verkehr der Autobahn München-Salzburg durchflossen wird. Zwischen den sanften Hügeln des Högls und des Stoissbergs liegt das grüne Tal, und oben, wo die Ache entspringt, an den Flanken des Stoissbergs, liegt das Gut Hinterstoiss, wo der erste Hinterstoisser wohnte, oder zumindest der erste, der so genannt wurde.

Ich war gerade achtzehn geworden, es war ein milder Frühlingstag Mitte der 1990er Jahre, und ich näherte mich dem Stoissertal wie immer von Norden, von Freilassing kommend, ich radelte über die Westflanken des Högls nach Anger, dem größten Dorf im Stoissertal. Ich weiß nicht mehr, was genau der Grund war, dass ich nach Anger radelte, es kam durchaus vor, dass ich ohne Grund nach Anger radelte, aber ich glaube, an diesem Tag war ich zum Sportplatz unterwegs, um meinen Onkel zu treffen, meinen Onkel traf man immer am Sportplatz, der Fußball war sein Leben, auch wenn er sich damit nicht sein Leben verdiente. Aber ich kam beim Sportplatz nicht an, denn ich traf Mitterbichler, ja, so war es, ich fuhr am Dorfplatz von Anger vorbei, der ein Anger ist, eine kleine Wiese, dann blickte ich kurz zurück, ich weiß nicht wieso ich zurückblickte – Don’t look back in Anger! – jedenfalls sah ich bei diesem Blick zurück Mitterbichler stehen, Mitterbichler, auch gerade achtzehn geworden, mit seinem gerade erworbenen Wagen, ich fuhr zurück, oder fuhr er zu mir, so genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls ließ ich mein Fahrrad stehen und stieg zu ihm in den Wagen, er fuhr los, er sagte:
„Das Gute an Anger ist, dass es eine Autobahnauffahrt nach München gibt, aber keine Abfahrt. So ist man schnell in München, aber nicht so schnell zurück.“
„Du willst nach München fahren?“
„Natürlich.“
Er bog auf die Autobahn, die direkt neben dem Ort vorbeiführt, drückte aufs Gas und ließ dazu Oasis – Don’t Look Back in Anger laufen, in Dauerschleife, bis nach München. Mitterbichler trug eine Sonnenbrille mit rötlichen Gläsern, das fällt mir jetzt wieder ein während ich es erzähle, und er sang lauthals mit, als eine Art bayrischer Noel Gallagher. Wir brausten die Autobahn entlang Richtung Westen, Richtung München, Richtung Freiheit.

In München hingen wir zunächst im Englischen Garten rum, dann gingen wir in Schwabing von Kneipe zu Kneipe, ich erinnere mich an Mitterbichlers erwartungsvolle Blicke jedesmal wenn wir eine neue Kneipe betraten, als erwarte ihn etwas ganz Besonderes, der Mythos Schwabing, die große Freiheit, alle schönen Frauen dieser Welt, die ihm all seine Träume erfüllen. Wir tranken und tranken, ich hielt zu meinem Glück nicht mit seinem Tempo mit, denn irgendwann war Mitterbichler sturzbetrunken, und so toll ich es fand, so unvermittelt mitten in Schwabing unterwegs zu sein, so unangenehm empfand ich es mit zunehmender Dauer, mit Mitterbichler unterwegs zu sein. Irgendwann torkelten wir aus der letzten Kneipe, hart aus unseren Träumen gerissen, Mitterbichler wusste erstaunlicherweise noch, wo der Wagen stand, wir klappten die Sitzlehnen um und versuchten zu schlafen, aber uns fröstelte, zwischendurch öffnete Mitterbichler die Tür und kotzte auf die Straße, ich tat kein Auge zu, es war schlechte Luft im Wagen, irgendwann stieg ich aus dem Wagen, ich wäre am liebsten gegangen, um mich alleine durchzuschlagen, aber ich tat es nicht, stattdessen fuhren wir verkatert nach Anger zurück, Mitterbichler gab wieder Don’t look back in Anger rein, aber schon bei Brunnthal machte er die Musik wieder aus, es war noch immer schlechte Luft im Wagen, an einem Ärmel von Mitterbichlers Jacke – sie war braun und hatte einen roten, einen gelben und einen weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln (erstaunlich, wie genau ich mich erinnere) – an einem Ärmel dieser Jacke hingen Reste von seinem Erbrochenen, dass er sich vom Mund gewischt hatte.
„Bist du noch im Fußballverein?“ fragte ich, als ich neben der Autobahn einen Fußballplatz sah.
„Ja, und bei der Musikkapelle. Heute Nachmittag Spiel, heute Abend Probe.“
Die Fahrt ging schweigend weiter. Mitterbichler bewies Durchhaltevermögen. In seinem Zustand fuhr er uns sicher nach Anger zurück. Als wir von der Autobahn abfuhren, sagte er:
„Irgendwann hau ich endgültig ab von hier, nach München, oder vielleicht sogar nach London, Manchester. Aber jetzt mal back to Anger.“

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Komischl (wie der Erste Weltkrieg begann)

aus den kürzlich (wieder)entdeckten Memoiren des kaiserlich-königlichen Oberstleutnants Rudolf Bertl, die ein völlig neues Licht auf die österreichische Kriegserklärung im Sommer 1914 werfen:

Ich saß im Zug von Wien nach Bad Ischl. Der Kaiser hatte mich eingeladen in seine Sommerresidenz. Was wollte er? Wollte er mir schmeicheln? Suchte er in seiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, bei mir Rat? Eines war sicher: Ich unterstützte die These des unausweichlichen Kriegs, da mochte der Alte noch so viel vom Frieden reden.

„Mein lieber Bertl, seien Sie gegrüßt!“ hieß er mich persönlich am Bahnhof willkommen. Wir spazierten mit dem kaiserlichen Tross zu seiner Villa. Der Kaiser war alt aber fröhlich an diesem Tag. Eine junge Frau mit ihrem Hund kam uns entgegen, und als sie an uns vorbeigegangen war, sagte er: „Ein so ein fesches Dirndl mit ihrem Hunderl! Überhaupt, das Ischl, so griabig mit seinen putzigen Häuserln und den lieben Menscherln, und den Bergerln ringsherum!“

Ich muss wohl etwas komisch geschaut haben, denn der Kaiser meinte, nachdem er mich mit seinen Blicken geprüft hatte: „Bertl, schaun’S ned so komisch! Ist es Ihnen vielleicht unangenehm, dass ich in Ischl alle Hauptwörter mit einem L verniedliche? Daran müssen Sie sich gewöhnen! Das mach ich hier so, schließlich sind wir in Ischl und nicht in Isch. Im übrigen würd ich auch zu Wien gern Wienerl sagen, aber dort kann ich mich zusammenreissen. Sein’S froh, dass Sie schon Bertl heißen, denn den da hinten – er zeigte auf General Hermann Hinterstoisser, der uns auch begleitete – denn nenn ich immer Hinterstoisserl.

Daraufhin, in einem Anflug von Jugendlichkeit, fing er zu singen an und trällerte folgendes Lied für den Rest des Weges:

Übers Bacherl bin i gsprunga
übers Wieserl bin i grennt
und da hat mi mei liabs Dirnderl
an mein Juchizer glei erkennt

Später, wieder in Wien, als der unausweichliche Krieg längst in vollem Gange war, saßen wir bei einer Lagebesprechung mit dem Alten. Mittlerweile hatte er sich geistig vollkommen von dieser Welt verabschiedet, obwohl er immer noch Tag und Nacht über den Akten brütete. Bei dieser Besprechung sank er plötzlich in seine Stuhllehne und stieß einen sehnsuchtsvollen Seufzer aus, dem er ein „Komm Ischl!“ folgen ließ. Ich verstand in diesem Moment, der alle am Tisch verwirrte, komischl statt Komm Ischl und dachte: Bald schlägt seine letzte Stunde, jetzt verniedlicht er nicht nur Hauptwörter mit einem L, sondern auch Eigenschaftswörter. Und das mitten in Wien! „Schaun’S ned so komischl, Bertl: Wenn’s Kriegerl sein muss, muss es sein!“ sagte er mir mit seinen müden Blicken.

Binge Arsch (Da kommt die Gnutter zur Rettum)

Man sagt, jeder Kreis schließt sich. Ist das wirklich so, oder ist das eine Plattitüde?

Ich sprang auf der alten Couch beziehungsweise auf ihren Federn, ich sprang hoch, bis ich schließlich am höchsten Punkt das Gleichgewicht verlor und die Tischkante auf mich zukommen sah, ich schlug heftig auf, beziehungsweise meine Stirn schlug heftig auf, da kam meine Mutter zur Rettung, brachte mich zum Arzt, der meine Blutung stillte und meine Stirn zusammennähte.

Später, die Stirn war längst wieder zusammengewachsen, obwohl man die Narbe noch lange sehen sollte, traf ich Inge, ich glaube es war noch in der Grundschule, so genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls hieß Inge mit Nachnamen Barsch, und irgendwann kam es, wahrscheinlich aus einer Langeweile heraus, dass ich Inge Barsch Binge Arsch nannte, ich nannte sie nur Binge, das Arsch dachte ich mir selbst dazu, ohne es auszusprechen. Binge ging mir nicht aus dem Kopf, sie war das Mädchen meiner Träume, wir standen uns gegenüber und ich hatte plötzlich große Lust, Binge auf den Arsch zu klatschen, gleichzeitig aber große Angst, dass sie mir ins Gesicht klatscht weil ich ihr auf den Arsch klatsche, bis ich es endlich wagte und ihr auf den Arsch klatschte, woraufhin sie mir ins Gesicht klatschte, und so ging es hin und her, Arsch-Gesicht-Arsch-Gesicht-Arsch-Gesicht, doch es blieb eine trockene und schlaffe Übung, eine blutleere Übung, Binges Arsch übte keinerlei Reiz mehr auf mich aus, wie unter Zwang klatschte ich auf ihn, wie auf ein seelenloses, totes Ding, während ich völlig regungslos ihre Klatscher in mein Gesicht entgegennahm, ich sehnte mich nach der Tischkante, die mein Blut spritzen lässt, aber natürlich sollte das eine unerfüllte Sehnsucht bleiben, wie sollte ich je zu einer Tischkante gelangen, wo Binge und ich doch in unserem Arsch-Gesicht-Klatschen gefangen waren, manisch und mit immer ausgefeilterer Rhythmik betrieben wir unser Arsch-Gesicht-Klatschen, wir betäubten uns und schienen uns dabei überhaupt nicht mehr zu spüren, als ich plötzlich mein Herz spürte und Angst bekam, mein Herz zu spüren, in meiner Panik drehte ich am Herz, nicht am leiblichen, nur am Wort in meinem Kopf, drehte es um zum Z-Reh, und ich frage mich bis heute, was ein Z-Reh ist, sicher nicht die Umkehrung von Herz, überhaupt ist das Zerlegen von Wörtern in Buchstaben so sinnvoll wie das Zerlegen des Lebens in Atome, etwas Statisch-Sinnloses, dabei sehne ich mich nach dem Dynamisch-Sinnvollen, wieder sollte eine Sehnsucht von mir unerfüllt bleiben, der Fluss des Lebens floss an mir vorbei während meiner Arsch-Gesicht-Klatsch-Übung mit Binge.

Da hörte ich meine Mutter rufen: Mein Herz ist gebrochen!, woraufhin ich wieder versuchte, mein eigenes Herz zu spüren, meine Hand fiel an meinem Arm nach unten und klatschte nicht mehr an Binges Arsch, woraufhin Binge mir verduzt ins Gesicht sah, anstatt mir mit ihrer Hand in es zu klatschen, ich sah meine Mutter zum Arzt eilen, Retten sie mich! rief sie dem Arzt zu, da riss der Arzt ihre Brust auf, reparierte ihr Herz, während dieser Reparaturarbeiten schrie meine Mutter, sie schrie Todes-Schreie, sie sah den Tod, was sie später bestätigte, ihr Herz stand still, ich gab das Blaulicht aufs Dach des Wagens und raste los, ich kam meiner Mutter zur Rettung, was natürlich Unsinn war, sinnloser Unsinn, jeder hat sein eigenes Herz, ich kam mir selber zur Rettung, spürte mein blutdurchströmtes Herz, wie es unaufhörlich Blut in meinen Leib pumpt, man sagt, jeder Kreis schließt sich, das ist keine Plattitüde, das ist wirklich so.

Die letzte Schlacht gewinnen wir!

Ich habe geträumt: Eine Armee von Corona-Viren erschien mir und die Armee sang lauthals: Die letzte Schlacht gewinnen wir! Ich richtete mich auf, versuchte dagegenzuhalten und schrie: Mein Kampf bedeutet Frieden, und ich bekämpfe euren Krieg! Jede Schlacht die ich verliere, bedeutet meinen nächsten Sieg! Doch dann fiel ich vor Erschöpfung um, und in dieser Erschöpfung erschien mir ein edler Fürst, der sprach die folgenden Worte:

Meine lieben Gaukler, Spieler und Musikanten, die ihr mir schon in so vielen Stunden Muse und mich dem Leben so nahe gebracht habt, wie ich ihm sonst nie hätte kommen können, ihr Sucher der Wahrhaftigkeit! Dieser Virus ist über uns gekommen und hat uns alle überrascht, hat sozusagen die Bühne von euch vereinnahmt. Nun ist er da, wir müssen mit ihm leben. Ihr könnt nicht durch die Lande ziehen, viel zu groß ist die Gefahr und die Angst, dass ihr ihn mit euch durch die Gegend schleppt und alles verseucht. Ihr könnt euer Brot nicht verdienen mit euren Künsten. Darum bleibt bei mir, ich gebe euch Brot und Bleibe, bis ihr wieder weiter ziehen könnt. Lasst uns gerade jetzt darüber freuen, gemeinsam auf diesem Planeten zu sein!

Ich erzählte Vorderbrandner von meinen Träumen, woraufhin er

einlegte, die Lautstärke hochdrehte und ekstatisch dazu tanzte. Dann manifestierte er: Die edlen Fürsten, die brauchen wir! Die edlen Fürsten sollen ihr Geld nicht in Luxusgüter investieren, die sie ohnehin nicht brauchen, sondern in uns, in die Leute! Warum schreit jeder nach dem Staat, der kein Geld hat, der Staat sind ja wir, warum schreit nicht jeder nach edlen Fürsten, nach den Geldgeiern, die in ihrer maßlosen Gier Geld angesammelt haben. Die Gier der Geldgeier hat ein Verteilungsproblem geschaffen, dass dieser Virus drastisch aufzeigt! Und wenn die Geldgeier nicht bereit sind, ihren Edelmut in sich zu entdecken und ihr Geld zu teilen, dann werden nicht nur ihre Häuser, dann wird die ganze Erde brennen!

Vorderbrandner umarmte mich, bedankte sich für meine Träume, lief auf die Straße und ließ mich allein zurück.

So etwas darf nie mehr passieren!

Geschichte eines totalen Gutmenschen

Er ist Politiker von Beruf, Bürgermeister einer Kleinstadt, aber ein moderner Politiker, mit Instagram- und Twitter-Account, er steht an der KZ-Gedenkstätte und sagt: So etwas darf nie mehr passieren!, als ein paar Kilometer entfernt, bei der Döner-Bude am historischen Marktplatz, dem zentralen Treffpunkt der Kleinstadt, einer einen anderen erschießt. Er eilt hin und sagt noch am Tatort: So etwas darf nie mehr passieren!, und wie ein Mantra wiederholen die eingetroffenen Gutbürger der Kleinstadt seine Botschaft: So etwas darf nie mehr passieren!

Als die erste Aufregung vorbei ist und die meisten Gutbürger sich wieder verzogen haben, um ihre gute Tat gegen das Böse auf Instagram zu posten, eilt er zurück zur KZ-Gedenkstätte, wo die jüdische Gemeinde ausgeharrt hat, und wiederholt pflichtbewusst seine Botschaft: So etwas darf nie mehr passieren!

Da fliegen plötzlich Eier auf ihn, gut geworfen, denn sie treffen ihn, und einer – es ist wohl kein Gut-, sondern ein Wutbürger – schreit: Wenn du noch einmal sagst So etwas darf nie mehr passieren!, dann hau ich dir so eine in die Fresse, dass dir nie mehr was passiert.

Bitte seien Sie vernünftig, besuchen Sie Bordelle!

ein Aufruf des bayrischen Ministerpräsidenten Markus S.

Liebe Mitbürgerinnen und vor allem -bürger, wieder einmal wende ich mich in dieser schwierigen Zeit an Sie, diesmal mit einer besonderen Bitte: Besuchen Sie Bordelle! Die besondere Situation, in der wir uns befinden, erfordert besondere Aufmerksamkeit, erfordert, die Aufmerksamkeit auch dahin zu richten, wo wir sie bisher nicht hingerichtet haben: Hier in Bayern, in unserem schönen Land, wo der Stand der Ehe besonders hochgehalten wird, möchte man meinen, dass Bordelle nicht notwendig seien. Doch die Krise hat uns eines Besseren belehrt. Die Krise hat die scheinbar so solide Institution der Ehe ins Wanken gebracht, es herrscht größere Unzufriedenheit als sonst in ehelichen Partnerschaften – Stichwort häusliche Gewalt – und ich habe daher eine Expertengruppe einberufen, die sich mit diesem Thema befasst hat. Diese Expertengruppe kam zu dem einhelligen Ergebnis, dass Bordellbesuche für Ehemänner zwingend erforderlich sind, um die Ehe aufrechtzuerhalten beziehungsweise ihren äußeren Schein zu wahren, ja, obwohl die Scheinehe verboten ist, bestehen viele Ehen scheinbar nur zum Schein. Ich bitte Sie um Verständnis, dass ich auf diese Problematik der Scheinehen momentan nicht näher eingehen kann, wichtig erscheint mir im Moment, dass wir alle zusammenhalten, um diesen Schein zu bewahren, und deshalb noch einmal: Besuchen Sie Bordelle!

Ich habe mich vor Ort überzeugt und war begeistert, wie die Hygienestandards eingehalten werden, ja, ich weiß, und da bin ich ganz ehrlich, Sex mit Maske ist lästig, aber es geht im Moment nicht anders, ich bitte Sie – zusätzlich zum Tragen einer Maske und den sonstigen mittlerweile selbstverständlichen Hygienevorkehrungen – möglichst solche Stellungen zu wählen, bei denen die Gesichter maximal weit entfernt sind, wie etwa Doggy oder 69, mir ist bewusst, es entspricht mehr unserem christlich-sozialen Ideal, sich dabei ins Gesicht zu sehen, aber außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, und ganz ehrlich: Auch Stellungen wie Doggy oder 69 können Spaß machen, ich denke, ich spreche da aus Erfahrung.

Außerdem möchte ich allen Bordellbediensteten danken, sie arbeiten wirklich hochprofessionell, ich durfte mich davon überzeugen, und sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für unsere christlich-soziale Wertegemeinschaft. Deshalb noch einmal: Klatschen alleine reicht nicht für diese Menschen, die sich in dieser Krise ganz in den Dienst unserer Gesellschaft stellen – besuchen Sie unsere schönen bayrischen Bordelle, damit diese auch in Zukunft ihre gesellschaftlichen Funktionen erfüllen und wir unsere Schein…, nein, was red ich da: Unsere Ehen aufrechterhalten können!

Sus und Mari (Zwei Schwestern) – Versuch einer Szene

Sus und Mari stellen gerne Situationen dar: Sus schwimmt durch einen Fluss, während Mari am Ufer bleibt. Als Sus am anderen Ufer ankommt, rufen sie einen Kameramann, der sich mit seiner Kamera auf einem Boot in der Mitte des Flusses befindet. Der Kameramann macht ein Bild. Das Bild zeigt Mari auf der einen, Sus auf der anderen Seite des Flusses. Sus und Mari nennen das Bild Hierzulande und dortzulande, hier mit und dort ohne Gewande, denn Sus hat sich zum Schwimmen ausgezogen und steht nackt dort, während Mari sich hier Sus‘ Kleid so über den Kopf gezogen hat, dass nur ein Schlitz für ihre Augen freibleibt. Das Bild ist sehr bekannt. Es macht die beiden berühmt. Die Feuilletonisten stürzen sich auf das Bild, rätseln über sein Motiv und kommen fast einhellig zu dem Ergebnis, dass man dort, in der Fremde, nackt ist, und hier, in der Heimat, sich lächerliche Verkleidungen über seinen Körper wirft. Sus und Mari meinen dazu: Das kann schon so sein. Kleidung wird schrecklich ideologisiert. Im Winter gehe ich gerne vollverschleiert, sagt Sus, weil es mich im nackten Gesicht genauso friert wie am restlichen Körper. Deswegen bin ich keine Muslime. Ich dagegen schon, sagt Mari, auf das berühmte Bild zurückkommend: Als ich mir Sus‘ Kleid über den Kopf zog, wollte ich eine Muslime sein. Oder war ich doch eine Christin, der das Kopftuch zu weit in das Gesicht gerutscht ist? Ich mit meinen rötlichen Haaren bin die nackte Hexe am anderen Ufer, sagt Sus. Wo ist der Scheiterhaufen?

Wer sind Sus und Mari? Sie haben die selbe Mutter, aber nicht den selben Vater. Sus und Maris Mutter Anne schimpft über die Väter ihrer Töchter, von denen sie sich jeweils kurz nach der Zeugung getrennt hat. Keiner der beiden Väter ist bei der Geburt von Sus und Mari dabei gewesen. Keiner ist später im Leben der beiden dabei. Es ist ein Heranwachsen ohne Väter. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die beiden als Kinder beschließen, Nonnen zu werden.

Mari kennt Wolfgang und sagt: Wolfgang heißt Thomas, aber ich nenne ihn Wolfgang, denn er hat einen Gang wie ein Wolf. Von Wolfgang gibt es ein Bild, das ihn auf einer Kloschüssel sitzend zeigt. Das Bild heißt: Wolfgang beim Stuhlgang.

Mari hat ein Kind geboren. Ob Wolfgang oder Thomas der Vater ist, weiß sie nicht. Am liebsten sei ihr die Vorstellung, sie habe ein Kind von zwei Männern, sagt sie. Das Kind ist – nach langem Kampf – bei der Geburt gestorben. Mari hat dabei viel Blut verloren. Sus hat ein Bild gemacht mit Mari in ihrem verlorenen Blut. Sie nennen das Bild: Das ist mein Blut, das für euch Männer vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ein Feuilletonist kommentiert das Bild entnervt mit: Die kranken Schwestern, woraufhin Sus meint: Mari und ich werden keine Nonnen mehr, wie wir das als Kinder wollten, sondern Krankenschwestern. Denn die kranke Gesellschaft braucht ihre Schwestern.

Weiße Talkshow, Thema: LSB

Weiß ist im Moment keine Modefarbe, obwohl so viele weiße Wagen auf den Straßen fahren, aber das sind wahrscheinlich alles Rassisten. Oder sie haben sich schon einen neuen schwarzen bestellt und müssen notgedrungen mit ihrem weißen herumfahren, bis sie den schwarzen bekommen. Vielleicht sollte man als Weißer-Wagen-Besitzer den Shitstorm einfach ertragen und den weißen Wagen behalten, ist ja auch ökonomisch und sogar ökologisch sinnvoller. Aus Überzeugung zur Friday-for-future-Demo im weißen Wagen vorfahren, nicht mit dem trendigen schwarzen, das wäre doch mal ein mutiges Zeichen. Jedenfalls war ich in einer Talkshow eingeladen und wurde mit einem weißen Wagen vom Bahnhof abgeholt. Das geht ja gut los, dachte ich mir, nächstes Mal nehme ich mir mein Klapprad mit oder ich gehe zu Fuß.

Der Stargast der Show, eine bekannte lesbische schwarze Behinderte, war schon da als ich mit dem weißen Auto eintraf, ich fragte sie nicht, ob sie mit einem schwarzen Auto abgeholt wurde, denn wir legten sofort los und der Moderator fragte sie: Wie ist das Leben als lesbische schwarze Behinderte, als LSB?
Die LSB schnappte tief nach Luft, ich spürte ihre Anspannung und Empörung, und sie sagte: Zuerst werde ich mit einem nicht barrierefreien Zugang konfrontiert, nun werde ich von der ersten Frage an stigmatisiert, werde in die lesbische schwarze behinderte Ecke gedrängt. Können Sie mich nicht wie einen normalen Menschen behandeln?
Natürlich, sagte der Moderator, aber Sie selbst haben ja die Aufmerksamkeit auf sich gezogen mit dem Post #LSBlivesmatter.
Ich sehe schon: Hier schlägt mir die totale Ignoranz entgegen, die Ignoranz der weißen Elite.
Sie sprang auf und verließ schluchzend den Raum.

Dieser Abgang des Stargastes war früh und nicht geplant. Um sie herum war die ganze Show aufgebaut. Nun sollte eigentlich Funny van Dannen auftreten mit seinem Song Lesbische schwarze Behinderte – sozusagen die Hymne der LSB-Bewegung. Funny trat auch auf, aber er sang seinen Song Menschenverachtende Untergrundmusik.

Nach seinem Auftritt ging Funny gleich wieder, und ich blieb als einziger Gast in der Show übrig. Der Moderator fragte mich:
Herr Hinterstoisser, was trieb Sie zu dem verhängnisvollen Post #Whitelivesmatter auf Ihrer Seite?
Wieso verhängnisvoll?
Nun, vor allem die LSB-Bewegung protestierte ja heftig und bezeichnete Sie als Rassisten, dem das Schreiben verboten gehört.
Ja. Krasse Intoleranz. Da muss sich die LSB-Bewegung wohl mit ihrer eigenen Intoleranz auseinandersetzen.
Was wollten Sie mit Ihrem Post aussagen?
Ich weiß es nicht. Ich hab ihn einfach gemacht. Aus einem Affekt heraus, ohne ihn intellektuell durchzukauen. Ich hatte eine Wut auf diese ganzen Gutmenschen, die plötzlich gegen Rassismus sind und doch ständig nur neue Feindbilder suchen.
Sie haben den Post nachträglich geändert.
Ja, ich bin ein feiger Mitläufer. Ich habe Angst, in die Trump-Ecke geschoben zu werden. Ich steige ein in das beliebte Schwarz-Weiß-Malen: Rassist – Gutmensch. Täter – Opfer. Die Welt braucht Einteilung. Um nicht die Verantwortung für das eigene Tun übernehmen zu müssen.
Aber die Weißen haben nun mal jahrhundertelang die Schwarzen unterdrückt.
Ja. Und Sie zahlen einen hohen Preis dafür. Der weiße Kolonialherr bringt den schwarzen Neger um und verkrüppelt sich selbst. Er ist ein seelischer Krüppel, er hält sich selbst nicht aus. Das ist traurig. Hätte er den Neger nur leben lassen. Aber etwas trieb ihn zu dieser Tat. Was?

Da sprang plötzlich Funny überraschend aus dem Dunkel ins Licht und begann zu singen: LSB.

Die Omama (Teil 1 der Hirsch-Dilogie)

Ich habe immer schon viel vorgehabt mit meinem Leben, sagt Vorderbrandner, aber meine Bitterkeit hat mich lange daran gehindert, mir das Viele vorzunehmen. Meine Bitterkeit gegenüber meiner Großmutter zum Beispiel, denn sie war ein sehr bitterer Mensch. Eine erste Wendung in meinem Leben ergab sich an jenem Abend im Jahr 1993. Was war geschehen?

Meine Großmutter war vor Kurzem gestorben, da lud mich ihre damals noch lebende Schwester nach Wien ein. Als Sechzehnjähriger dachte ich mir: Jetzt kriechen sie heraus aus ihren Löchern mit ihrem schlechten Gewissen, und ich soll dafür herhalten, es zu beruhigen. Ich hatte keine Lust, nach Wien zu fahren. Trotzdem stieg ich in den Zug. Wahrscheinlich hatte ich die Hoffnung, es würden sich andere Dinge ergeben, als in der alten muffigen Wohnung der alten Frau herumzusitzen.

Am Tag meiner Ankunft kam Franzi zur Schwester meiner Großmutter. Franzi war drei Jahre älter als ich, sie war die Enkelin der Schwester meiner Großmutter. Meine Großmutter hätte gesagt: meines Geschwisters Kinds Kind – Genitiv in Vollendung, Klarheit in der Sprache. Franzi war ein glühender Verehrer der Musik von Ludwig Hirsch, sie konnte Komm großer schwarzer Vogel mit ihrer Gitarre auswendig vortragen. Sie fragte mich: Kommst du mit ins Konzert heute Abend ins Volkstheater? Ludwig Hirsch war für mich damals ein morbider, lebensmüder Sinnierer mit wenigen lichten Momenten. Kein Wunder, dass Franzi niemand anderen gefunden hatte, der sie begleitet. Aber Franzi gefiel mir, mir gefiel die Vorstellung, ihr junger Begleiter und Liebhaber zu sein. Darf man Liebhaber eines Geschwisters Kinds Kind sein? Was darf man auf dieser Welt? Meine Großmutter hatte mir hauptsächlich erklärt, was man NICHT darf.

Wir waren recht früh im Volkstheater auf unseren Plätzen. Ich beobachtete die Leute, die in den Saal kamen und ihn füllten. Eine Magie erfasste mich. Als sei ich Teil eines verbotenen Abenteuers. Ich war in Wien, im Volkstheater, neben Franzi, um die verbotenen, dreckigen, morbiden Lieder des Ludwig Hirsch zu hören. Meine Großmutter konnte mich nicht daran hindern. Ich spürte knisternde Erregung in mir. Ich nahm Franzis Hand und drückte sie ganz fest. Franzi, meine Freiheit! Im nächsten Moment schämte ich mich dafür. Gleich danach wurde es dunkel im Saal. Ludwig Hirsch begann, seine Geschichten zu erzählen. Johnny Bertl suonierte auf seiner Gitarre. Als sie Die Omama vortrugen, hatten sie mich endgültig gepackt. Ich dachte daran, wie schlecht meine Oma Märchen erzählen konnte. Wie ich mich ärgerte, wenn sie beim Märchen der Sieben Raben immer von sechs Raben sprach, weil sie an ihre eigenen sechs Brüder dachte. Feen, Prinzen und starke Männer waren nicht ihre Welt – lieber sprach sie von Hexen, bösen Gestalten und Schwächlingen. Gefühle übermannten mich. Oma, du bitterer Mensch, trotz oder wegen der sechs Raben: Ich habe dich so geliebt! Ich saß in meinem Sessel und spürte, wie sehr mich meine Oma geliebt hat, auch wenn sie mir das nur auf ihre bittere Weise zeigen konnte. Franzi nahm mich an der Hand und Tränen flossen über meine Wangen. Jetzt wusste ich, was ich in meinem Leben machen will: die Gitarre spielen wie Johnny Bertl und Geschichten erzählen wie Ludwig Hirsch.

Der Abend im Volkstheater gilt heute als sehr lichter Moment im Schaffen des Ludwig Hirsch, als ein legendärer Vortrag. An der Gitarre, sagt Vorderbrandner, bin ich ein Rhythmusschraddler, weit weg vom Suonieren des Johnny Bertl. Im Geschichtenerzählen habe ich mehr Übung, aber ich erstarre immer noch vor Ehrfurcht, wenn ich daran denke, wie Ludwig Hirsch Die Omama erzählt hat, damals im Wiener Volkstheater im Jahr 1993. Franzi? Kurz nach Ludwig Hirschs Tod kletterte sie, in einer Art letztem Abenteuer, im Dunkel der Nacht auf die Kirche am Steinhof und stürzte sich in die Tiefe.

 

Die Omama 1993 im Wiener Volkstheater

 

In memoriam Franzi: Komm großer schwarzer Vogel