Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Sekt in der Trambahnschleife

Menschen bieten mir Sekt an, aber ich will keinen Sekt! Ich habe Sekt noch nie gemocht! Ich will weg von hier, hinaus an die frische Luft, und gerade als sich alle mit den Sektgläsern zuprosten, bahne ich mir den Weg nach draußen. Die Gläser klirren, aber nicht aneinander, sondern weil sie am Boden aufschlagen. Tizia, das sehe ich im Vorbeigehen, sieht mich vorwurfsvoll an. Sie hat allen Grund dazu, schließlich ist es ihre Galerie, die gerade eröffnet wird, die ich so stürmisch verlasse, dass Gläser auf den Boden klirren und in Scherben zerbrechen. Während meines stürmischen Abgangs fällt mir ein, dass ich früher dachte, eine Sekte sei eine Versammlung von Menschen, die gerne Sekt trinken. „Ihr Sektierer ihr!“ rufe ich in meinem Zorn, als ich endlich den Ausgang erreicht habe.

Draußen endlich Ruhe! Ich gehe die Straße entlang. Ich atme tief ein. Keine Leute um mich, die mich nerven. Ich bemerke aber jemanden hinter mir. Nicht optisch, denn weder habe ich hinten Augen noch drehe ich mich um, sondern akustisch. Es tut sich mir in Form einer lauten männlichen Stimme kund. Ich vermute Folgendes: Entweder der Mann spricht mit einem schwerhörigen Menschen, oder, und das erscheint mir die plausiblere Variante, er spricht über sein Mobiltelefon zu einem anderen Menschen. Ich drehe mich um, und finde meine Vermutung bestätigt: Der Mann spricht über sein Mobiltelefon mit einem anderen Menschen, und zwar in einer Lautstärke, die für einen Schwerhörigen angenehm, für mich, der direkt vor ihm geht, äußerst unangenehm ist.

Ich will es so sehen: Das Mobiltelefon ist ein Segen für die Menschheit. Früher telefonierten die Menschen hinter verschlossenen Wänden, zuhause in ihren Wohnungen oder in einer Zelle, und niemand anderer konnte teilhaben an ihren Gesprächen. Jetzt gehen sie während ihrer Telefonate mit ihren Mobilgeräten in der Gegend herum, um möglichst viele andere Menschen an ihren Gesprächen teilhaben zu lassen. Von diesem Blickwinkel aus gesehen ist mir das Gespräch meines Kompagnons – ja, so will ich ihn nennen: meinen Kompagnon, um das Soziale unserer Begegnung zu betonen – auf der Straße nicht mehr unangenehm. Ich fühle mich nicht mehr gezwungen, mitzuhören, habe nicht mehr den Eindruck, ein Gespräch wird mir aufgedrängt, nein, ich höre interessiert zu. Ich fühle mich als Teil einer intensiven Begegnung.

Die Diskussion meines Kompagnon hinter mir mit seinem schwerhörigen Gesprächspartner am anderen Ende der Funkverbindung dreht sich darum, wer Bier, wer Wein und wer Kippen mitbringt. Hauptsache kein Sekt, denke ich, denn das würde mich zornig machen. Sekt ist das Reizthema dieses Abends, das Reizthema meines Lebens, das bei mir das Fass zum Überlaufen bringt. Reift Sekt in Fässern? Egal. Hauptsache kein Sekt, nur Bier, Wein und Kippen. Gut. Sie vereinbaren, sich auf der Grüninsel in der Trambahnschleife zu treffen, dort seien sie ungestört und können in Ruhe feiern. Eines verstehe ich nicht: Sie wollen ungestört sein, andererseits bekommt gerade die ganze Straße mit, wo sie sich treffen werden, inklusive der Schwerhörigen. Und inklusive mir. Was machen sie, wenn die ganze Straße kommt? Haben sie genug Bier, Wein und Kippen dafür?

Mein Verständnisproblem ist mir egal: Ich will diese Begegnung nutzen, will mich einklinken in die soziale Komponente dieses offenen Mobilgesprächs. Ich drehe mich wieder um zu meinem Kompagnon und sage erfreut: „Ich komme auch!“ Offenbar irritiert verstummt er plötzlich. Sein Blick erinnert mich an den von Tizia, als ich die Galerie der sich mit Sekt Zuprostenden verließ. Mein Hirn assoziiert die Ähnlichkeit der vorwurfsvollen Blicke Tizias und meines Kompagnons sofort mit Sekt: Er wird doch wohl nicht Sekt mitbringen zur Feier in der Trambahnschleife! Streng schaue ich ihn an: Kein Sekt, sondern nur Bier, Wein und Kippen! Ich hoffe er versteht.

Trotzdem habe ich mein Vertrauen in diese Veranstaltung in der Trambahnschleife verloren. Ich biege ab in die nächste Querstraße, während mein Kompagnon, noch immer mit seinem Mobiltelefon am Ohr und das Gespräch wieder aufnehmend, geradeaus weitergeht. Zuhause angekommen, hocke ich mich betrübt in den Sessel. Ich kann Tizias Blick und den Blick meines Kompagnons nicht vergessen. Diese Blicke ähnelten sich so sehr, dass ein Zusammenhang mit Sekt zwangsläufig bestehen muss! Warum nur Sekt, warum nur immer Sekt, obwohl ich Sekt nicht ausstehen kann! Bin ich wirklich nur von Sektierern umgeben? Ich bekomme Angst. Ich bekomme Angst, dass die Partytiger der Trambahnschleife herausfinden wo ich wohne, mich abholen und gewaltsam zur Trambahnschleife schleifen, wo sie mir dann Sekt einflößen. Unruhig und voller Angst gehe ich ins Bett und schlafe erst ein, als meine Valium-Tablette endlich wirkt.

Nächster Morgen: Ich wache auf, noch benommen. Doch die Neugier treibt mich zur Trambahnschleife. Vorsichtig nähere ich mich dem Ort des Geschehens. Er ist verlassen. Ich finde leere Bier- und Weinflaschen und Zigarettenstümmel. Keine Sektflaschen, nirgends, soviel ich auch danach suche. Meine Angst war unbegründet. Da waren keine Sektierer am Werk. Die Einladung, die mein mobiltelefonierender Kompagnon an seine Umwelt ausgesprochen hat, war von ehrenhaftem Charakter, war ein Geschenk für die Welt. Um Buße zu tun und meine Gedanken zu ordnen, sammle ich Kronkorken und Zigarettenstümmel ein, die verstreut herumliegen, und gebe sie in leere Becher und Flaschen, um diesem großen Fest an der Trambahnschleife, das ich leider verpasst habe, ein Denkmal zu setzen.

Fleischgedicht

Es soll Leute geben, die sich von Licht ernähren, die also das photosynthetische Leben einer Pflanze leben. Mir ist diese Gabe nicht gegeben: Im Abstand von jeweils ein paar Stunden meldet mein Körper das Bedürfnis nach Organischem an. Momentan versuche ich, mich von Pflanzlichem zu ernähren, also auf Fleisch zu verzichten. Vielleicht steckt dahinter der unbewusste Wunsch, photosynthetische Fähigkeiten einer Pflanze zu entwickeln. Aber ich muss zugeben: Das fleischlose Leben fällt mir schwer!

Letzte Nacht hatte ich einen Traum: Ich durchwanderte eine idyllische Berglandschaft, als ich auf einer Almwiese eine junge Kuh erblickte. Friedlich riss die Kuh Grashalme aus dem Boden und fraß sie, während ich mich ihr näherte. Ich streichelte sie an den Flanken.

Unversehens zückte ich mein Schwert. Ich war sehr überrascht, wenn nicht gar erschrocken, dass ich ein Schwert bei mir trug, weil ich das im Leben außerhalb meiner Träume nicht tue. Aber in meinem Traum zückte ich es mit großer Selbstverständlichkeit und versetzte der Kuh einen gezielten Stich in ihre Brust. Ich hatte sie getötet. Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Erstaunlich, wie mühelos ich das hinbekommen hatte, das Töten, das ohne größeren Widerstand der Kuh abgelaufen war, so sicher saß der Stich, und im Nachhinein muss ich sagen, dass mir das so wohl nur im Traum gelingen konnte. Dann machte ich mich daran, an das Fleisch der Kuh zu gelangen. Das gelang mir ebenfalls mit Fertigkeiten, die ich im Alltag von mir nicht kenne. Der Jäger in mir erwachte in diesem Traum, und meine unendlich große Lust auf Fleisch trieb mich zu Höchstleistungen.

Ich verzichtete darauf, die Kuh in ihre Teile zu zerlegen und sie in eine Küche zu verfrachten. Ich begann am Ort der Tötung vom Fleisch zu essen, solchen Hunger hatte ich. Das Fleisch war noch schön warm und von Blut getränkt. Einige Artgenossen von mir kamen den Weg entlang, wohl vom Geruch angelockt, gesellten sich zu mir und begannen ebenfalls zu essen. Es war genug Fleisch für alle da. Ich freute mich, den Hunger von so vielen stillen zu können.

Als wir uns begierig über das Fleisch hermachten, bemerkte ich Josefine neben mir. Es war ungewohnt, wie wir beide am Leib der getöteten Kuh knieten, mit blutverschmierten Mündern, aber ich freute mich, dass Josefine da war. Erst jetzt war das Festmahl ein richtiges Festmahl. Später, als wir alle satt waren, wusch ich mir das Blut von Gesicht und Händen, nahm meine Gitarre und spielte ein paar Lieder. Die Lieder handelten vom Kommen und Gehen, vom Leben und vom Tod. Neben uns machten sich währenddessen die Geier an die Reste der Kuh.

Als ich heute morgen erwachte, war mir dieser Traum noch sehr präsent. Er hatte etwas Wahrhaftiges an sich. Josefine lag neben mir und schlief selig. Ich hatte unglaublichen Appetit auf Fleisch. Doch ich widerstand meiner Fleischeslust und bereite mir kein Fleischgericht. Stattdessen schrieb ich folgendes kritisches Fleischgedicht:

Ich hatte, wie gesagt,
mir Würste in den Bauch gejagt.
Und die Würste lagen
mir dann sehr im Magen.

Vermutlich war’n sie viel zu fett!
Was Mageres soll’s sein:
Vielleicht etwas vom Schwein –
ein saftig brutzelndes Kotelett?

Qual der Wahl

Ich gehe die Straße entlang, weil ich es zuhause nicht aushalte. Der Entscheidungsdruck wird unerträglich. Soll ich wie üblich SPD wählen, obwohl ich Martin Schulz gar nicht leiden kann? Ich kann meine Entscheidung doch nicht von einer Person abhängig machen, oder Sigmar? Soll ich grün wählen, als Alternative? Um ehrlich zu sein, sind mir da mittlerweile zu viele schwarze Sprenkel drin in diesem Grün. Da kann ich gleich Union wählen. Ich höre oft den feschen Christian reden, aber ich habe das Gefühl, der spricht nur zu den Männern, deren Frauen mit ihren SUVs die Straßen der Stadt verstopfen. Weiß der Kuckuck was die aneinander so toll finden! Ich fühle mich jedenfalls außen vor.

Ich wollte good old Heiner um Rat bitten, wen ich wählen soll, aber der wollte sich das auch nicht mehr antun und hat sich davor aus dem Staub gemacht. Soll ich diesmal also wirklich über meinen Schatten springen und good old Angi wählen, damit alles so bleibt wie es ist?

Ich gehe an einem Mülleimer vorbei, bei dem zwei ältere Männer darüber streiten, wer zuerst die Pfandflasche entdeckt hat, die darin steckt. Da kommt mir eine neue Idee: Ich wähle AfD, um sicherzugehen, dass ich, wenn ich selbst einmal ein älterer Mann bin, mich nicht mit Afghanen und Syrern um wertvolle Pfandflaschen streiten muss.

Ich gehe weiter, und als hätte eine höhere Macht meine Gedanken mitbekommen, sehe ich folgendes Plakat:

Jetzt weiß ich endlich, welche Partei ich wähle bei der Bundestagswahl am Sonntag: Ich wähle die Partei DIE PARTEI – denn sie ist sehr gut!

 

Ein Foto für die Welt

Ich habe mich lange gegen die sogenannte Digitalisierung gewehrt, wollte meine Privatsphäre achten, wollte der Instagramisierung trotzen. Doch nun haben mich all die netten Menschen von Google, Facebook etc. bekehrt.

Ich weiß jetzt, dass es notwendig ist, sich zu zeigen, ja mehr noch, dass es glücklich macht. Darum teile ich heute voller Freude ein Foto mit der Welt, dessen Motiv aus meinem tiefsten Herzen kommt:

Ich bin sehr froh, dass ich diesen Schritt getan habe, fühle mich sehr erleichtert und warte auf die spannenden Kommentare der Welt. :—)

König Arthurs Leben in Liedern

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, denn da alles mit allem zusammenhängt, ist es nicht leicht, einen Anfang zu finden. Ich weiß nicht einmal, ob es irgendetwas zu erklären gibt. Ich kann nur soviel sagen: Musik gefiel ihm. Musik gefiel ihm sehr. Mit Liedern wandelte er durchs Leben. Und er hieß Arthur, das weiß ich auch, und da er Arthur hieß, hielt er sich für einen König.

Seine bevorzugten Launen waren Größenwahn und Melancholie. Es ist nirgends festgehalten, dass es so war, es ist eine Vermutung, die auf Erzählungen beruht und mittlerweile vielleicht zu einem Mythos verklärt wurde, vor allem von mir, von seinem Sohn.

Je nach Laune hielt er sich unterschiedliche Ritter in seiner Tafelrunde. In seinem Größenwahn war Marc Bolan sein Lancelot, in seiner Melancholie war es Nick Drake. Später, als ihm seine Launenhaftigkeit zu anstrengend wurde, fand er in Bryan Ferry einen Kompromiss-Lancelot an seiner Seite, der für ihn glaubhaft sowohl Größenwahn als auch Melancholie verkörperte.

Doch dann war er nicht mehr da, mein König Arthur. Ich vermisste die Musik, die er mir vorgespielt hatte. Es war einsam zuhause, auf Camelot, wie ich es nannte. Als mich meine Mutter eines Abends ins Bett brachte, fragte ich, ob Vater jetzt auf Avalon sei. Gut möglich, sagte sie und machte ein trauriges Gesicht.

Sie sagte, dass er dort wahrscheinlich das Superweib suche, dass es aber schwierig sein könnte für ihn, ein solches zu finden, denn er sei nicht Supermann, und wie soll jemand ein Superweib finden, wenn er nicht Supermann ist. Ich las große Enttäuschung im Gesicht meiner Mutter. Ich verstand die Geschichte von Superweib und Supermann nicht. Ich verstand nur eines: Mein Vater würde immer König Arthur für mich bleiben, mit all den Musikern in seiner Tafelrunde.

In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Avalon, und wie mein Vater sich dort mit seinem Superweib herumtreibt. Das Superweib sah meiner Mutter erstaunlich ähnlich.

Bilder meines Traums

Camelot - Hof des König Arthur
Avalon - mystischer Aufenthaltsort von König Arthur
Marc Bolan
Nick Drake
Bryan Ferry

 

Geleitwort zur Ausstellung „Das Fernsehzimmer im 20. Jahrhundert“

Werte Damen und Herren,

ich habe gerade das große Glück, temporär Räumlichkeiten für künstlerische Zwecke zur Verfügung zu stellen, solange, bis diese Räumlichkeiten wieder helfen werden, die Wohnungsnot in unserer Stadt zu lindern.

Als mein Freund und Kollege Valentin Vorderbrandner auf mich zukam mit dem Anliegen, die Räumlichkeiten für eine Ausstellung zu nutzen, habe ich sofort zugesagt und mich auch bereit erklärt, als Kurator zu fungieren.

Vorderbrandner gestaltete den ihm zur Verfügung stehenden Raum auf eine Weise, die dem Besucher erlaubt, eine Reise in das bürgerliche Leben des 20. Jahrhunderts zu unternehmen. Durch die geschickten Arrangements des Künstlers kann man die Atmosphäre im Raum mehr als spüren, man kann förmlich in sie eintauchen.

Hier vorab eine Impression von der Ausstellung:

Die Ausstellung läuft voraussichtlich bis 10. August 2017. Anmeldung erbeten!

Herzlichst ergeben, das Leben aufs Höchste huldigend!

Ihr Emil Hinterstoisser

Alarm auf dem Land

Mein Körper ist der Spiegel meiner Seele. Da sich mein Körper sehr müde anfühlte, sagte ihm meine Seele, er solle sich aufs Land bewegen, damit sie sich beide dort erholen können. Mein Körper bewegte sich also aufs Land, blieb aber bei seinen Bewegungen auf dem Land sehr wachsam. Diese Wachsamkeit hatte er sich durch sein Leben in der Stadt angewöhnt. Er sah sich sogleich bestätigt in seinem Verhalten, als er ein Verkehrsschild erblickte, dass vor Fuhrwerken warnt:

Höchst alarmiert rechnete er hinter jeder Kurve mit einem herandonnernden Fuhrwerk, vor dem er sich eventuell nur mit einem waghalsigen Sprung in den Straßengraben retten konnte. Meine Seele kam in dieser hektischen Atmosphäre nicht zur Ruhe, sodass sie anfragte, ob man nicht in die Stadt zurückkehren könne. Noch ehe sich mein Körper mit dieser Anfrage beschäftigen konnte, kam plötzlich ohrenbetäubender Lärm am Himmel auf. Mein Körper hielt sich die Ohren mit seinen Händen zu und rannte schutzsuchend in eine Scheune, wo er einen Mann antraf. Dieser Mann erklärte ihm, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland soeben seine Scheune überflogen habe, was er jedoch nicht verstehe, denn für die Überwachung des süddeutschen Luftraums sei doch die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 74 aus Neuburg an der Donau zuständig.

Meine Seele äußerte indessen den Wunsch, sich auf das Stroh in der Scheune zu legen, um etwas auszuruhen. Ehe mein Körper sich mit diesem Wunsch befassen konnte, sagte der Mann in der Scheune, dass sein Sohn im Fliegerhorst Lechfeld beschäftigt gewesen sei, bis er vor einigen Jahren ins nationale Lage- und Führungszentrum für Sicherheit im Luftraum nach Uedem am Niederrhein berufen worden sei.

Der Mann betrachtete nachdenklich einige Landmaschinen und -geräte, die vor ihm in der Scheune herumstanden und -lagen. Da kam ihm ein neuer Gedanke. Er sagte nämlich, jetzt fiele ihm ein, dass sein Sohn es sein könnte, der die Alarmrotte aus Wittmund geschickt hat, da er seinem Sohn vor einigen Tagen gesagt habe, er brauche dringend Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor, die jedoch nur in Norddeutschland zu bekommen wären.

Meine Seele meldete erneut den Wunsch an, sich ins Stroh zu legen, als es draußen wieder sehr laut wurde. Der Mann in der Scheune blickte mich mit großen Augen an und zeigte mit dem Finger nach oben, was nur bedeuten konnte, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland wieder im Anflug war, weil sein Sohn sie geschickt hatte. Plötzlich machte es in dem ohnehin schon kaum auszuhaltenden Lärm einen lauten Knall. Einige Metallteile landeten daraufhin im Stroh neben uns. Meine Augen blickten nach oben und sahen ein Loch im Dach der Scheune. Durch einen Fluchtreflex lief mein Körper mitsamt meiner Seele ins Freie. Meine Seele erlitt einen Schock, war sie doch beim Aufprall der Metallteile im Stroh gelegen. Gottseidank ist sie unsterblich.

Der Mann kam fluchend aus der Scheune. Er schimpfte über das kaputte Dach, anstatt sich über die Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor zu freuen, die ihm sein Sohn via Alarmrotte, quasi per Expresslieferung, zugeschickt hatte. Meine Seele wollte dem Mann danken, dass er meinen Körper davon abgehalten hatte, sich ins Stroh zu legen, doch mein Körper unterließ diese Geste des Dankes. Er hörte mit seinen Ohren das Donnern der sich entfernenden Kampfjets der Alarmrotte, und nach den bisherigen Erlebnissen konnte man davon ausgehen, dass die Alarmrotte, nach der erfolgten Lieferung der Ersatzteile für den alten Hanomag-Traktor, einem Fuhrwerk hinterherjagte, das von Terroristen gekapert worden war.

Bilder vom Start der Alarmrotte in Wittmund zur Lieferung der Hanomag-Ersatzteile

Knatternde Ungeheuer in Fröttmaning

Nein, er sei kein Oköfritze, sagt er. Er habe auch nicht vor, die Nachfolge von Dieter Wieland anzutreten, wenngleich er Dieter Wieland sehr schätze. Alles, was er sagen wolle, würden die Bilder sagen, die gleich gemacht würden, wenn die Kamera angeht. Es sei im übrigen keine nette Geschichte, sondern eine Tatsache, dass sein Urgroßvater am 9. Juni 1927, einem Donnerstag, hier gestanden sei, genau hier, vor der Kirche, wo er jetzt steht. Das wisse er so genau, weil sein Vater es ihm erzählt habe, dem es wiederum sein Vater, also sein Großvater, erzählt habe, der als Bub daneben gestanden sei, neben seinem Vater, also seinem Urgroßvater. Denn es sei ihm wichtig zu betonen, dass er hier die Wahrheit erzähle und nicht irgendeine nette Geschichte!

Er fragt die Crew, ob die Kamera bereit sei und sie zu filmen beginnen könnten, aber die Kamera ist noch nicht bereit, und so fragt einer der Umstehenden, was denn sein Urgroßvater damals gemacht hätte, am 9. Juni 1927, einem Donnerstag, als er hier vor der Kirche stand.

Mein Urgroßvater wollte mit meinem Großvater von München nach Freising fahren, mit dem Fahrrad, sagt er, und dann habe er hier eine Pause gemacht, vor der Kirche. Plötzlich wurde es unglaublich laut. Ein Auto aus München näherte sich auf der holperigen Landstraße, umgeben von einer Staubwolke. Der Motor des Autos machte einen Höllenlärm. Die Explosionen im Zylinder des Motors waren so laut, dass mein Urgroßvater und mein Großvater dachten, der Motor müsse jeden Moment als ganzes explodieren. Aber die Explosionen blieben kontrolliert im Zylinder. Als der Wagen an ihnen vorbeifuhr, beschimpfte mein Urgroßvater den Fahrer desselben und rief, er solle sein knatterndes Ungeheuer doch gegen einen Baum fahren! Andernfalls würde die Menschheit an diesem Lärm bald zugrunde gehen.

„Wir wären soweit!“ ruft der Kameramann dazwischen. Die Umstehenden gehen aus dem Bild. Die Kamera geht an, auf ihn gerichtet, wie er vor der Kirche steht. Er sagt:

„Meine lieben Zuschauer, grüß Gott! Ich begrüße Sie heute von einem Ort, den es eigentlich gar nicht mehr gibt. Früher gab es ihn, aber dann wurde er zunächst zur Mülldeponie und stinkenden Kloake im Norden Münchens, und schließlich musste er den Autobahnen weichen, die sich heute genau an seinem früheren Platz kreuzen. Warum kennt man diesen Ort nun wieder, obwohl es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gibt? Weil ihm gegenüber, auf der anderen Seite des… des Flusses wollte ich schon sagen – auf der anderen Seite der Autobahn, die mit ihrem dichten Verkehrsfluss aber mindestens genauso schwer querbar ist wie ein echter Fluss – seit nunmehr über zehn Jahren ein großes Fußballstadion steht, die Allianz-Arena. Jetzt wissen die meisten von Ihnen, wo ich stehe, und zwar in Fröttmaning, der Pilgerstätte der Fußballgläubigen, der Anhänger des allmächtigen FCB. Ich stehe aber nicht vor der Allianz-Arena, dem modernen Tempel, sondern vor der inmitten von Bäumen versteckten Heilig-Kreuz-Kirche, dem letzten verbliebenen Rest des ansonsten versunkenen Dorfes Fröttmaning.“

Blick vom Müllberg auf Fröttmaning: rechts die Heilig-Kreuz-Kirche, hinter den Bäumen die vorbeiführende Autobahn, dahinter die Allianz-Arena

„Danke, Schnitt! Wir drehen oben am Müllberg weiter. Das Licht ist dort optimal heute!“ ruft der Lichtmeister.

Er blickt kurz irritiert ob des unvorhergesehenen, abrupten Endes seines Vortrages, nutzt die Pause aber dann und geht unter einen der Bäume, die die Kirche mit ihrem kleinen Friedhof säumen. Einer der Umstehenden ist ihm wieder gefolgt und sagt, dass ihm die Geschichte mit dem Urgroßvater, der am 9. Juni 1927 hier vor der Kirche gestanden sei, nicht aus dem Kopf gehe.

„Was fasziniert Sie an der Geschichte? Dass mein Urgroßvater Autos knatternde Ungeheuer nannte und dachte, sie würden die Menschheit zugrunde richten? Lauschen Sie mal den Autos auf der Autobahn: Wieviele Explosionen finden da statt in den Motoren! Nicht mehr mit lautem Knall, sondern sehr kontrolliert, aber unüberhörbar. Eine Explosion nach der anderen. Und wir mittendrinnen! Deshalb bin ich so gerne hier, in dieser Oase der Ruhe, umgeben von all dem Lärm! Ein Auto war meinem Urgroßvater schon zuviel, und ich begebe mich freiwillig unter hunderte von ihnen, die in einem Affentempo an uns vorbeiknattern! Durch die Bäume betrachtet könnte man meinen, es seien lauter kleine Ungeheuer. Ist das nicht verrückt! Und dann der ganze Müll, der hier immer noch rund um uns deponiert wird! Ein irrer Ort! –

Entschuldigen Sie, ich halte Vorträge! Deshalb bin ich zum Fernsehen gegangen, um für mein Gerede bezahlt zu werden. Denn das ist das einzige, was ich kann.“

„Reden Sie weiter, bitte! Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie solche Dinge öfter vor der Kamera sagen! Wieso erzählen Sie die Geschichte ihres Urgroßvaters und den knatternden Ungeheuern eigentlich nur mir und nicht den Zuschauern im Fernsehen?“

„Zu unbedeutend. Zu banal. Interessiert keinen. Kommen Sie mit zu den Dreharbeiten oben am Berg! Dort reden wir weiter!“

Fröttmaning am Autobahnkreuz München-Nord

Krempelhuberplatz

Es war dunkel, was mich erstaunte, denn um diese Jahreszeit war die Nacht – die Dämmerung nicht eingerechnet – nur etwa sieben Stunden lang. Ich hätte also genügend Zeit gehabt, wenn ich richtig rechne, siebzehn Stunden, den Krempel am hellen Tag einzusammeln. Hatte ich so getrödelt, oder gab es so viel Krempel, der vor den Häusern gestanden und mit ZU VERSCHENKEN markiert war, dass ich es nicht schaffte, vor der Dunkelheit aufzubrechen?

Der Wagen holperte und stolperte über den unebenen Weg durch den Wald, mit mir und dem ganzen Krempel darauf. Ich blickte nach oben und sah die schwarzen Blätter, die an mir vorbeirauschten. Ich bezweifelte allmählich, ob es wirklich eine gute Idee war, mit dem Krempel zum Krempelhuberplatz zu fahren. Währenddessen kam ich aus dem Wald ins Freie, ich sah dunkle Wolken über mir, sodass ich meine Vermutung, die ich im Wald hatte, nämlich dass es Nacht sei, revidierte und meine neue Wirklichkeit so aufstellte: Es war Tag, der durch die dunklen Wolken am Himmel im Wald wie Nacht erschienen war. Um mich vollends zu überzeugen, blickte ich noch einmal zum Wald zurück und sah, dass aus den schwarzen Blättern grüne Blätter geworden waren.

Der Krempel am Wagen schepperte weiter, unabhängig davon, ob es Nacht oder Tag war. Endlich am Krempelhuberplatz angekommen, lud ich den Krempel ab. Ein Mann stieß zu mir, der sich als Hempel vorstellte. Hempel sagte, ich könne hier nicht den ganzen Krempel abladen. Ich bräuchte dazu eine Genehmigung der Stadtverwaltung.
Ich habe bereits beantragt, sagte ich daraufhin, meine Krempelabfuhr in die Stadtverwaltung eingliedern zu lassen. Diesem Antrag sei jedoch noch nicht stattgegeben worden. Deshalb muss ich mein Unternehmen einstweilen privat führen, mit allen Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes. So dachte ich, es wäre aus werbetechnischen Gründen gut, den Krempel am Krempelhuberplatz abzuladen.

Am Krempelhuberplatz

Hempel ließ sich davon nicht überzeugen, und so fragte ich, ob Herr Krempelhuber selbst da sei, damit ich ihn fragen kann, ob ich den Krempel auf seinem Platz abladen darf. Nein, sagte Hempel, Krempelhuber ist nicht da. Der sei in der Botanischen Staatssammlung in einem Gebäude, welches ein gewisser Stempel errichten ließ.

Mittlerweile schien die Sonne am Himmel, die Wolken waren verschwunden. Es war Tag, ganz eindeutig, und ich fragte mich, wie es so schnell Tag werden konnte, wo doch vorhin im Wald noch tiefste Nacht war. Waren daran der Wald schuld oder die Wolken? Oder weder noch? Oder sowohl als auch? Hempel wusste darauf auch keine Antwort, und so setzte ich mich auf den Wagen und fuhr ab zur Botanischen Staatssammlung, um dort Krempelhuber im Gebäude von Stempel zu treffen, während Hempel mir hinterherrief, gefälligst meinen Krempel wieder mitzunehmen.

 

Der Krempelhuberplatz befindet sich im Münchner Stadtteil Lerchenau. Er ist benannt nach August von Krempelhuber. Krempelhuber war ein Botaniker, der sich besonders mit Flechten befasste. Seine umfangreiche Sammlung ist heute Bestandteil der Botanischen Staatssammlung Bayerns. Die Botanische Staatssammlung ist in einem Gebäude in der Menzinger Straße in München untergebracht, das unter Denkmalschutz steht und vom Architekten Ludwig von Stempel geplant wurde.