Grenzerfahrung II

Teil 2 (Fortsetzung von Teil 1)

Ich stehe da, mit dem Brief in der Hand, und möchte Grübeldinger sagen, wie überrascht ich bin, dass unsere Großväter sich kannten. Doch Grübeldinger redet unbeirrt weiter: Österreich, das ist ein Land aus lauter Stumpfsinnigen, die sich seit fast hundert Jahren mit einem Minderwertigkeitskomplex herumschlagen, weil sie seitdem die Slawen nicht mehr unterdrücken und die Deutschen nicht mehr beherrschen können. Die nicht begreifen, dass die Welt nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander existiert. Eine Zeitlang dachten die Österreicher, die besseren Deutschen zu sein. Seit geraumer Zeit reden sie sich nun ein, gar keine Deutschen mehr zu sein, obwohl die meisten von ihnen deutsch sprechen. Es ist nicht gesund, dauernd vor sich selbst wegzurennen.

Österreich sollte, wenn es schon nicht ein Teil Europas sein will, ein Teil von etwas Größerem sein, ehe es sich selbst ins Verderben reitet. So stumpfsinnig die Österreicher seit fast hundert Jahren sind, so haben sie bisher fast immer davor zurückgeschreckt, einen Stumpfsinnigen zu ihrem Präsidenten zu wählen. Dieser Stumpfsinnige, den sie jetzt beinahe zu ihrem Präsident gewählt haben, versteckt sich hinter einem netten Gesicht. Ich nenne ihn den netten Norbert. Doch ich sehe im Gesicht des netten Norbert eine Fratze der unterdrückten Gefühle, wie überhaupt sie typisch ist in diesem Land, das sich Österreich nennt, diese Fratze der unterdrückten Gefühle, in diesem Land der Fritzls und Priklopils. Vielleicht haben Fritzl und Priklopil dem österreichischen Bedürfnis nach Unterdrückung nachgegeben, indem sie Menschen einsperrten, denn in Österreich sucht man nach Tätern und Opfern, und was früher die Slawen und Juden waren, das sind heute eben kleine Mädchen. Der Österreicher ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein Opfer, denn nur als Opfer, so sagten sie ihm, kann Österreich überleben. Ist Österreich ein Volk mit unterdrücktem Täterdrang, weil es offiziell immer Opfer sein muss? Der nette Norbert ist nur jetzt so nett, weil er seine Gefühle unter der Fratze versteckt, sie unterdrückt; doch wenn er an der Macht ist oder glaubt an der Macht zu sein, lässt er seine Maske fallen und lässt seinem Täterdrang freien Lauf und will alle unterdrücken, die ihm in die Quere kommen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wer das aller sein kann. Man muss die Österreicher erlösen, bevor sie wirklich einen Stumpfsinnigen wie den netten Norbert zur ihrem Präsidenten wählen. Denn man sollte sich nicht darauf verlassen, dass sie eines Tages nicht wirklich einen Stumpfsinnigen wie den netten Norbert zu ihrem Präsidenten wählen.

Das Größere, von dem Österreich Teil sein kann, kann nicht Europa sein, denn das ist den Stumpfsinnigen zu groß. Vielleicht schwebt den Stumpfsinnigen um den netten Norbert vor, Österreich zu einem Teil von Deutschland zu machen, denn dann könnten die stumpfsinnigen Österreicher wieder mit voller Berechtigung ihrem Minderwertigkeitskomplex frönen, an den sie sich seit nunmehr fast hundert Jahren gewöhnt haben. Sie wären Teil von etwas Größerem, ohne die Slawen zu unterdrücken. Sie könnten sich als bessere Deutsche fühlen, denn Deutschland mit seiner föderalistischen Struktur könnte Österreich zu einem Freistaat erklären. Dieser Titel macht bereits Bayern und Sachsen stolz, obwohl er nichts bedeutet. Dieser Titel würde auch den netten Norbert stolz machen und ihn in seinem Täterdrang einbremsen.

Ich versuchte Grübeldinger zu unterbrechen. Ich wollte ihn fragen, woher dieser Brief kommt, dieser Brief meines Großvaters an seinen Großvater, und als ob er ahnte, dass ich ihn das fragen wollte, drehte er sich zu mir und redete weiter: Ist Wien nicht genauso eine Stadt ohne Land, eine Stadt, die einmal das Zentrum Europas war und jetzt von einem Landstrich umgeben ist, der von lauter Stumpfsinnigen bewohnt wird? Doch was gehen mich die Wiener an. Denn ich sitze in Salzburg, und Salzburg, diese Stadt, zerrieben und missbraucht, ist die Stadt, der ich ausgeliefert bin, ob ich es will oder nicht.

Der Landstrich, den sie heute Rupertiwinkel nennen, war früher ein Teil Salzburgs. Dort bauten sie Getreide an, dort kam das Brot Salzburgs her. Dieser Landstrich gehört seit zweihundert Jahren zu Bayern, während das restliche Salzburg, dieses verkrüppelte Land mit seinen stumpfsinnigen Gebirgstälern, zu Österreich gehört. Was ist das für ein Land, das das Getreide für sein Brot nicht mehr selbst anbauen kann? Salzburg wäre schon gestorben als Stadt ohne Land, hätten Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt nicht damals eine zentral gelegene Einöde gesucht, in die sie ihre Festspiele pflanzen können. Zentral gelegene Einöde, vielleicht ist das die richtige Definition für Salzburg. In jedem Fall scheinen Hofmannsthal und Reinhardt in Salzburg das gefunden zu haben, was sie gesucht hatten. Diese Festspiele, sagen alle, seien ein Riesenglück für Salzburg, doch ich behaupte, sie sind ein Riesenunglück. Denn seitdem glaubt Salzburg, als Stadt ohne Land leben zu können, zerrieben und missbraucht, zuerst von den Nationalsozialisten, dann von den genusssüchtigen Bonzen aus Wien. Wie kann sich eine Stadt so verlieren in ihrem Größenwahn, ohne einen Grund dafür zu haben? Doch vielleicht ist das ohnehin die Krankheit der Welt, zumindest der westlichen, sich in ihrem Größenwahn zu verlieren. Grenzen und Länder wurden und werden verschoben, als ob keine Menschen darin lebten, Menschen, die mit diesen Verschiebungen zerrieben und missbraucht werden. Der Stadt Salzburg wird ihre Schönheit eingeredet, so aufdringlich, dass sie ganz betäubt ist davon. Wo soll da wahre Schönheit entstehen, wahre Schönheit, die doch immer ein zarter Spross der Schöpfung ist, wenn mit so brachialer Gewalt auf sie eingewirkt wird? Salzburg lebt von diesen Leuten, von den Festspielgästen und Touristen, die angezogen werden von diesen brachialen Reden, und es wird an ihnen sterben. Es verkommt mehr und mehr zu einer hohlen Fassade, und ich, der in dieser Fassade lebt, beobachte dieses Sterben, bis ich mit ihr zugrunde gehe. Die Welt, zumindest unsere westliche, ist maßlos, weil sie sich fürchtet vor dem was ist nach der Maßlosigkeit. Deshalb sucht sie ihr Heil in immer noch größerer Maßlosigkeit. Umso eher wird sie daran sterben.

Grübeldinger hörte zu reden auf. Er blickte eine Weile vor sich hin, so als wolle er Gedanken sammeln, um seine Rede fortzusetzen, doch dann senkte er seinen Blick und starrte auf den Tisch vor ihm. Langsam und wortlos ging ich aus seiner Wohnung, die knarzenden Holztreppen hinunter. Ich hielt den Brief meines Großvaters in der Hand. Ich wollte den Brief loswerden, weil er mich beklemmte. Doch ich hielt ihn fest in der Hand, als ich durch die Gassen der Salzburger Altstadt ging. Dann blieb ich stehen, unter all den Leuten, und blickte nach oben, auf den Himmel. Auf den grenzenlosen Himmel.