Gedankengut

Manchmal komme ich mir schon recht alt vor. Das ist natürlich relativ. Meine beiden Großväter wären jeweils schon über hundert Jahre alt. Dagegen bin ich recht jung. Doch dazu später! Ich muss mich jetzt konzentrieren: Ich befinde mich mitten in einem Bewerbungsgespräch!

Gut, sage ich also, um meine Großväter zu vergessen und wieder ins Gespräch einzusteigen, lehne mich in den Stuhl und sehe zum Fenster hinaus.

„Gut?“ fragt die Bewerberin. „Was soll das heißen?“

„Ich gebe zu: nicht viel. Ich verwende dieses Wort, wenn ich Gedanken in meinem Kopf habe, die mich meiner Umwelt mehr entrücken als mich ihr anzunähern. Wenn ich gedanklich abwesend bin. Wenn ich zum Beispiel an meine beiden Großväter denke, die jeweils schon über hundert Jahre alt wären, wenngleich sie, das nur nebenbei, relativ alte Väter ihrer Zeit waren. Ich will damit nicht sagen, dass ich jung bin, ich will damit nur sagen, dass diese Gedanken nichts mit unserem Gespräch zu tun haben. Die Äußerung dieser Gedanken, die ich nun bereits geäußert habe, allerdings nur beispielhaft, würde Sie verwirren und unsere Beziehung, die durch das Gespräch, das wir gerade führen, aufgebaut werden soll, an ihrem Aufbau hindern. Deshalb sage ich in solchen Situationen solange gut, bis diese Gedanken wieder weggehen aus meinem Kopf, der Nebel um mich sich lichtet und ich wieder anwesend bin… Was fragten Sie gerade, bevor ich gut sagte?“

„Ich habe Sie gefragt, was mein Aufgabenbereich wäre, wenn Sie mich anstellen.“

„Ihr Aufgabenbereich, natürlich… Nun, ich möchte es so sagen: Wir möchten, dass Sie unsere Präsenz in den sozialen Medien erhöhen. Dabei aber gleichzeitig den sozialen Medien kritisch gegenüberstehen. Eine kritische Haltung ist uns sehr wichtig. Das ist in etwa so wie mit dem Leben: Man kann es einfach leben, oder es leben und gleichzeitig kritisch reflektieren. Verstehen Sie?“

Die junge Frau sieht mich verwirrt an.

Wer ist diese junge Frau? Sie ist Absolventin eines Bachelor-Studiengangs in Kommunikations- und Mediendesign. Das sehe ich in ihrem Lebenslauf. Sie ist hochmotiviert, mit dem erworbenen Wissen nun ins Berufsleben einzusteigen. Das sehe ich in ihren blauen Augen. Ich trage Verantwortung für sie. Das sehe ich in ihrer Jugend.

Ich habe nun viele Gedanken in meinem Kopf, die vielleicht damit zu tun haben, dass ich mich gerade relativ alt fühle und dass ich drauf und dran bin, mich in diese junge Frau zu ver… – ich will nicht sagen, mich in sie zu verlieben, das scheint mir unpassend, klischeehaft und erwartbar – nein: dass ich drauf und dran bin, mich in diese junge Frau zu… – verdenken. Ja, das ist das richtige Wort: verdenken! Sie regt meine Gedanken an.

Ich sage jedenfalls nicht gut, was naheliegend wäre in dieser Situation voll abwesender Gedanken, nein, ich sage:
„Wollen wir etwas essen gehen und den Rest dabei bedenken?“

Gut, sagt daraufhin die junge Frau.