Rohmer geht immer

Wir hatten unsere Krise kurz vor der großen Krise, und ich sagte zu Josefine: Ich will, dass wir uns nicht mehr sehen! Dann kam die große Krise, und mit ihr der erste Tag der Ausgangsbeschränkungen. Es war der 21. März, ein regnerischer Tag, der erste Tag im Widder, der Tag, an dem Eric Rohmer hundert Jahre alt geworden wäre. Ich ging aus dem triftigen Grund, etwas Luft zu schnappen, durch die verlassenen Straßen Schwabings. Die Stille tat mir gut, auch wenn sie gespenstisch wirkte, weil sie so ungewohnt war. Ein Wagen fuhr durch die Straßen, durch die Lautsprecher kam die Durchsage: Bleiben Sie zuhause! Ich fühlte mich wie der gesuchte Hans Beckert in Fritz Langs M – eine Stadt sucht einen Mörder. Ich hatte ein beklemmendes Gefühl – Josefine nun lange, sehr lange nicht mehr zu sehen, so wie ich es wollte, aber nun wollte ich es nicht mehr. Mein Kopf war voll und leer, voller Gedanken und gedankenleer zugleich. Hat mich die Liebe verlassen? Habe ich mich selbst verlassen? Josefine hatte noch geschrieben: Jetzt weißt du endlich, was du willst, auch wenn ich es nicht will. Da wusste sie mehr als ich, denn ich wusste wieder mal nicht, was ich will. Ich will Liebe, ja, aber weiß ich deswegen, was ich will? Liebe habe ich nicht mehr gespürt. Nur ein Festhalten in Unliebe. Und jetzt, auf den verlassenen, regennassen Straßen Schwabings spürte ich sie wieder, die Liebe, ganz nah bei mir. Ich spürte die Liebe der wenigen verängstigten Leute, die mir auf den Straßen entgegenkamen und die Seite wechselten wegen mir. Ich spürte die Liebe hinter den Wänden der Häuser. Ich spürte die Liebe von Josefine. Ich spürte die Liebe überall. Ich war all-ein.

Ich ging nachhause, setzte mich vor mein kleines Heimkino und legte Meine Nacht bei Maud aus den sechs moralischen Erzählungen ein: Ein Reden und Diskutieren, so wie es für kopflastige, wissenschaftsgläubige, westliche Menschen Praxis ist. Eine bürgerliche Flucht vor dem Leben, die nichts mehr fürchtet als den Tod. Aber dazwischen – danke Eric Rohmer, ich liebe Sie! – schimmert die Liebe durch, in ihrem schönsten Glanz. Rohmer geht immer. Weil er die Liebe spürt und zeigt.

Nach dem Abspann schalte ich das Heimkino aus. Stille im Raum. Wo ist die Liebe? Wo ist Josefine? Du bist die Garantie der Schönheit dieser Welt und umgekehrt. Wenn ich dich umarme, umarme ich die ganze Welt.