Der Ball war nie mein Freund

eine Fußballgeschichte

Der Ball ist nicht mein Freund, und zwar deshalb, weil ich mich nicht aufrichtig um diese Freundschaft bemühe. Er klebt mir nicht am Fuß, weil ich nicht genug übe, dass er mir am Fuß klebt. Wie soll sich der Ball da daran gewöhnen, mir am Fuß zu kleben? Ich verlange zuviel vom Ball, ohne selbst etwas dafür zu tun. Das würde jede Freundschaft überfordern.

Um mich vom Ball abzulenken, betrete ich das Fußballfeld. Es kommt mir zunächst einmal sehr groß vor. Dann betreten meine Mitspieler das Fußballfeld. Es kommt mir immer noch sehr groß vor. Aber bevölkerter. Das gefällt mir.

Der Ball, da er nicht mein Freund ist, hat sich nicht zu mir, sondern zu einem meiner Mitspieler gesellt. Neidisch betrachte ich die Freundschaft der beiden. Wie soll ich mich nun, ohne dass der Ball mein Freund ist, ins Spiel einbringen? Ich beginne, auf dem Spielfeld herumzulaufen und hoffe, dass mein Mitspieler sich vom Ball, seinem Freund, trennen kann und ihn mir zuspielt. Ich laufe herum und biete mich hinten, vorne, links und rechts für ein Zuspiel an. Als ich den Ball zugespielt bekomme, schaue ich mich unverzüglich nach einem Mitspieler um, dem ich den Ball zuspielen kann. Denn ich will den Ball nicht zu lange behalten, um uns beide in unserer Nicht-Freundschaft nicht zu überfordern.

Als die Gegner auf das Spielfeld kommen, werden die Räume, in denen man den Ball bekommen und in die man ihn spielen kann, enger. Denn das ist das Ziel des Gegners: die Räume eng zu machen, um selber den Ball zu bekommen. Wobei es, auch im Profibereich, immer mehr Mannschaften gibt, die den Ball gar nicht haben wollen – ich vermute, weil keiner in der Mannschaft ein Freund des Balles ist. Anders kann ich es mir nicht erklären. Solche Mannschaften haben keine Freude am Spiel, sondern wollen den Ball irgendwie ins Tor bugsieren und hoffen danach, dass das Spiel schnell vorbei ist. Aber das nur nebenbei.

Unser Trainer hat uns eine Taktik verordnet, also uns gesagt, wie wir uns auf dem Spielfeld positionieren sollen, um die Räume gut zu besetzen; um bei eigenem Ballbesitz möglichst gut anspielbar zu sein und bei gegnerischem Ballbesitz den Ball möglichst schnell zu erobern. Die radikalste Taktik, die ich je erlebt habe, war, als unser Trainer sagte: „Heute spielen wir gegen eine schlechte Mannschaft. Wir spielen ohne Torwart, dafür mit einem Stürmer mehr. Wir gehen voll auf Offensive.“ Diese Taktik hat sich jedoch nicht bewährt, und wir spielen seitdem immer mit Torwart.

Das Problem bei der Taktik ist: Oft funktioniert sie nur unzureichend, weil erstens jeder in der Mannschaft die Aussagen des Trainers anders interpretiert. Ich zum Beispiel habe an manchen Tagen große Lust, Tore zu schießen, an anderen große Angst, Tore zu kassieren. Je nach Gefühlslage spiele ich also offensiver oder defensiver. Und zweitens ist der Gegner ständig darauf bedacht, die Umsetzung der eigenen Taktik zu verhindern. Fußball ist also ein komplexes soziales Gefüge von zweiundzwanzig Personen, die ständig ihre räumliche Zuordnung ändern, um den Erfolg der eigenen Mannschaft zu ermöglichen und den der anderen zu verhindern. Und dazwischen rollt und fliegt der Ball herum.

Zurück zu meinem zwiespältigen Verhältnis zum Ball und unserer verhinderten Freundschaft. Da er nicht mein Freund ist, konzentriere ich mich sehr auf den Gegner: Wo er herumläuft und welche Räume er zulässt. Ich konzentriere mich also auf die Räume, in die der Ball gespielt werden kann, um mich oder meine Mannschaftskameraden dem gegnerischen Tor anzunähern. Oft vergesse ich dabei – ich habe es bereits erwähnt – den Ball. Ich entferne mich immer mehr von ihm und es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals noch Freunde werden.

Warum ich immer noch Fußball spiele? Weil ich ein sozialer Mensch bin und weiß, dass das Soziale auf dem Fußballfeld nur durch den Ball ermöglicht wird. Und weil ich insgeheim davon träume, dass der Ball und ich noch einmal dicke Freunde werden, ich mit ihm durch die sich öffnenden Räume gehe und ihn mit einem liebevollen Tritt ins Tor bugsiere.