Wie eine Brücke über stürmisches Wasser…

Da war er also, der kleine Garten, und in ihm ein Teich, so klein, dass er kaum als solcher bezeichnet werden kann. Liebevoll eingebettet in den kleinen Garten liegt er da, der kleine Teich, der wirklich kleine Teich. Ein winziger Teich, ja, das ist der richtige Ausdruck: ein winziger Teich. Das besondere an diesem winzigen Teich ist nun, dass über ihn eine Holzbrücke führt, sodass er fast gänzlich unter der Holzbrücke verschwindet, obwohl die Holzbrücke auch winzig ist. Eine winzige Holzbrücke über einen winzigen Teich. Eine Brücke ohne Funktion, so möchte man meinen, und trotzdem oder deswegen notierte ich sie als Brücke über stürmisches Wasser, ihre Winzigkeit durch Überhöhung doppelt betonend.

Ich war noch ganz in diesen Gedanken vertieft, als wir weitergingen zur großen Wiese. Dort legte ich mich ins Gras, um weitere Gedanken der winzigen Brücke über stürmisches Wasser zu widmen. Paul und Lia, meine beiden Begleiter, krabbelten und kletterten auf mir herum, und es bedarf vermutlich der zusätzlichen Information, dass Paul und Lia gerade zwei Jahre alt geworden sind, um den Leser dieser Zeilen nicht zu irritieren mit der Aussage, dass Paul und Lia auf mir herumkrabbelten und -kletterten. Kinder krabbeln und klettern auf Erwachsenen herum wie Erwachsene auf einer Brücke über stürmisches Wasser, dachte ich, diesen Gedanken jedoch nicht weiterdenkend, denn nun kamen Max und Isa auf die große Wiese, und ich dachte: Wahnsinn, Max und Isa, die sind jetzt beide schon acht Jahre alt, wobei mich Isa gestern, ja es war erst gestern, korrigiert hatte und gesagt hatte, Max wäre gerade erst acht geworden, während sie bald neun werden würde.

Bevor ich zu tief in diese Altersdebatten einsteige, ist zu erwähnen, dass Isa, als sie Paul und Lia auf mir herumkrabbeln und -klettern sah, fragte, was das sei, was Paul und Lia und ich machen würden. Sie verlangte also nach einer Bezeichnung für dieses Spiel, woraufhin ich sagte, ich sei die Brücke über stürmisches Wasser, auf der Paul und Lia gerade einen reißenden Fluss überqueren.
„Aber du bist doch ein Mensch und liegst im Gras und nicht auf einem reißenden Fluss!“ entgegnete Isa.
„Die Wiese ist ein reißender Fluss“, sagte ich:
„Siehst du, wie die Grashalme im Wind hohe Wellen schlagen! Siehst du die Menschen um uns, wie sie kämpfen mit den Wellen, um sich aus dem tosenden Wasser ans Ufer zu retten, ans Ufer dort drüben bei den Bäumen!“
In Maxes Augen sah ich nun, dass er all das sah, was ich gesagt hatte: die hohen Wellen und die kämpfenden Menschen und das tosende Wasser und das rettende Ufer bei den Bäumen und er stieg in ein Boot und begann zu rudern. Isa begann mitzurudern, und gemeinsam versuchten sie, zu den Bäumen ans rettende Ufer zu gelangen. Paul und Lia saßen unterdessen still auf der Brücke und schauten dem dramatischen Schauspiel aufmerksam zu.

So lag ich also in der Wiese als Brücke über stürmisches Wasser, als Max und Isa mit dem Boot in einer dramatischen Aktion das rettende Ufer bei den Bäumen erreicht hatten. Max sagte zu Isa: „Jetzt hat sich der Sturm beruhigt. Gottseidank saßen Paul und Lia während des Sturms auf der sicheren Brücke und nicht bei uns im Boot im tosenden Wasser! Dazu sind sie noch viel zu klein!“ Paul und Lia verließen nun die Brücke und liefen zu den beiden unter die Bäume, während ich mein Brückendasein beendete, aufstand und Max und Isa für die tolle Aufführung applaudierte. „Bravo!“ rief ich und summte, quasi als Epilog: Wie eine Brücke über stürmisches Wasser werde ich mich ausbreiten…