Er und Sie (Einführung in ein postdramatisches Drama)

Zunächst sind zwei bittere Wahrheiten zu nennen, die Er Ihr nicht ersparen kann, wobei das nur Prämissen von Ihm sind, dass es sich um Wahrheiten handelt, die Sie nicht hören will: Sie hat an diesem Abend zuviel geredet und zuviel getrunken. Findet Er jedenfalls.

Sie hatten vor diesem Abend und auch danach kein Verhalten gezeigt, dass sie, um es traditionell auszudrücken, für andere als Paar erkennbar gemacht hätte, beziehungsweise, um es moderner auszudrücken, man konnte keine Intimitäten zwischen ihnen feststellen, man hatte so etwas nicht gesehen, einen Kuss oder eine sonstige Berührung, die man als intim bezeichnen könnte, und Er sagt, darauf angesprochen, dass diese Beobachtung der vollen Wahrheit entspricht, während Sie, darauf angesprochen, ein Lächeln zeigt, dass man als kokett bezeichnen könnte, und dieses Lächeln stellt natürlich die eben aufgestellte Wahrheit wieder in Frage.

Jedenfalls hat Sie, wie Er sagt, zuviel geredet an diesem Abend und dabei zuviel getrunken. Was zuerst geschah, das Reden oder das Trinken, könne er nicht mehr mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich geschah es gleichzeitig und hat sich gegenseitig hochgeschaukelt. Sie hat dann geredet über die Rolle des klassischen Dramas im modernen Theater und sich dabei so verheddert, dass Sie in immer kürzeren Abständen zwischen ihrem Reden trank, was ihr Reden zugleich beschleunigte und entschleunigte, denn ihr Reden wurde schneller aber auch repetitiver, was es Ihm einerseits schwerer machte Ihr zu folgen, aber auch leichter, denn hatte Er etwas nicht verstanden, konnte Er sicher sein, dass Sie es nach drei, spätestens nach vier Sätzen wiederholen würde.

Bei ihrem Reden und Trinken und seinem Zuhören waren sie in fremden Räumlichkeiten, sodass der Gastgeber der Räumlichkeiten sie zu später Stunde – der Gastgeber sagt, es war eher zu früher als zu später Stunde, denn er meinte, Vogelgesang vor der Tür gehört zu haben, aber das nur nebenbei – dass der Gastgeber sie also vor seine Tür komplementierte, und da standen sie nun, Er und Sie, vor der Tür, und Sie redete weiter und fragte, was man dieser Situation vor der Tür nun an Dramatischem abgewinnen könne? Ihm fiel in diesem Moment die klassische Zuspitzung jedes Dramas ein, die da heißt: im Zweifelsfall küssen, und da Er sich in diesem Moment nicht als Dramaturg, sondern als Darsteller begriff, folgte Er diesem Einfall und presste seine Lippen heftig an ihre, was Sie mit ebenso heftigem Pressen an seine erwiderte, und so entstand eine dramatische Situation, die man als leidenschaftlichen Kuss bezeichnen kann, begleitet von gegenseitigem Umschlingen und Berühren mit Armen und Händen.

Halt! Halt! sagte Sie dann. Ja, Er erinnert sich genau, denn Er war erstaunt über ihre Klarheit und Nüchternheit, die Er nicht erwartet hatte: Halt! Halt! sagte Sie: Das ist viel zu banal! So was kann man heute nicht mehr bringen! Einfach so küssen, das geht doch nicht! Sie riss sich von Ihm los und verschwand in der Kühle der frühen Stunde, ja jetzt kann Er sich erinnern, es war die Kühle der frühen und nicht die Hitze der späten Stunde, und Er fragte sich, ob es dramaturgisch besser gewesen wäre, den Kuss zurückzuhalten und stattdessen der Sehnsucht nach dem möglichen Kuss zu verfallen, um das Drama weiter zu erhöhen. Andererseits, Gerede in Dauerschleife hat keine Dramaturgie, sondern höchstens etwas Ermüdendes.

Ihn ergriff eine große Zufriedenheit, sagt Er, eine Zufriedenheit darüber, dass dieser Kuss nun im Raum steht, in diesem Raum der unendlichen Möglichkeiten, in dem sich dieser Kuss als konkretes Ereignis manifestiert hat. Denn man kann sich leicht verlieren in diesem unendlichen Raum der Möglichkeiten, wenn man nicht das tut, was getan werden muss, zum Beispiel, dass Er und Sie sich küssen. Eine Wahrheit, die Er nun nicht mehr missen möchte.

Unrat vor Naturdenkmal

Ich stand vor dem Stapel Holz mit dem Schild dahinter und las:

Naturdenkmal – Unrat ablagern verboten

Diese Anordnung stürzte mich in große Verwirrung. Ist das Holz Naturdenkmal oder Unrat? Wenn das Holz Unrat ist, wo ist das Naturdenkmal? Oder steht das Schild für die Natur als Denkmal? Die Natur als ein riesiges Gesamtdenkmal? Ein kleines Schild für die große Natur? Der Holzstapel ein Teil der Natur, ein Teil des Denkmals? Oder doch nur achtlos hingeworfener Unrat vor ein bedeutungsloses Schild?

Ich rief Hubert an, der seine Nummer auf dem Holz hinterlassen hatte. Hubert meldete sich. Ich fragte ihn all meine Fragen. Hubert sagte, sein Kunstwerk solle Fragen aufwerfen, und deshalb freue er sich über meine Fragen. Ich solle doch bitte diese Fragen auf seine Social-Media-Accounts posten, darüber würde er sich noch mehr freuen. Dann legte er auf, ohne meine Fragen zu beantworten.

Die Tochter meiner Frau

Jakob ist mein zwölf Jahre alter Sohn. Jedes zweite Wochenende verbringen wir beide schöne Stunden, wie ich es nenne. Gerade neigen sich diese schönen Stunden wieder einmal dem Ende zu. Wir sind unterwegs zu Jakobs Mutter Paula. Paula war vier Jahre lang meine Lebensgefährtin. Als Jakob zwei war, trennten wir uns. Paula hatte gemeint, wir sollten uns trennen, weil sie meine Passivität nicht mehr aushält. Sie will einen Mann, keinen Waschlappen, sagte sie. Ich habe das widerstandslos hingenommen, weil mich Paulas Temperament ohnehin überforderte.

Als wir ankommen, öffnet uns Paula mit feuchten Augen die Tür. Jakob verdrückt sich gleich in sein Zimmer. Es schmerzt mich jedesmal, mich von ihm zu verabschieden. Es schmerzt mich immer mehr, weil ich weiß, dass er immer größer wird, und in nicht allzu ferner Zukunft ist er kein Kind mehr, sondern ein Pubertierender. Ich stehe etwas ratlos in der Tür und sehe in Paulas feuchte Augen.

„Guck nicht so!“ sagt sie: „Ja, ich habe gerade geweint. Stell dir vor!“
„Was ist denn los?“ frage ich unbeholfen.
„Lilly hat sich gerade mal wieder wutentbrannt aus dem Staub gemacht. Sie redet nicht mehr mit mir; will zu ihrem Vater ziehen; aber der will keinen Kontakt zu ihr. Ist ihm zuviel. Sagt er.“

Lilly ist die siebzehnjährige Tochter Paulas aus ihrer Beziehung vor mir.

Ich stehe weiter ratlos in der Tür und mache ein betroffenes Gesicht.
„Mach nicht so ein betroffenes Gesicht!“ sagt Paula. „Ich weiß, dass du nichts tun kannst und nichts tun willst. Genauso wie damals, als wir zusammen waren. Der große Schweiger und alle Last auf mir!“

Paula macht eine Pause, um sich zu sammeln und durchzuschnaufen. Dann fragt sie: „Wie ging’s Jakob die zwei Tage mit dir?“
„Gut.“
„Gut? Gut! Natürlich! Habt ihr eure schönen Stunden verbracht, und jetzt bringst du ihn mir wieder, damit ich den Alltagsdreck erledige.“
Ich stehe in der Tür und fühle mich wehrlos gegenüber dem, was von Paula auf mich einprasselt.
Paula fährt fort: „Ich habe das Gefühl, er zieht sich allmählich genauso von mir zurück wie Lilly. Beide wollen sie zu ihren Vätern, aber die Väter sind nicht da, wenn man sie braucht.“
Ich mache einen unbeholfenen Versuch, Paula zu umarmen, den sie sofort abwehrt: „Geh! Geh einfach! Geh zurück in dein Schneckenhaus und lass mich in Ruhe!“

Ich blicke an Paula vorbei den Gang entlang in die Richtung von Jakobs Zimmertür und hoffe, dass er nochmal rauskommt, um sich von mir zu verabschieden. Aber er kommt nicht. Unsicher und halbherzig will ich mich umdrehen, um zu gehen.

Plötzlich sagt Paula, scheinbar gefasst und sehr bestimmt: „Ich bin so froh, dass ich sie abtreiben habe lassen! Noch ein Kind, für das nur ich zuständig gewesen wäre – das hätte ich nicht ausgehalten!“
Ich bleibe in halber Drehung stehen.
„Unsere Tochter! Sie wollte kommen. Ich habe es gespürt damals!“ sagt Paula. „Ich wollte sie, aber die Vernunft sagte mir, dass es nicht geht. Vielleicht war ich zu vernünftig, aber ich habe es getan. Und dir war doch sowieso alles egal.“
Zögerlich drehe ich mich wieder um zu ihr.
„Nein, nichts mehr! Geh jetzt! Geh!“ schreit sie mir ins Gesicht.

Ich gehe zur Straße. Auf dem Gehweg sinke ich zu Boden. Ich weine und sehe meine Tränen auf den trockenen Asphalt fallen. Das ungeborne Kind. Jakob! Paula! Helft mir doch!

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Lilith tanzt zwischen den Schafen auf der Spätsommerwiese. Ein Gefühl der Leichtigkeit liegt in der flirrenden Luft.

Das war vor einigen Wochen, als ich noch glaubte, dass der Sommer nie zu Ende geht. Nun ist er zu Ende gegangen. Ich ertappe mich dabei, dass ich – es fällt mir schwer, das zuzugeben – You’re beautiful von James Blunt höre. Bei diesem Hören denke ich an den Moment auf der Spätsommerwiese, und mich beschleicht ein sanfter Schmerz. Ich recherchiere über diesen Schmerz und stelle fest: Es ist ein „Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit“, den ich fühle, ein Schmerz, den Heinrich Heine als Weltschmerz bezeichnet, und von dem die Brüder Grimm sagen, er sei eine „tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt“.

You’re beautiful ist mein aktueller Soundtrack zum Weltschmerz. Die Handlung des Songs: Ein Mann sieht eine Frau in einer Menschenmenge und ist von ihrer Schönheit überwältigt. Sie ist in Begleitung eines anderen Mannes. Er verherrlicht den Moment der flüchtigen Begegnung mit ihr, stellt aber gleichzeitig fest, dass dieser Moment unwiederbringlich verloren ist und sie sich nie wieder nahe sein werden. James Blunts leidender Gesang lässt die unerfüllte Sehnsucht spüren. Vom Rolling Stones Musikmagazin wird You’re beautiful als einer der nervigsten Songs der Popgeschichte bezeichnet.  Gleichzeitig ist er ein Welterfolg. Ein nerviger Welterfolg. Ein Welterfolg wie der Weltschmerz.

Weltschmerz, ein naher Verwandter der Melancholie, fasziniert seit Jahrhunderten. Dürer hat einen Holzschnitt gemacht darüber, Cranach, Munch, Picasso und andere Bilder gemalt, Keller ein Gedicht geschrieben, Lars von Trier einen Film gedreht, Blunt ein Lied geschrieben. Der Weltschmerz lädt mich ein, sich in ihm einzunisten. Ich höre You’re beautiful und betäube mich. Ich trage den Schmerz dieser Welt. Ich bleibe hängen in ihm. Ich bin auf der Spätsommerwiese hängen geblieben. Ich klammere mich an diesen Moment auf der Spätsommerwiese, als hänge mein Leben an ihm, als gäbe es kein Leben mehr ohne ihn.

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Ich fühle mich armselig. Ich will raus aus dem Weltschmerz. Ich habe Durst. Wahnsinnigen Durst. Das habe ich vor lauter Weltschmerz gar nicht bemerkt. Ich trinke Wasser und spüre die Erleichterung. Ich atme und giere nach Luft. Ich will raus aus dem Weltschmerz und rein in die Welt. An die frische Luft, um nach ihr zu schnappen. Ich setze einen Schritt vor den anderen, und mit den Schritten kommen folgende Gedanken:

Mann und Frau treffen sich. Der Plot jeder guten Geschichte. Der Moment der Momente. Singt nicht James Blunt über diesen Moment der Momente? Über das Wahrhaftigste des Wahrhaftigen? Ja, das tut er! Schön! – Er bleibt aber hängen in diesem Moment. Er versinkt im Weltschmerz. Nervig! Ich weiß nicht, was ich tun soll, singt er. Nicht denken. Einfach leben und handeln. Idiot! will ich ihm zurufen. Oder rufe ich mir das selbst zu?

Ich wandle vorbei an Bäumen im Herbstgewand. Die tiefe Sonne versinkt hinter ihnen. In diesem geheimnisvollen Licht geht eine Frau den Weg entlang. Ihr Kopf steckt unter einer Kapuze. Trotzdem erkenne ich sie. Ich rufe und laufe zu ihr. Es ist Lilith, tatsächlich! Wir umarmen uns, blicken uns in die Augen, und meine Blicke sagen zu ihr: Du bist schön, Lilith, es ist wahr! So einfach ist das: Mann trifft Frau, und die Welt ist schön. Ein Gefühl der Leichtigkeit. Das ist jetzt die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, sagt der Weltschmerz, aber ich höre ihn nicht.

Geborgte Familie

Renate sagt mir, sie will die Scheidung. Es trifft mich sehr. Ich bin mit Renate seit dreißig Jahren verheiratet. Seit fünfundzwanzig Jahren habe ich eine Beziehung mit Sophie. Ich lebe mit Sophie zusammen und bin mit Renate verheiratet. Das kann man komisch finden. Das haben die verschiedensten Leute immer wieder gesagt, dass sie das komisch finden, und manchmal fand ich es selber komisch. Aber meistens fand ich es gut, und ich finde es auch jetzt noch gut. Ich finanziere Renates Leben, und nicht zu knapp. Sie hat das Haus. Sie hat einen teuren Wagen. Sie bekommt eine Menge Geld von mir, jeden Monat. Ich halte sie aus. Sie lässt sich aushalten. Eine stillschweigende Vereinbarung. Bis jetzt. Und jetzt sagt sie mir, in Anwesenheit unserer beiden Kinder, dass sie die Scheidung will. Die Kinder sind erwachsen. Aber sie sind immer unsere Kinder. Maximilian schaut apathisch ins Leere, während Katharinas Gesicht rot anläuft vor Zorn. Alle drei warten sie auf eine Reaktion von mir: Renate, meine Frau, Maximilian und Katharina, meine Kinder. Doch ich bin geschockt von Renates Ansage, dass sie die Scheidung will. Ich fühle mich vollkommen hilflos und schweige.

Ich bin ins Nachkriegsdeutschland geboren worden, mitten in die noch immer zerstörte Stadt. Ich wurde gezeugt in einem Drecksloch, von meiner Mutter und einem Mann, der später nie mein Vater sein wollte. Ich wuchs auf in einem Drecksloch, allein mit meiner Mutter, die sich nie mehr leisten konnte als dieses Drecksloch, und schließlich gab sie mich weg, weil sie sich auch mich nicht mehr leisten wollte. Ich bin ein verwahrlostes Kind der Stadt, das sich durchgekämpft hat. Ich lernte Renate kennen, und mit ihr eine ganz neue Welt. Renate ist auf dem Land aufgewachsen, am See bei den Bergen, mit sechs Geschwistern, mit Mutter und mit Vater. Ich war fasziniert von der Geborgenheit in dieser Familie, die ich nie hatte. Ich wollte das nicht mehr hergeben. Renate und ich heirateten, und bald kam Maximilian auf die Welt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er geboren wurde: Ich war bei Renate und dem kleinen Baby im Krankenhaus. Als ich aus dem Krankenhaus ging, war ich sehr betrübt. Ich fuhr nachhause, wo ich alleine war, und besoff mich hemmungslos. Irgendetwas gefiel mir nicht an meiner Vaterschaft. Ich wollte keine Familie. Renates Familie, das war schön. Aber eine eigene Familie? Ich stürzte mich in der Folgezeit in meine Arbeit. Ich kämpfte mich nach oben und verdiente gutes Geld. Geld ist gut. Geld ist Macht. Mit der Freude am Geld vergaß ich meine Zweifel über mein Vaterdasein. Drei Jahre später kam Katharina zur Welt. Am Tag ihrer Geburt saß ich mit dem dreijährigen Maximilian zuhause, und sie kamen wieder, die Zweifel, mit aller Macht. Es waren keine Zweifel, es waren klare Gedanken: Ich will keine Familie! Ich fuhr mit Renate und den Kindern zu ihrer Familie, immer wieder, immer öfter, um mich abzulenken. Renate fragte mich, wieso ich denn dauernd bei ihrer Familie abhängen will, wo wir doch mit den Kindern eine eigene Familie hätten. Zuhause aber hielt ich es immer weniger aus. Die geborgte Familie war mir lieber als die eigene.

Dann wurde Sophie meine Sekretärin. Es wurde leidenschaftlich. Ich kam abends nicht vom Büro nachhause. Renate nahm es stillschweigend hin, bis es irgendwann klar war, dass ich mit Sophie zusammen bin. Ich zog mit Sophie in eine gemeinsame Wohnung. Aber mit Renate war ich verheiratet. Und mit Renate bin ich verheiratet, und wenn Renate jetzt sagt, sie will die Scheidung, dann trifft mich das unvorbereitet, denn ich will die Scheidung nicht. Renate ist meine Familie, auch wenn ich nie etwas getan habe für diese Familie. Ich habe nur das Geld gegeben und geglaubt, damit die Macht darüber zu haben, dass Renate sich nie von mir scheiden lässt. Renate sagt, dass sie nun endlich ihr eigenes Leben möchte und dass sie es nicht mehr erträgt, die Frau eines Mannes zu sein, der nie für sie da ist, der sich nur ihre Familie von ihr geborgt hat, der ihr zwei Kinder angedreht hat, die er nie haben wollte.

Ich sehe das Erschrecken in Maximilians Gesicht, der selbst gerade, nach langem Hin und Her mit seiner Partnerin, Vater geworden ist. Ich sehe Katharinas Verbitterung und Zorn in ihrem roten Gesicht. Ihre Blicke wollen mich zum Teufel wünschen. Ich fange an zu weinen wie der kleine Junge im Drecksloch, verlassen von seinem Vater, verlassen von seiner Mutter und verlassen von der Welt.

Das Erbe

Zu viert stehen wir da. Ich neben meiner Mutter. Meine Schwester und mein Bruder uns gegenüber. Er ist nicht mehr da, mein Vater. Das unumstrittene Oberhaupt der Familie. Gestorben und begraben, vor wenigen Tagen. Ohne ihn schien es unvorstellbar. Und jetzt ist es nicht nur vorstellbar, sondern Realität.

Das Erbe schwebt zwischen uns. Das Erbe: Das sind zwei Häuser und eine ganze Menge Bares. Das zweite Haus, das bekommst du, mein Junge, hatte mein Vater mir kurz vor seinem Tod zugeflüstert.

Jetzt steht meine Mutter da und sagt: „Erben tu erst mal alles ich, damit das klar ist!“
Meine Mutter erstaunt mich. Ihre Existenz schien unvorstellbar ohne meinen Vater, und jetzt stellt sie sich hin und sagt: Erben tu erst mal alles ich! Spinnt die?

Es wäre schön, das zweite Haus zu erben. Große finanzielle Sicherheit, die ich meinen beiden Kindern und meiner Frau oder auch nur mir damit bieten könnte. Nein, das kann nicht das letzte Wort sein. Die spinnt doch! Wieso will sie alles erben?
„Wieso willst du alles erben?“ frage ich.
„Weil es mein Recht ist! – Da, schau!“
Meine Mutter schiebt mir einen Zettel unter die Nase. Es ist das Testament meines Vaters, mit dem er ihr sein ganzes Vermögen vererbt.
„Den hast du ihm am Krankenbett hingehalten, als er nicht mehr anders konnte!“
„Untersteh dich!“

Ich gehe hinüber zu meiner Schwester und meinem Bruder. Wie eine Dreierfront stehen wir meiner Mutter gegenüber. Doch die Front zerfällt sofort, als mein älterer Bruder sagt: „Ist schon gut Mutter. Du erbst alles. Ist schon gut!“
Eine Provokation mir gegenüber, denn es war ein offenes Geheimnis, dass ich das zweite Haus erben würde, ich, der jüngste von drei Geschwistern, aber der einzige mit eigenen Kindern. Meine Schwester steht zwischen meinem Bruder und mir. Ich glaube, sie weiß nicht recht, für wen von uns beiden sie Partei ergreifen soll. Ihren jüngeren Bruder, also mich, will sie beschützen. Vor ihrem älteren Bruder hat sie Respekt. So ist das also ohne meinen Vater: Ich stehe nicht mehr neben ihm als sein erklärtes Lieblingskind, sondern neben meinen Geschwistern.

Meine Mutter schaut zufrieden und sagt uns mit ihren Blicken: „Schaut her, ich kann auch ohne euren Vater! Ich bin ein eigener Mensch! Und das mir ja niemand glaubt, hier die Vaterrolle übernehmen zu müssen! Auch du nicht, mein Jüngster!“

Brav bleibe ich an der Seite meiner Schwester stehen. Stolz, eine starke Mutter und zwei ältere Geschwister zu haben. Die Fronten sind geklärt. Und das zweite Haus, das werde ich erben. Da bin ich mir jetzt ganz sicher.

Edelweiß für Österreich

US-Amerikaner haben eine sehr romantische Sicht auf Europa. Kein Wunder: Viele haben Vorfahren aus Europa. Sehr beliebt ist die Region mitten in Europa, die von den östlichen Alpen durchzogen und Österreich genannt wird. Die US-Amerikaner lieben Sound of Music, eine Geschichte über eine österreichische Musikantenfamilie. Sie glauben, dass das Lied Edelweiß daraus die Nationalhymne Österreichs ist.

Nun ist es aber bei weniger romantischer Sicht so, dass in dieser Region Österreich, wie in vielen anderen Regionen Europas auch, nicht nur musizierende weltoffene Bergleute anzutreffen sind, sondern viele nationalistisch Gesinnte, die unter sich bleiben wollen. Um sich gegenseitig zu erkennen (und nicht aus Versehen eigene Leute auszugrenzen), tragen diese nationalistisch Gesinnten eine Kornblume am Revers.

Die Furz- und Popelpartei Österreichs, kurz FPÖ, eine Versammlung nationalistisch Gesinnter, die manche lediglich als eine Ansammlung von machtgeilen Dummköpfen bezeichnen, trägt traditionell die Kornblume am Revers, um ihre nationalistische Gesinnung zu zeigen. Für die Furz- und Popelpartei, man glaubt es kaum, haben bei den letzten Parlamentswahlen in Österreich fast dreißig Prozent der Wähler gestimmt. Die Wahlanalyse hat ergeben, dass alle Leute in Österreich, die glauben, dass Österreich im letzten Weltkrieg lediglich Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands war, also Leute, die man guten Gewissens als Dummköpfe bezeichnen kann, die Furz- und Popelpartei gewählt haben. Dummköpfe und Dummköpfe haben sich gefunden.

Nun ist es jedoch neuerdings so, dass die Furz- und Popelpartei ihre nationalistische Gesinnung aufgeben will, sehr zur Enttäuschung ihrer Wähler. Deshalb tragen die Mitglieder ab sofort nicht mehr die Kornblume am Revers, sondern das Edelweiß. Das Edelweiß, das die US-Amerikaner, dieses weltoffene Volk mit ihrem noch weltoffeneren Präsidenten Trump, so liebgewonnen haben, weil es in Sound of Music so lieblich besungen wird.

Die Furz- und Popelpartei sagt, dass alle US-Amerikaner deutscher Abstammung, nein, das mit der deutschen Abstammung wurde korrigiert, dass also alle US-Amerikaner in Österreich jederzeit willkommen sind, aber am meisten würde es sie natürlich freuen, wenn der Präsident das schöne Alpenland mit seinen edelweißblühenden Berghängen bald besuchen würde.

Edelweiß – statt Kornblume

Edelweiß – Nationalhymne Österreichs

Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit existierenden Parteien sind rein zufällig.

 

Birke bei den Brücken

eine Bildergeschichte

Birken wachsen gern in Gruppen. Meist unter sich, aber auch gemeinsam mit anderen Bäumen.

Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Vielleicht glaube ich es auch nur. Jedenfalls ist es für mich eine Wahrheit.

Umso mehr erstaunt es mich, als ich die einsame Birke entdecke: Ich gehe, wie so oft, den Bach entlang, unter den Autobrücken hindurch, und da nehme ich sie plötzlich wahr, wie sie zwischen den Brücken steht: die einsame Birke. Als hätte sie gerade jemand hingepflanzt. Jedenfalls kommt sie neu in meine Welt und erschüttert meine Wahrheit über Birken als Gruppengewächse.

Mit grenzenlosem Erstaunen schaue ich zur Birke hoch. Ist das wirklich wahr, diese birkige Einsamkeit? Ich brauche Abstand, um das zu prüfen. Vielleicht täuschen mich ja meine Augen, hier unter den Brücken.

Ich gehe auf die andere Seite des Bachs. Ich betrachte die Birke von der gegenüberliegenden Seite, oberhalb der Brücken, wo ihre Einsamkeit nicht so einsam wirkt und die Brücken nicht so brückig.

Doch dieser Blick stellt mich nicht zufrieden. Ich weiß, dass er nicht der Wahrheit entspricht, hinter der ich her bin. Ich will der Birke wieder näher kommen. Autos rauschen über die Brücken an ihr vorbei. Ich warte einen verkehrsfreien Moment ab, überquere die Fahrbahn, um mich der Welt der einsamen Birke wieder zu nähern.

Mein neuer Anblick ist nur eine Momentaufnahme, denn es treibt mich weiter. Ich krieche an den Brücken hinunter ans Ufer des Bachs. Dort schleiche ich herum und weiß nicht recht, wie mir geschieht.

Dunkel ist es unter den Brücken, obwohl die Sonne scheint. Ich bekomme Angst und kauere mich auf den Betonsockel am Ufer. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zur einsamen Birke gegenüber. Ich bezweifle nicht mehr ihre Existenz. Ich erkenne mich selbst in ihr. Ich spüre meine Angst vor dem Isoliertsein, vor dem Getrenntsein, vor dem Nichtverbundensein.

Doch statt in eine Angststarre zu verfallen, gehe ich zum mutigen Angriff über. Ich springe in den Bach und schwimme zur Birke hinüber. Ich hätte oben über eine der Brücken zu ihr gehen können, aber das hätte viel zu lang gedauert und den rollenden Autoverkehr auf den Brücken nur unnötig in unsere Beziehung involviert. Außerdem hätte das meiner Gefühlslage nicht entsprochen. Denn ich kann mich unmöglich von der Birke wieder entfernen, keinen Zentimeter, so hingezogen fühle ich mich zu ihr. Ist es Liebe?

Durchnässt steige ich am anderen Ufer aus dem Bach, gehe zur Birke und umarme ihren Stamm. Bang frage ich sie: Birke, wie hältst du das aus, immer so alleine zwischen den Brücken?

Ich bin nicht alleine, sagt die Birke: Der Bach fließt an mir vorbei. Als ich klein war, war es sehr windstill und dunkel unter den Brücken, und er mein einziger Begleiter. Er sagte zu mir: Schau nach oben – der Himmel ist über dir. Durch ihn ist alles mit allem verbunden. Ich wuchs dem Himmel entgegen, über die Brücken empor. Seit ich größer bin, spüre ich den Wind. Manchmal kommt er von meinen Geschwistern, die etwas weiter nördlich stehen, und sie grüßen mich. Manchmal geht er von mir zu ihnen, und ich grüße zurück. Und manchmal bringt er mir etwas ganz Neues, der Wind. So ist jeder Tag ein Erlebnis, hier bei den Brücken.

Welt Wer Worte