Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

In den Wolken

Die Wolken hingen schwer zu mir herab. Sie sanken und sanken, sodass ich plötzlich mitten unter ihnen war und sie nicht mehr als Wolken, sondern als dampfende Kälte wahrnahm. Ich verlor die Orientierung, ging einen Schritt nach dem anderen und hoffte, mich nicht im Kreis zu bewegen ohne es zu bemerken. Ich erinnerte mich, dass ich von Schluchten umgeben bin, was eine Gefahr darstellte, die ich jedoch nicht als solche wahrnahm, weil ich vor lauter dampfender Kälte nicht mehr sicher war, ob ich von Schluchten umgeben bin, obwohl ich mir eben noch sicher war. Vermutlich verhinderte die dampfende Kälte, die in mich hineinkroch, die Wahrnehmung dieser Gefahr. Das wäre eine mögliche Erklärung, die jedoch nicht zwingend ist, da die dampfende Kälte, die ich nun als solche wahrnahm, eben noch Wolken gewesen waren. Ich spielte eine Melodie auf dem Klavier, um mich vor der dampfenden Kälte, die man zum besseren Verständnis auch als Wolken bezeichnen könnte, abzulenken, die mich ihrerseits von der Gefahr der mich umgebenden Schluchten ablenkte. Das Klavierspiel wiederum bewirkte, dass ich mich in ihren Armen wiederfand. Ich spürte die Wärme ihres Körpers, ganz im Gegensatz zur dampfenden Kälte, sodass ich beschloss, das Klavierspiel zu beenden, woraufhin das Klavier beschloss, von selbst weiterzuspielen. Dies störte mich jedoch nicht sehr, da ich intensiv mit dem Abtasten ihres Körpers beschäftigt war. Das Klavierspiel unterstützte mit seinem sanften Rhythmus dieses Abtasten. Ehe ich das Abtasten intensivieren konnte, gingen wir nach draußen. Nein – ich habe es nicht als Gehen in Erinnerung, eher als Schweben. Waren wir bekleidet oder nackt? Es war nicht wichtig, denn draußen war die dampfende Kälte verschwunden. Die Sonne schien hell und warm. Die Blätter der Bäume, deren Farbe ich vergessen habe – ich glaube, ein sattes Grün wahrgenommen zu haben -, wogten im leichten Sommerwind. Wir schwebten weiter, so hatte ich keine Zeit, die Bäume weiter zu betrachten. Das machte nichts – das Schweben war angenehm. Wir schwebten über Blumenwiesen, bis wir in eine Steinlandschaft kamen. Bei den Steinen schwebten wir nicht weiter. Wir kletterten über die Steine. Mit jedem Schritt spürte ich die Steine unter mir. Nach dem Schweben war es angenehm, die Steine zu spüren.

Plötzlich zog eine langer Schatten heran, und ich erinnerte mich an die dampfende Kälte, doch ehe ich aufschauen konnte, um zu prüfen, ob der Schatten der Schatten eines Berges war oder eine Wolke, die heranzog, wurde ich selbst gezogen und fand mich hoch in der Luft wieder. Um mich herum Alpendohlen, die um sonnenbeschienene Berggipfel schwebten. Ich konnte mich selbst nicht sehen, doch es ist anzunehmen, dass ich eine Alpendohle war, weil ich so harmonisch mit meinen Fluggenossen durch die Felsklüfte flog. Ich versuchte, meine Flügel zu erspüren, um festzustellen, ob ich tatsächlich eine Alpendohle bin. Plötzlich sehnte ich mich nach den Steinen in der Felslandschaft unter meinen Füßen. Stattdessen fand ich mich in ihren Armen wieder. Draußen vermeinte ich Regen zu hören, was mich annehmen ließ, drinnen zu sein. Ich überlegte, ob draußen oder drinnen für mich noch gültige Kategorien sein können. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, schlief ich ein.

Das Sein in seinen Verschiedenheiten

Vorderbrandner ist wieder in eine Sinnkrise verfallen. Das merke ich sofort, als ich ins Büro komme. Lustlos sitzt er vor seinem Laptop, die Bücher links und rechts davon gestapelt.

„Was ist denn los?“

„Das Verb. Das Verb! Ich bin ein Bezweifler seiner Existenzberechtigung: Alles ist. Wozu braucht es mehr Verben als sein?“

„Ist nicht alles verschieden in seinem Sein? Benötigen wir dafür die weiteren Verben, um diese Verschiedenheit zu beschreiben?“

„Dafür gibt es die Nomen: Ich bin Vorderbrandner, du bist Hinterstoisser.“

„Ich habe eine Idee: Wir führen für jeden ein neues Verb ein. Das wird der Wirklichkeit gerechter. Du, Vorderbrandner, bist nicht, sondern zwist, weil du immer den Zwist suchst. Zwisten – ein neues Verb, nur für dich!“

„Und du, Hinterstoisser, bist der große Allmächtige. Du bist, über allem Zwist.“

„Ich weiß nicht was ich. Es gibt noch kein Verb für mich. Das wäre doch eine Aufgabe, ein Verb für mich zu finden!“

Den Rest des Tages lauschen wir Ernst Jandl bei der Rezitation seines Gedichts auf dem land und hoffen, dadurch neue Verben zu finden:

Ernst Jandl: auf dem land

b.w.gung

Bei mir in der Straße hat ein neuer Laden eröffnet. Auf dem Schild steht: b.w.gung. Ich bin ein neugieriger und offener Mensch, deshalb will ich unbedingt mal in diesen neuen Laden hineinschauen. Ich bin auch ein vorsichtiger Mensch, deshalb mache ich mir vorher meine Gedanken über diesen Laden, bevor ich hineinschaue.

Es wird wohl ein Chinese namens Gung sein, der diesen Laden führt, denke ich. Ich habe nichts gegen Chinesen, im Gegenteil, ich bin neugierig auf andere Kulturen und offen ihnen gegenüber. Aber man stelle sich nur vor, ich betrete den Laden des Herrn Gung und dann steht da zum Beispiel ein Afghane und ein Syrer drinnen. Das wäre eine schwierige Situation, ein Zusammenstoß der Kulturen, auf den ich mich natürlich vorbereiten sollte.

Heute morgen, als ich an dem Laden vorbeigehe, denke ich mir, dass es sich nicht lohnt, so viel zu denken, und ich gehe spontan in den Laden des Herrn Gung. Im Laden begrüßt mich ein Mann, der so gar nicht aussieht wie ein Chinese. Eher wie ein stinknormaler Deutscher. Ich frage den Mann, ob Herr Gung da sei.

„Herr Gung?“

„Ja, Herr Gung. Der Laden heißt B.W.Gung, also nehme ich an, dass er von Herrn Gung geführt wird.“

„Sie haben eine blühende Phantasie“, sagt der Mann und lächelt. „Benedikt Wegener ist mein Name. Freut mich, dass Sie mich besuchen! Der Name meines Ladens steht für Be-we-gung. Ich habe mich der Bewegung verschrieben, weil ich finde, dass sich die Menschen zusehends zu wenig bewegen und nur noch vor ihren Laptops, Tablets und Smartphones sitzen.“

Ich schaue mich im Laden um.
„Sie betreiben also ein Fitnessstudio? Aber sie habe ja gar keine Geräte!“

„Mit Bewegung meine ich das Voranschreiten im Freien, also dreidimensionales Gehen ganz ohne Brille. Ich gehe mit den Leuten herum und zeige ihnen die Phänomene unserer Erde in Echtansicht.“

Herr Gung geht mit mir aus dem Laden und zeigt auf einen Baum auf der anderen Straßenseite: „Sehen Sie die Blätter dieses Baumes, wie sie sich im Wind bewegen?“
Benedikt Wegener geht über die Straße zum Baum. Ich folge ihm.
„Ich habe meiner vier Monate alten Tochter die grünen Blätter gezeigt, wie sie sich im Wind bewegen. Sie war fasziniert, geradezu hingerissen. Da kam mir die Idee für meinen Laden.“

Ich habe mich, wie gesagt, gewissenhaft vorbereitet auf den Besuch im Laden Benedikt Wegeners, der für mich doch immer Herr Gung bleiben wird. Ich habe mit vielem gerechnet: mit chinesischem Deutsch, mit Afghanen und ihren verschleierten Frauen, mit Syrern die Messer zücken. Aber nicht mit grünen Blättern, die sich im Wind bewegen. Ich sollte mich öfter überraschen lassen.

Streitbarer Stürmian

Wir, mein Mitarbeiter Vorderbrandner und ich, sind ein kleines Schreibbüro, das sich aber einträglichen Einnahmequellen nicht verschließen will. Ich habe deshalb Vorderbrandner zur Fußball-Europameisterschaft nach Frankreich geschickt, um dort ein Gespräch mit dem deutschen Nationalspieler Stürmian Beinschweiger zu führen.

Ich hatte Vorderbrandner eindringlich gebeten, seine Sprachverliebtheit hintanzustellen, denn es ginge um Fußball und nicht um Sprache, aber Beinschweiger führte ihn mit eloquenter Wortwahl auf Irrwege:

Vorderbrandner: Stürmian Beinschweiger, heute, kurz vor Ihrem 120. Länderspiel für Deutschland…

Beinschweiger: Ich bestreite es.

Vorderbrandner: Das Spiel oder dass Sie es bestreiten?

Beinschweiger: Wie? Ja, ich bestreite es.

Vorderbrandner: Sie bestreiten also das Spiel, und Sie bestreiten, dass Sie es bestreiten.

Beinschweiger: Mir scheint, Sie wollen einen Streit vom Zaun brechen!

Vorderbrandner: Nein, da verstehen Sie mich falsch. Ich bestreite aufs Eindeutigste, dass ich einen Streit mit Ihnen vom Zaun brechen will, jedoch würde mich interessieren, wie Sie Ihre Rolle sehen in diesem Ihrem mutmaßlich bevorstehenden 120. Länderspiel für Deutschland, dass Sie, wie ich nach wie vor annehme, bestreiten werden, ohne dies zu bestreiten?

Beinschweiger: Was ist das für eine Frage? Das ist doch ein Widerspruch: Wie kann ich ein Spiel bestreiten, ohne es zu bestreiten?

Vorderbrandner: Nun, das ist wiederum eine Frage, die Sie aufgeworfen haben, und ich fürchte, wir werden diesen Widerspruch nicht so schnell auflösen können, da uns die deutsche Sprache, die Sprache dieses Landes, für das Sie in Kürze Ihr 120. Länderspiel bestreiten werden, eine Falle gestellt hat, in der wir, wie es scheint, gefangen sind. Im übrigen sagte ich aber nicht, dass Sie ein Spiel bestreiten, ohne es zu bestreiten, sondern dass Sie ein Spiel bestreiten, ohne dies zu bestreiten.

Beinschweiger: Wollen Sie mich nun etwas fragen oder nicht?

Vorderbrandner: Nach unserem bisherigen Gespräch liegt es mir auf der Zunge zu sagen, dass ich es natürlich nicht bestreite, Sie etwas fragen zu wollen, jedoch sollten Sie dazu die Bereitschaft zeigen, etwas antworten zu wollen, ohne uns in sprachliche Widersprüche zu verwickeln, die ein klar festgelegtes Frage-Antwort-Schema nicht zulassen.

Beinschweiger: Hören Sie, ich habe keine Lust, mit Ihnen zu streiten. Stellen Sie anständige Fragen, die ich beantworten kann, oder ich breche das Gespräch ab!

Vorderbrandner: Streiten und bestreiten, unser Gespräch scheint zwischen diesen Polen zu pendeln. In jedem Fall wünsche ich Ihnen alles Gute für Ihr 120. Länderspiel für Deutschland, das Sie, wie ich hoffe, verletzungsfrei bestreiten werden. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bestreiten

Sommermärchen, immer wieder

Deutschland ist seit 2006, seit der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, ein Sommermärchenland. Da wurde gefeiert und Fahnen wurden geschwenkt. Eine Selbstberauschung historischen Ausmaßes.

Ich bin vernarrt in den Fußball, in seine Athletik, in seine Taktik. In seine Einfachheit, in seine Komplexität. Ich liebe dieses Spiel.

Als der letzte Elfmeter geschossen war, zogen sie laut und grölend durch die Straßen und betranken sich noch mehr, als sie ohnehin schon waren. Eine Selbstberauschung historischen Ausmaßes. Sind wir im Krieg gegen andere Nationen, oder war es nur ein Fußballspiel?

Ich habe gelesen: In Frankreich, der Grand Nation, also der Nation der Nationen überhaupt, zumindest laut Selbstdefinition, gehen sie ins Bistro und schauen sich ein Fußballspiel an, ohne grölend die Fahnen zu schwenken, einfach so. Und danach reden sie miteinander und gehen nachhause. Ja, geht denn das? fragt da der Deutsche. Wo bleibt denn da das Sommermärchen? Und zieht fassungslos weiter, mit einer Flasche Bier in der Hand.

Ich brauche den Fußball, aber brauche ich dazu die National-Mannschaften? Ich habe gelesen: Patriotismus ist, wenn man sein Land liebt. Nationalismus ist, wenn man die anderen Länder hasst. In Tagen des Brexit, des Aufschwungs der Rechtspopulisten, löst der Begriff der Nation bei mir Angst aus. Angst vor Abgrenzung und Isolation.

Müssen jetzt auch noch die National-Mannschaften gegeneinander spielen? – Beruhige dich, Emil: Es ist alles nur Fußball, sagt eine innere Stimme zu mir. Na denn: Prost Sommermärchen!

BRD gegen UdSSR 1972

Walentin Worderbrandner

Ich kam zur Tür herein und Vorderbrandner schaute mich missmutig an. Er sagte: „Ich zweifle an der Sprache – an ihrer Fähigkeit, irgendetwas zu sagen.“

„Ich weiß.“

„Was? Du weißt?“

„Heute ist Donnerstag, Redaktionstag, da zweifelst du regelmäßig an der Sprache, weil du etwas Geschriebenes liefern sollst.“

„Das meine ich nicht. Ich meine es wirklich ernst diesmal mit dem Zweifel. Gut dass du Geschriebenes erwähnst: Ich meine nämlich vor allem die geschriebene Sprache, an der ich zweifle. Wie kann etwas Geschriebenes etwas aussagen, wenn es sich durch nichts ausdrücken kann als durch Schrift, durch etwas Totes wie Schrift?“

„Weil du mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen hinter dieser Schrift stehst und ihr etwas Lebendiges dadurch gibst.“

„Danke für die Belehrung, Herr Oberlehrer!“

„Du hast Recht. Ich wollte gerade etwas Weises sagen. Meist kommt Wirres dabei heraus. Aber es ist egal. Wichtig ist doch nur, welches Bild in meinem Kopf ist, das ich transportieren will. Ob das Bild, das ich im Kopf habe, beim Leser ankommt, ist eine andere Frage. Es ist als Schreibender bereits ein Riesenerfolg, wenn mein Bild überhaupt gelesen wird und irgendein Bild im Leserkopf kreiert wird.“

„Vielen Dank für das Kurzreferat! Ich betitle es mit: Das Wisuelle.“

„Das gefällt mir, Vorderbrandner: Das Wisuelle. Das ist ein noch viel passender Begriff als Das Bild. Es ist das Ganze: die Gedanken, die Gefühle – ist mir warm, ist mir kalt, bin ich verliebt, bin ich verlassen worden.“

„Das W machts eben – mit V wär es wieder nur ein Bild, das Visuelle.“

„Schön dass dir das W gefällt.“

„Gefallen? Ich arrangiere mich mit deinem W-Tick.“

„Mag sein, dass ich einen W-Tick habe. Aber die Welt hat einen noch viel größeren Tick: einen WWW-Tick. Alles hängt nur noch am Netz. Aber ich muss in der Tat aufpassen mit meinem W-Tick: Erinnerst du dich an Valentina, die mal zu uns stoßen wollte? Die hat es sich dann anders überlegt, als ich ihr mein WWW-Konzept (Weises, Wirres, Wisuelles) erläutert habe, weil sie plötzlich dachte, sie müsste sich fortan Walentina nennen, um mit mir zu arbeiten.“

Weises wirres wisuelles

„Nur deswegen ist sie nicht geblieben?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist es besser. Könnte sein, dass ich wohl nur scharf war auf Walentinas Wagina – oder Valentinas Vagina, das ist mir jetzt einerlei – und nicht auf ihre Schreibkünste.“

„Und sie auf Peters Penis und nicht auf deinen.“

„Vorderbrander, du machst dich! Haben wir deine Zweifel an der Sprache nun ausgeräumt?“

„Ich zweifle, dass ich nicht zweifle.“

„Solange du mir nicht sagst: ‚Ich lebe, dass ich nicht lebe‘, ist alles halb so schlimm. Ich werde dir deine Zweiflereien schon austreiben! An die Arbeit! Und verzeih mir, wenn ich dich ab jetzt manchmal Walentin Worderbrandner nenne!“

Unterwegs nach St. Petersburg

Ich bin wütend und brülle die Frau an: „Setzen Sie sich gefälligst auf Ihren Platz, und kommen Sie nicht mehr auf die Idee, ihn jemandem anzubieten! Niemand will auf Ihrem Platz sitzen! Sie haben das auszuhalten, dass Sie dort sitzen und sonst niemand dort sitzen will! Sie soziale Vergewaltigerin, Sie kümmergenisierter Krüppel!“

Ich sehe mich im Waggon um. Es herrscht Stille und alle sehen mich an. Ich setze mich auf meinen Platz und kann meinen Atem hören. Meine Wutrede hat mich angestrengt. Ich sehe zum Fenster hinaus. Die Landschaft zieht vorüber. Meine Wutrede hat mich durcheinandergebracht. Wo war ich stehen geblieben mit meinen Gedanken? – Die russischen Zaren haben St. Petersburg erbaut und zur Hauptstadt gemacht, um Russland näher an Europa heranzuführen. Was hat die russischen Zaren zu dieser Weltoffenheit getrieben, zu diesem Interesse für Europa, um eine neue Stadt in einer Sumpflandschaft mit Überschwemmungsgefahr zu bauen? Heutzutage will jeder raus aus Europa, zum Beispiel die Briten, und die Russen bauten sich einst eine neue Hauptstadt, um nach Europa zu kommen!

Nach jeder Haltestelle blicke ich auf, zu der Frau hinüber, ich blicke auf, ob jemand eingestiegen ist und sie wieder jemanden nötigt, ihren Platz einzunehmen, um ihr soziales Gewissen zu beruhigen. Bevor ich mich wieder den Gedanken widme, die mir eigentlich wichtig sind, sollte ich erklären, was mich so entzürnt hat an dieser Frau und mich wütend auf sie einbrüllen ließ: Sie ist wohl etwa dreißig Jahre alt und hat durchaus hübsche Anlagen, aber es strahlt eine innere Unzufriedenheit aus ihren Augen, die ihre hübschen Anlagen überlagert. An einer Haltestelle war nun eine andere Frau eingestiegen, vermutlich etwa doppelt so alt wie die eine Frau, die an ihrem Platz sitzt mit der Unzufriedenheit in ihren Augen. Die jüngere Frau erhob sich von ihrem Platz und forderte die ältere Frau auf, ihren Platz einzunehmen. Die ältere Frau verweigerte sich höflich dieser Aufforderung. Die jüngere Frau bot erneut ihren Platz an, worauf die ältere erneut verweigerte. Das ging so weiter, bis die jüngere die ältere unerbittlich anflehte, sie möge doch bitte ihren Platz einnehmen, denn sonst fühle sie sich so schlecht, und das würde sie nicht aushalten. Es war eine Nötigung in ihren Worten, in ihren Gesten, in ihren unzufriedenen Augen, mit der sie die ältere Frau zwingen wollte, ihren Platz einzunehmen. Ich hatte während dieser ganzen Szene versucht, an St. Petersburg zu denken, doch es fiel mir immer schwerer, bis ich schließlich vollkommen von der Szene erfasst wurde und zu meiner Wutrede ansetzte.

Nun herrscht Ruhe im Waggon. Die ältere Frau hat sich etwas entfernt und lehnt an einer durchsichtigen Trennwand. Wo war ich stehen geblieben? Bei den Sumpfgebieten, auf denen St. Petersburg erbaut wurde? Ich weiß es nicht mehr. – In jedem Fall steht da also nun St. Petersburg, auf diesen ehemaligen Sumpfgebieten, immerhin die viertgrößte Stadt Europas. Es scheint ziemlich allein zu stehen in einem Europa, das keiner mehr zu haben scheinen will. Ich versuche, nicht aufzublicken zu der Frau, denn ich merke, dass meine Gedanken kompliziert werden und einige Konzentration erfordern. Wäre da nicht diese Unzufriedenheit in den Augen dieser Frau, ich würde mich nicht wehren können gegen den Impuls, zu ihr aufzublicken und durch ihre Augen ihre hübschen Anlagen zu erspähen. Doch so schaffe ich es, bei meinen Gedanken zu bleiben: Europa und die Nationen. Ist die Nation ein politisch gewollter Begriff, oder ist sie eine menschliche Notwendigkeit? Der Mensch tobt sich aus, und um dieses Austoben zu legitimieren, schafft er die Nation, um gegen andere Nationen Krieg zu führen. Der Feind sucht sich leichter anderswo als in sich selbst. Ist die junge Frau mein Feind?

Nein! Ich will mich nicht ablenken lassen, schon gar nicht von dieser Frau, die mich so wütend gemacht hat mit ihrer sozialen Vergewaltigung. Nein! Stattdessen denke ich: Ich fahre nicht so oft nach St. Petersburg, weil ich denke: Nur wenn ich russisch sprechen kann, verdiene ich es, St. Petersburg zu betreten. Bin ich zu streng zu mir?

Der Zug hält. Die ältere Frau steigt aus. Die jüngere wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich atme tief durch, weil ich mich schäme für meinen Wutanfall. Wieso machte mich diese Frau so wütend und jetzt so beschämt? Ich spüre neue Wut in mir hochkommen, weil es mir nicht gelingt, ihre hübschen Anlagen wahrzunehmen hinter diesen unzufriedenen Augen.

Agathes Fahrrad und die Sterne hinter ihr

Ich bin froh um Vorderbrandner. Er ist so etwas wie ein Bruder für mich. Ich habe mir als Kind immer einen Bruder gewünscht, am liebsten einen Zwillingsbruder. Und wenn ich an eigene Kinder denke, würde ich am liebsten Zwillinge haben. Ein einzelnes Kind stelle ich mir so einsam vor in seiner Welt. Woher kommt diese Einsamkeit?

Ich gehe mit Vorderbrandner die bevölkerte Straße entlang. Ich bemerke eine gewisse Aufregung bei ihm. Als ich ihn darauf anspreche, sagt er: „Die Welt dreht sich nur um Muschis und Schwänze.“

Was für eine Frau ist jetzt in seinem Kopf? Immer wenn er mit solchen Allgemeinplätzen rausrückt, drückt ihn etwas ganz Bestimmtes. Ich sage: „Du hast Recht. Die Welt dreht sich um Muschis und Schwänze. Ich finde diese Welt eine sehr anregende Welt, auf die ich jeden Tag aufs Neue gierig, neu-gierig bin. Ich habe nichts als Frauen im Kopf. Durch sie küsst mich die Muse, durch sonst nichts.“

Schweigend gehen wir weiter die bevölkerte Straße entlang. Vorderbrandner denkt an eine Frau, da bin ich mir sicher. Ich bin mir außerdem sicher, dass Frauen über das Leben bestimmen. Weil die Männer das nicht glauben wollen, erfinden sie unsinnige Geschichten, um Frauen zu unterdrücken. Und weil die Frauen schon so lange unterdrückt werden, haben viele von ihnen es sich zum Ziel gesetzt, die Männer zu unterdrücken.

Plötzlich bleibt Vorderbrandner vor einem Fahrrad stehen. Es ist ein altes schwarzes Damenfahrrad, mit einer gewissen Patina, aber elegant.

„Das ist ihr Fahrrad“, sagt er. „Das ist Agathes Fahrrad.“

Jetzt ist die Katze also aus dem Sack: Agathe heißt die Frau, um die es geht.

„Das ist das Fahrrad, mit dem sie mit mir durch die Nacht flaniert ist, durch diese laue, sternenklare Nacht letzten Sommer. Ich glaube, das ist ihr Fahrrad – nein, ich bin mir sicher: Das ist ihr Fahrrad! Ich sehe sie darauf sitzen, mit Eleganz, Anmut und Sinnlichkeit, und hinter ihr funkeln die Sterne.“

Vorderbrandner betrachtet das Fahrrad und erlebt noch einmal seine laue Sommernacht mit Agathe. Sein Blick sagt mehr als er jemals beschreiben könnte. In seinen Augen funkeln die Sterne dieser Nacht.

Er redet weiter: „Ich weiß gar nicht, ob ich Agathe noch erkennen würde. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit dieser Nacht letzten Sommer. Aber in meinem Kopf ist sie ständig da. Was macht sie mit mir? Bin ich verliebt in diese Nacht, oder bin ich verliebt in Agathe?“

Ich bin gerührt von Vorderbrandners Verliebtheit. Er ist verliebt in dieses Leben, das sich um Muschis und Schwänze dreht. Wir bleiben am Fahrrad stehen, während die Leute an uns vorbeigehen, so als wollten wir diesen Moment der Andacht in die Länge ziehen. Bin ich naiv, wenn ich glaube, dass es in diesem Leben um Liebe und nicht um Macht geht?

Ode an Josefine

Josefine kommt zur Tür herein und sieht mich lächelnd und zufrieden im Sessel sitzen.

„Was strahlst du so?“ fragt sie mich.

„Ich habe herausgefunden, warum die naturwissenschaftlichen Fächer in der Schule so eine Qual für mich waren.“

„Und das versetzt dich in so gute Laune?“

„Ich will es dir erklären. Ich versuche es. Die Verdunstung, zum Beispiel. Da steht: Bei einer Verdunstung geht ein Stoff vom flüssigen in den gasförmigen Zustand über, ohne dabei die Siedetemperatur zu erreichen. Ist das nicht ein Wunder, dass Wasser an der Luft verdunstet? Ich habe weitergelesen über Verdunstung, aber schon bald gab ich auf. Ich bin steckengeblieben bei diesem Wunder, so als würde ich voller Erstaunen beobachten, wie das Wasser aus frisch gewaschener Wäsche an der Leine verdunstet. Und so bin ich immer in den Physik- und Chemiebüchern steckengeblieben, weil ich aus dem Staunen nicht herauskam.“

Ich möchte Josefine noch von der Quelle erzählen, von dem Ort, an dem dauerhaft oder zeitweise Grundwasser auf natürliche Weise an der Geländeoberfläche austritt, und was für ein Wunder das ist, und wie schön es ist, sich am Quellwasser zu waschen und zu erfrischen, doch da geschieht schon das nächste Wunder: Josefine küsst mich leidenschaftlich.

Ich sollte dieses Wunder geschehen lassen, doch bei diesem Kuss, bei diesem oralen Körperkontakt, erwacht der Naturwissenschaftler in mir. Ich sollte in diesem speziellen Fall spezifizieren: der Philematologe.

Wie fühlt sich der Kuss an? Die Grenzen verschwimmen. Wo fange ich an, wo höre ich auf? Wer bin ich überhaupt? Ich weiß es nicht. Ich fühle es. Jeden Tag ist es ein neues Wunder, mich zu erleben, ohne zu wissen, wer ich bin. Ein Herantasten an das Leben, das ist jeder Tag. Dein Betasten meiner Lippen, meiner Haut, meines Körpers, mein Betasten deiner Lippen, deiner Haut, deines Körpers. Ist das nicht ein Wunder?

Ich wollte nichts über Wunder schreiben, weil ich es tunlichst vermeide, über Wunder zu schreiben. Wunder geschehen. Dennoch kann ich es nicht lassen, mit dem Schreiben. Ich weiß einen Ausweg: Ich lasse Musik sprechen. Vielleicht kann sie Wunder besser beschreiben: Ode an Josefine!

Grenzerfahrung II

Teil 2 (Fortsetzung von Teil 1)

Ich stehe da, mit dem Brief in der Hand, und möchte Grübeldinger sagen, wie überrascht ich bin, dass unsere Großväter sich kannten. Doch Grübeldinger redet unbeirrt weiter: Österreich, das ist ein Land aus lauter Stumpfsinnigen, die sich seit fast hundert Jahren mit einem Minderwertigkeitskomplex herumschlagen, weil sie seitdem die Slawen nicht mehr unterdrücken und die Deutschen nicht mehr beherrschen können. Die nicht begreifen, dass die Welt nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander existiert. Eine Zeitlang dachten die Österreicher, die besseren Deutschen zu sein. Seit geraumer Zeit reden sie sich nun ein, gar keine Deutschen mehr zu sein, obwohl die meisten von ihnen deutsch sprechen. Es ist nicht gesund, dauernd vor sich selbst wegzurennen.

Österreich sollte, wenn es schon nicht ein Teil Europas sein will, ein Teil von etwas Größerem sein, ehe es sich selbst ins Verderben reitet. So stumpfsinnig die Österreicher seit fast hundert Jahren sind, so haben sie bisher fast immer davor zurückgeschreckt, einen Stumpfsinnigen zu ihrem Präsidenten zu wählen. Dieser Stumpfsinnige, den sie jetzt beinahe zu ihrem Präsident gewählt haben, versteckt sich hinter einem netten Gesicht. Ich nenne ihn den netten Norbert. Doch ich sehe im Gesicht des netten Norbert eine Fratze der unterdrückten Gefühle, wie überhaupt sie typisch ist in diesem Land, das sich Österreich nennt, diese Fratze der unterdrückten Gefühle, in diesem Land der Fritzls und Priklopils. Vielleicht haben Fritzl und Priklopil dem österreichischen Bedürfnis nach Unterdrückung nachgegeben, indem sie Menschen einsperrten, denn in Österreich sucht man nach Tätern und Opfern, und was früher die Slawen und Juden waren, das sind heute eben kleine Mädchen. Der Österreicher ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein Opfer, denn nur als Opfer, so sagten sie ihm, kann Österreich überleben. Ist Österreich ein Volk mit unterdrücktem Täterdrang, weil es offiziell immer Opfer sein muss? Der nette Norbert ist nur jetzt so nett, weil er seine Gefühle unter der Fratze versteckt, sie unterdrückt; doch wenn er an der Macht ist oder glaubt an der Macht zu sein, lässt er seine Maske fallen und lässt seinem Täterdrang freien Lauf und will alle unterdrücken, die ihm in die Quere kommen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wer das aller sein kann. Man muss die Österreicher erlösen, bevor sie wirklich einen Stumpfsinnigen wie den netten Norbert zur ihrem Präsidenten wählen. Denn man sollte sich nicht darauf verlassen, dass sie eines Tages nicht wirklich einen Stumpfsinnigen wie den netten Norbert zu ihrem Präsidenten wählen.

Das Größere, von dem Österreich Teil sein kann, kann nicht Europa sein, denn das ist den Stumpfsinnigen zu groß. Vielleicht schwebt den Stumpfsinnigen um den netten Norbert vor, Österreich zu einem Teil von Deutschland zu machen, denn dann könnten die stumpfsinnigen Österreicher wieder mit voller Berechtigung ihrem Minderwertigkeitskomplex frönen, an den sie sich seit nunmehr fast hundert Jahren gewöhnt haben. Sie wären Teil von etwas Größerem, ohne die Slawen zu unterdrücken. Sie könnten sich als bessere Deutsche fühlen, denn Deutschland mit seiner föderalistischen Struktur könnte Österreich zu einem Freistaat erklären. Dieser Titel macht bereits Bayern und Sachsen stolz, obwohl er nichts bedeutet. Dieser Titel würde auch den netten Norbert stolz machen und ihn in seinem Täterdrang einbremsen.

Ich versuchte Grübeldinger zu unterbrechen. Ich wollte ihn fragen, woher dieser Brief kommt, dieser Brief meines Großvaters an seinen Großvater, und als ob er ahnte, dass ich ihn das fragen wollte, drehte er sich zu mir und redete weiter: Ist Wien nicht genauso eine Stadt ohne Land, eine Stadt, die einmal das Zentrum Europas war und jetzt von einem Landstrich umgeben ist, der von lauter Stumpfsinnigen bewohnt wird? Doch was gehen mich die Wiener an. Denn ich sitze in Salzburg, und Salzburg, diese Stadt, zerrieben und missbraucht, ist die Stadt, der ich ausgeliefert bin, ob ich es will oder nicht.

Der Landstrich, den sie heute Rupertiwinkel nennen, war früher ein Teil Salzburgs. Dort bauten sie Getreide an, dort kam das Brot Salzburgs her. Dieser Landstrich gehört seit zweihundert Jahren zu Bayern, während das restliche Salzburg, dieses verkrüppelte Land mit seinen stumpfsinnigen Gebirgstälern, zu Österreich gehört. Was ist das für ein Land, das das Getreide für sein Brot nicht mehr selbst anbauen kann? Salzburg wäre schon gestorben als Stadt ohne Land, hätten Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt nicht damals eine zentral gelegene Einöde gesucht, in die sie ihre Festspiele pflanzen können. Zentral gelegene Einöde, vielleicht ist das die richtige Definition für Salzburg. In jedem Fall scheinen Hofmannsthal und Reinhardt in Salzburg das gefunden zu haben, was sie gesucht hatten. Diese Festspiele, sagen alle, seien ein Riesenglück für Salzburg, doch ich behaupte, sie sind ein Riesenunglück. Denn seitdem glaubt Salzburg, als Stadt ohne Land leben zu können, zerrieben und missbraucht, zuerst von den Nationalsozialisten, dann von den genusssüchtigen Bonzen aus Wien. Wie kann sich eine Stadt so verlieren in ihrem Größenwahn, ohne einen Grund dafür zu haben? Doch vielleicht ist das ohnehin die Krankheit der Welt, zumindest der westlichen, sich in ihrem Größenwahn zu verlieren. Grenzen und Länder wurden und werden verschoben, als ob keine Menschen darin lebten, Menschen, die mit diesen Verschiebungen zerrieben und missbraucht werden. Der Stadt Salzburg wird ihre Schönheit eingeredet, so aufdringlich, dass sie ganz betäubt ist davon. Wo soll da wahre Schönheit entstehen, wahre Schönheit, die doch immer ein zarter Spross der Schöpfung ist, wenn mit so brachialer Gewalt auf sie eingewirkt wird? Salzburg lebt von diesen Leuten, von den Festspielgästen und Touristen, die angezogen werden von diesen brachialen Reden, und es wird an ihnen sterben. Es verkommt mehr und mehr zu einer hohlen Fassade, und ich, der in dieser Fassade lebt, beobachte dieses Sterben, bis ich mit ihr zugrunde gehe. Die Welt, zumindest unsere westliche, ist maßlos, weil sie sich fürchtet vor dem was ist nach der Maßlosigkeit. Deshalb sucht sie ihr Heil in immer noch größerer Maßlosigkeit. Umso eher wird sie daran sterben.

Grübeldinger hörte zu reden auf. Er blickte eine Weile vor sich hin, so als wolle er Gedanken sammeln, um seine Rede fortzusetzen, doch dann senkte er seinen Blick und starrte auf den Tisch vor ihm. Langsam und wortlos ging ich aus seiner Wohnung, die knarzenden Holztreppen hinunter. Ich hielt den Brief meines Großvaters in der Hand. Ich wollte den Brief loswerden, weil er mich beklemmte. Doch ich hielt ihn fest in der Hand, als ich durch die Gassen der Salzburger Altstadt ging. Dann blieb ich stehen, unter all den Leuten, und blickte nach oben, auf den Himmel. Auf den grenzenlosen Himmel.