Am Ende bin ich nur ich selbst

Das war die schönste Zeit meines Lebens: die ersten neun Monate im Leib meiner Mutter. Ein schwereloses Leben, wie im Paradies. Dieses glückliche Leben wurde jäh beendet, als ich aus ihrem Leib auf die Erde plumpste. Ja, so war es mit meinem Glück, ich bin mir sicher, seitdem habe ich es verloren! Seitdem suche ich nach dem Glück. Unentwegt. Rastlos.

Als Kind suchte ich nach diesem Glück im Schoß meiner Mutter, aber es wurde mir bald klar: Mein Wachstum machte eine Rückkehr immer unmöglicher. Diese Vereinigung würde es nicht mehr geben.

Als Pubertierender fühlte ich mich endgültig verstossen vom Glück. Meine Mutter, das Glück meiner Welt, war nicht mehr angesagt. Aber was war stattdessen angesagt? Ich suchte nach Ersatzbefriedigungen, die im übermäßigen Konsumismus endeten. Neben Alkohol und Drogen konsumierte ich Mädchen. Ich suchte bei ihnen die Einheit und das Glück, das mir meine Mutter in den ersten neun Monaten meines Lebens gegeben hatte. Doch ihre Schöße waren nicht der Schoß meiner Mutter. Diese Mädchen verließen mich und ich verließ sie. Das Glück war von vornherein ausgeschlossen in diesen Begegnungen. Mädchen sind keine Mütter.

Schließlich entdeckte ich, mangels personeller Alternativen, ein weiteres konsumierbares Objekt: meine Melancholie. Der Vorteil der Melancholie: Sie ist immer bei mir. Ich konsumierte sie im Übermaß. Tagsüber schloss ich mich in mein Zimmer ein und verkroch mich unter meiner Decke. Abends ging ich auf den Hügel, setzte mich auf seine Spitze und beweinte die Sonne bei ihrem Untergehen. Ich beneidete sie, wie konsequent sie unterging, langsam aber stetig, ohne einmal innezuhalten oder gar umzukehren. Untergehen, ja, ich wollte untergehen wie die Sonne!

Dieser Untergangs-Entschluss reifte so lange, bis ich schließlich bereit war, ihn umzusetzen: Ich rannte vom Hügel zum See hinunter. Ich stürzte mich ins Wasser, um unterzugehen. Das Wasser war angenehm aufgewärmt von der Sonne des Tages. Ich tauchte unter. Ich fühlte mich schwerelos. Ich ließ mich unter Wasser treiben. Jetzt war sie wieder da, die frühe Zeit meines Lebens, die Zeit im Bauch meiner Mutter. Alles war leicht und weit. Würde jetzt alles gut werden? Es war eine Mutterwelt durch und durch. Wo blieb ich in dieser Welt? Möchte ich nicht irgendetwas sein außer das Kind in meiner Mutter? Möchte ich ein Mann sein für die Frauen dieser Welt? Möchte ich noch viel mehr sein? Möchte ich ich selbst sein?

Ich dachte ich sei tot, doch ich fand mich liegend am Ufer des Sees wieder. Was war ich nun? Ein gestrandetes Kind oder ein gestandener Mann? Ich bemerkte, dass ich mich gut bewegen konnte, also nicht tot, richtete mich auf und setzte mich ins Gras. Ich blickte zur Seite und sah eine kleine Holzbühne. Einige Musiker standen auf ihr und bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Einer von ihnen sagte: Das erste und letzte Lied ist eine knapp achtminütige Meditation über mein Leben, also über jedes Leben. Der, der das sagte, kam mir sehr bekannt vor. Er war jung, wohl etwa in meinem Alter.

Sie begannen zu spielen, langsam und bedächtig, fast meditativ. Sie schienen nur den See vor sich zu bespielen. Der eine, den ich kannte, blickte melancholisch auf den See vor sich. Mit starrem Blick bewegte er sich zum Rhythmus. Entrückt. Plötzlich sang und spielte er sich in Rage. Dann drehte er sich zu mir und sang: Am Ende bin ich nur ich selbst, ehe er seinen Blick wieder seewärts richtete. Ich kannte ihn, mit einer Gewissheit, die mir unheimlich war, wusste aber noch immer nicht, wer er war.

Ich stand auf. Ich tanzte zur Musik. Plötzlich wusste ich, wer er war, den ich kannte: Es war mein Vater. Nur so jung, wie ich ihn nie gekannt hatte. Ungläubig rannte ich auf den Hügel. Ich nicht nur das Kind meiner Mutter, sondern auch das meines Vaters? Wo ist jetzt das Glück? Ich stand oben am Hügel und sah der Sonne beim Untergehen zu. Am Ende bin ich nur selbst. Ein Schauer durchfuhr mich, gleichzeitig fühlte ich mich noch nie so glücklich wie in diesem Moment. Ich sah und hörte, wie sie unten am See spielten. Knapp acht Minuten lang, wie es mein Vater angekündigt hatte. Dann ließen sie die Meditation über sein Leben, also über jedes Leben, ausklingen und verschwanden im See.

Knapp achtminütige Meditation über das Leben