Confusion 2

Fortsetzung von Teil 1

Als sich der Schwindel gelegt hat, richte ich mich auf, werfe eine Decke über meinen fröstelnden Rücken und beuge mich über das Plattencover. Vorsichtig, mit immer noch zitternden Händen, nehme ich die Platte aus der Hülle, lege sie auf den Spieler, A-Seite nach oben, und hebe die Nadel an den Anfang des zweiten Liedes:

Ich höre die ersten Klänge, ich spüre mein Herz schlagen, ein Schauer geht über meinen Rücken, Raum und Zeit heben sich auf, es katapultiert mich ins München des Jahres 1980, in die Wohnung meines Onkels im Arabella-Hochhaus in Bogenhausen:

Ich war damals gerade von einer mehrwöchigen Auszeit im Krankenhaus, die mir infektiöse Bakterien in meinem Darm ermöglicht hatten, zu meiner Familie zurückgekommen. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr hatte man mich vollkommen isoliert. Knapp drei Jahre war ich alt, ich habe keine Erinnerungen an diese Zeit im Krankenhaus. Nur an die dicke Glasscheibe, die mich von meiner Umwelt trennte, auch von meinen Eltern, diese Scheibe erscheint mir heute noch in meinen Träumen. Die Isolation war so perfekt gewesen, dass ich nach meiner Heimkehr meine Eltern nicht mehr erkannte. Um meine Erkennungsfähigkeiten ihnen gegenüber wieder zu erlernen, wollten sie mich nicht allein mit meiner Schwester und meinen Großeltern lassen, als sie nach München fuhren um einige Dinge zu erledigen. So packten sie mich ins Auto und nahmen mich mit. Während der Hinfahrt, so erzählt meine Mutter, wobei sie sich selbst nicht mehr ganz sicher ist, es ist ja schon so lange her, doch sie ist sich ziemlich sicher, während der Hinfahrt kamen sie und mein Vater auf die Idee, mich nicht in die Stadt mitzunehmen, sondern mich zu meinem Onkel zu bringen, um ihre Erledigungen ohne mich schneller erledigen zu können.

Mein Onkel residierte im Arabella-Hochhaus in Bogenhausen, in der neu errichteten Vorstadt, ziemlich futuristisch muss das damals gewesen sein, ziemlich hoch oben im Hochhaus hatte er seine Wohnung. Mein Onkel war ein Musik-Freak, sagt meine Mutter, mit großem Stolz präsentierte er jedem seine Plattensammlung und erzählte von den Musicland-Studios, die sich im Keller des Hochhauses befanden, die Familienlegende sagt, dass er einst Freddie Mercury am Gebäude getroffen und sich mit ihm unterhalten hat. Und Jeff Lynne von Electric Light Orchestra sowieso, meine Mutter sagt, das war sein größter Held unter den Heroen, die sich im Keller des Arabella-Hochhauses einfanden, um ihre Platten aufzunehmen.

Meine Eltern jedenfalls, so erzählt meine Mutter, übergaben mich der Obhut meines Onkels, um in die Stadt zu fahren und dort ihre Erledigungen zu erledigen. Was sich danach in der Wohnung meines Onkels abspielte, lässt sich natürlich nicht mehr genau rekonstruieren, aufgrund meines damaligen Alters von nicht einmal drei Jahren kann ich es lediglich erspüren. Und jetzt, endlich, nach so vielen Jahren, jetzt, wo ich wieder Confusion von ELO höre, spüre ich sehr klar und sehe folgende Szenerie vor mir:

Mein Onkel geht mit mir auf dem Arm zur Fensterfront, um mir die Aussicht zur Stadt zu zeigen, wohin meine Eltern unterwegs sind. Er ahnt nichts von meiner Allergie gegenüber Glasscheiben, die sich während meines Krankenhausaufenthaltes akut ausgebildet hat, ich bekomme einen heftigen allergischen Anfall, der sich in fortdauernden Weinkrämpfen äußert, meine Eltern kann er nicht erreichen, das Mobilfunkzeitalter ist noch fern, in seiner Verzweiflung überlegt er, was mich beruhigen könnte, er denkt an Musik, die ihn selbst beruhigt. Ich glaube, ja ich bin mir sicher, ich sehe es vor mir, er legt Discovery von ELO auf, das Album, nicht die Single Confusion, er hatte nur Alben, keine Singles, dann drückt er mir das Cover in die Hand. Bei Confusion, dem zweiten Song auf der A-Seite beruhige ich mich, bei Need Her Love, dem dritten Song auf der A-Seite, fange ich wieder zu schreien an, also hebt er die Nadel wieder zurück zu Confusion. Das macht er so lange, bis meine Eltern aus der Stadt zurückkommen…

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