Sie stritten heftig
an diesem Abend
Es war nicht schön anzuschauen
Es war sozusagen
das Abendgrauen
Der Himmel so schwarz
Die Wolken die grauen
Sie stritten die Nacht
Sie wollten sich hauen
Mir graute davor
den Morgen zu schauen
Das nennt man wohl
Das Morgengrauen
S7 Kreuzstraße (Es fährt ein Zug nach Nirgendwo)
Dieser alte Schlager hat einen verheißungsvollen Titel: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.
Ich habe mir Nirgendwo immer als einen schönen Ort vorgestellt, als einen Ort, an den man sich zurückziehen kann, um sich zu finden und dann gestärkt wieder von Nirgendwo nach Irgendwo zurückzukehren. Doch der Schlager enttäuscht mich textlich: Der will gar nicht nach Nirgendwo. Der singt davon, dass er nach Nirgendwo fährt, aber da gar nicht hin will.
Ich jedenfalls will nach Nirgendwo. Ich setze mich in Giesing in den Zug, bereit, ihn bis zu seiner Endhaltestelle in Nirgendwo nicht zu verlassen. Zunächst rauscht die Stadt vorbei, Nirgendwo ist noch ganz weit weg. Die Vorstadt, also die Gegend der verschluckten, ehemaligen Dörfer: Das alte Bahnhofsgebäude von Perlach steht unbenützt und einsam und scheint verloren in seiner städtischen Umgebung, und in Neuperlach-Süd glaube ich eher an eine Reise in eine utopische Urbanität statt nach Nirgendwo. Auch beim Verlassen des Stadtgebiets bleibt alles beim Alten: Neubiberg, Ottobrunn, Hohenbrunn, Höhenkirchen, Siegertsbrunn – alles dichtbesiedelte Kleinstädte, deren Nähe zur großen Stadt München spürbar ist. Aber dann: Es wird sehr ländlich. Die Haltestellen tragen so sperrige Namen wie Dürrnhaar oder Peiß, dazwischen Aying als Metropole der Ländlichkeit. Nirgendwo kann nicht mehr weit sein! Ist es auch nicht.
Nirgendwo trägt den Namen Kreuzstraße und ist eine Ansammlung einiger Häuser. Der Zug hält abseits dieser Häuser, in einer bewaldeten Geländevertiefung namens Teufelsgraben.
Ich gehe nicht nach Kreuzstraße, sondern überquere die Gleise und verlasse den Teufelsgraben in die andere Richtung. Nach ein paar Minuten komme ich aus dem Wald auf freie Wiesen. Stille. Ich kann die Erde atmen hören und die Sterne beim Herabblicken sehen. Ich spüre mich, vom Kopf bis zu den Füßen. Ich spüre mein Sein. Ich spüre mich leben in diesem flirrenden Universum. Ich bin wieder bereit für Irgendwo nach dieser kurzen Auszeit in Nirgendwo. Danke Kreuzstraße, danke, dass es dich gibt!
Bilder aus Nirgendwo
Vorderbrandner wird Vater und schreibt über François Truffaut
Vorderbrandner wird Vater, und das, sagt er, überwältigt ihn dermaßen, dass er nichts darüber schreiben kann. Deshalb, sagt er, sei er froh, dass er heute, am 21. Februar, etwas über François Truffaut schreiben kann. François Truffaut ist an einem 6. Februar geboren und an einem 21. Oktober gestorben. Der 21. Februar eignet sich also hervorragend, um über ihn zu schreiben. Der 6. Oktober genauso, sagt Vorderbrandner, und vielleicht werde er auch am 6. Oktober etwas über François Truffaut schreiben, aber das werde er erst entscheiden, nachdem er am 21. Februar etwas über François Truffaut geschrieben hat.
Nun könnte man schreiben, sagt Vorderbrandner, dass François Truffaut an diesem Donnerstag, dem 21. Februar 2019, 87 Jahre, zwei Wochen und einen Tag alt geworden wäre. Das könnte man. Als François Truffaut starb, sagt Vorderbrandner, war er sieben Jahre alt, also ich, sagt Vorderbrandner, nicht François Truffaut. Am 21. Oktober 1984, einem Sonntag, sagt Vorderbrandner, kletterte ich auf einen Apfelbaum im Chiemgau. Als ich ziemlich weit oben war, schaute ich nach unten und bekam Angst. Ich klammerte mich fest an den Stamm. Ich war wie erstarrt, aus Angst, hinunterzufallen. Sein Vater, sagt Vorderbrandner, sah ihn, seinen Sohn, auf dem Apfelbaum, und kam langsam und zögernd näher. Er stand unten am Stamm, und die Blicke von Sohn und Vater trafen sich, der ängstliche Blick des Sohns nach unten und der ängstliche Blick des Vaters nach oben. Dann kletterte sein Vater nach oben zu ihm, und als er ihn erreicht hatte, kletterten sie gemeinsam, mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen wieder nach unten. Ich atmete erleichtert auf, als meine Füße den Erdboden berührten, sagt Vorderbrandner, und es interessierte mich einen Scheißdreck, dass an diesem Tag François Truffaut in Neuilly-sur-Seine starb, genauso wenig wie es mich heute interessiert, Filme von François Truffaut zu analysieren, ich will sie einfach nur sehen, und manchmal will ich nicht einmal das, manchmal ist es mir sogar schon passiert, dass ich wütend auf die Fernbedienung gedrückt habe, um das Sehen eines Truffaut-Films abrupt abzubrechen, weil mich dieses Sehen so wütend gemacht hat, dass ich diese Wut nicht mehr ertragen wollte. Warum er so wütend geworden sei, beim Sehen eines Truffaut-Films? frage ich Vorderbrandner. Das wisse er nicht, sagt er, genauso wenig wie er wisse, warum ihn seine Gefühle so dermaßen überwältigen, jetzt, wo er wisse, dass er Vater wird. Vielleicht wäre das das Thema dieses Aufsatzes: Meine Wut auf François Truffaut. Es sei aber nicht nur Wut, sagt Vorderbrandner, die ihn überkomme, wenn er an François Truffaut denkt, es sei auch Trauer, eine intensive Wut und Trauer, die zeigten, wie sehr ihn die Filme von François Truffaut berührten.
Ich weiß nichts von François Truffaut, sagt Vorderbrandner, ich weiß nur, dass ich mich ängstlich an den Stamm des Apfelbaums krallte, als er starb. Ich fühlte mich oft allein als Kind, ich fühlte mich verloren, und das, obwohl ich eine liebevolle Mutter, einen liebenswürdigen Vater und sorgende Großeltern hatte, und eine ältere Schwester, die ihren kleinen Bruder liebte. Aber auch sie waren so verloren, so allein. Jeder war für sich allein. Da konnte keiner eine Verbindung zum anderen herstellen, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Vielleicht habe ich deswegen später die Filme von François Truffaut entdeckt, weil in ihnen die Protagonisten oft so allein, so verloren sind. Weil sie nicht geliebt werden. Ja, jetzt fällt es mir ein, weil sie nicht geliebt werden, das ist es, oder, um noch grausamer zu sein oder einfach nur, um zum Kern der Sache vorzudringen: weil sie nicht geliebt werden wollen. Weil sie vor der Liebe davonlaufen. Das macht mich so wütend und so traurig beim Sehen eines Truffaut-Films: das Davonlaufen vor der Liebe. Weil ich es selbst so gut kenne. Und jetzt weiß ich, was mich dermaßen überwältigt an der Tatsache, dass ich Vater werde: Ich habe Angst, dass es bei meinem eigenen Kind weitergeht, dieses Davonlaufen vor der Liebe, dass ich mein Kind nicht lieben kann, wie es verdient, geliebt zu werden.
Liebeserklärung an François Truffaut
Valentinstag (ist vorbei)
Ich wusste, es war Valentinstag, aber ich hatte keine Lust auf rote Rosen, wahrscheinlich, weil ich sie niemandem schenken wollte. Ich wollte ins Musäum des Karl Valentin gehen, was ich dann aber auch nicht tat, denn am Valentinstag ins Valentin-Musäum gehen fand ich doof, fantasie- und humorlos, sodass ich nicht ins Valentin-Musäum ging. Stattdessen hörte ich das Lied Valentinstag ist vorbei, was mir passend erschien, denn wieso sollte ich mich genau am Valentinstag mit dem Valentinstag beschäftigen? Ich hörte zehn Mal das Lied Valentinstag ist vorbei, vielleicht sogar elf Mal, ich begann zu hören um 18:45 Uhr und hörte auf zu hören um 19:29 Uhr, also müsste ich das Lied zwölf Mal gehört haben, ich glaube aber, ich habe es nur elf Mal gehört, weil ich zwischen dem Hören in die Küche gegangen war, um ein Glas Wasser zu trinken, wo ich aus dem Fenster sah und eine Amsel vor jenigem sitzen sah und sie eine zeitlang betrachtete, also kann ich, bei eingehender Betrachung nicht nur der Amsel, sondern der Gesamtsituation im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt, das Lied nur elf Mal und nicht zwölf Mal gehört haben, vielleicht habe ich es sogar nur zehn Mal gehört, je nachdem, wie lange ich die Amsel vor dem Fenster betrachtet habe, was ich mir jedoch nicht notiert, geschweige denn gemerkt habe.
Um 19:29 Uhr machte ich jedenfalls einen Schnitt und hörte auf, das Lied Valentinstag ist vorbei zu hören, und dann, nachdem ich zu hören aufgehört hatte und Stille im Raum war, kam mir die Idee, etwas über Leute zu schreiben, die 1929 geboren sind und überlegte, welche Leute ich kenne, die 1929 geboren sind, und mir fielen keine solchen Leute ein. Es könnte sein, dass ich solche Leute mal gekannt habe, dass sie aber mittlerweile gestorben sind, ja, das ist eine sehr wahrscheinliche Tatsache, und Tote, kennt man die noch, oder sind sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Kenntnis entschwunden?
Mitten in diese Überlegungen hinein erinnerte ich mich, dass einst – damals zu meiner völligen Überraschung – Milan Kundera und Max von Sydow durch den Ort im Alpenvorland spazierten, in dem ich aufgewachsen bin. Es war noch Winter, als ich sie dahinspazieren sah am Fluss, aber der Frühling schien nahe, und Max sagte zu Milan: „Es ist schön hier, am Fluss mit dem Blick auf die Berge, im Licht der stärker werdenden Sonne. Da will ich gar nicht an den Tod denken, obwohl ich schon Schach mit ihm spielte.“ „Ja“, sagte Milan daraufhin, „der Spaziergang hier am Fluss entlang lässt mich die Schwere vergessen, die das Leben haben kann, und ich will dieses Gefühl Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nennen.“ Milan Kundera und Max von Sydow sind 1929 geboren, also kenne ich zumindest zwei Menschen, die 1929 geboren sind, und nicht irgendwelche Menschen, sondern Milan Kundera und Max von Sydow! Mehr Worte will ich über diese Begegnung gar nicht verlieren, denn es ist nicht originell, über Personen zu schreiben in dem Jahr, in dem sie neunzig Jahre alt werden, genauso wie es nicht originell ist, am Valentinstag über Karl Valentin oder rote Rosen zu schreiben.
Ich lief damals aufgeregt nachhause, um meinen Eltern von meiner Begegnung mit Milan Kundera und Max von Sydow zu erzählen, denn es war eine wichtige Begegnung für mich, weil ich nach dieser Begegnung beschloss, entweder Schriftsteller oder Schauspieler oder beides zu werden. Als ich nachhause kam, stand mein Vater mit roten Rosen vor meiner Mutter. Meine Mutter kokettierte damit, sie entgegenzunehmen und sagte zu meinem Vater: „Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Wer war denn das?“ „Das war meine ehemalige Zukünftige“, sagte mein Vater, und ich glaube, diese Worte hatte ihm der Valentin in den Mund gelegt.
Valentinstag ist vorbei (10x hören oder öfter) Milan Kundera Max von Sydow
Professor Bernd Dachluke, die Rage, die Rasche und die Frankophilie
Professor Dr. Bernd Dachluke, nach dem die heute bei Dachausbauten so beliebte Dachluke benannt ist, war zu seinen Lebzeiten ein bedeutender Architekt. Außerdem war er ein Förderer der deutschen Kultur und der deutschen Sprache.
In den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, war Professor Dachlukes Frau Beatrix hochschwanger. Er dozierte gerade an der Universität und hielt einen Vortrag über das Hochhausprojekt, an dem er arbeitete. Er sagte, das geplante Hochhaus werde eine Rage von über hundert Metern haben. Da unterbrach ihn ein Student und stellte ihm zwei Fragen:
„Herr Professor: Haben Hochhäuser Emotionen, sodass sie in Rage kommen können? Wenn ja, kann man diese Emotionen tatsächlich in Metern ausdrücken, wie in ihrem Fall, eine Rage von über hundert Metern?“
„Ich spreche nicht von der Rage, Sie frankophiler Mensch! Die schreibt man zwar gleich, spricht sie aber anders aus“, antwortete der Professor, „nein, ich spreche vom architektonischen Begriff Rage, mit der das Hochhaus von der Erde in den Himmel ragen wird. Es wird der überragende Baukörper in dieser Stadt werden! Ach, was sage ich in dieser Stadt: in diesem Gau, in diesem Land!“
In diesem Moment betrat eine Sekretärin den Vortragssaal und bedeutete dem Professor mit ihren Blicken, dass er sofort kommen solle. Professor Dachluke wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, und es platzte aus ihm heraus: „Oh, zu meiner Beatrix kommt der Storch! Ich bin in Rasche!“
Da meldete sich der Student von eben wieder und sagte: „Herr Professor, ich bin verwirrt: Zuerst das emotionale Hochhaus, dem Sie seine Rage nicht zugestehen – und nun sind Sie selbst in Rage.“
Ach, hören Sie auf mit Ihren Wortklaubereien, junger Mann. Sie sind wohl ein Franzose, dem man das Deutschsein noch beibringen muss. Ich bin in Rasche! Es eilt! Ich muss sofort ins Krankenhaus!“ Und mit diesen Worten stürmte Professor Dachluke aus dem Saal.
Auf dem Weg ins Krankenhaus dachte er:
Also – wenn meine Frau Beatrix dieses Kind auf die Welt bringt, wird es sehr deutsch erzogen! Denn die deutsche Kultur muss gepflegt werden! Das habe ich gerade an meinen Studenten festgestellt, die zu stark den frankophilen Einflüssen unterliegen. Das soll bei meinem Kind nicht passieren!
Wie ich diese deutsche Erziehung am besten bewerkstellige, das werde ich mir in aller Ruhe beim Angeln überlegen: Petri Heil!
Künstlerische Reaktion auf Bernd Dachlukes Hochhaus, das tatsächlich gebaut wurde:
Licht im Winter
Licht im Winter heißt ein Film von Ingmar Bergman, den ich mir immer wieder ansehe. Er ist großartig gemacht und gespielt und erinnert mich auf fatale und komische Weise an meine Kindheit (siehe das Kind in den ersten zwölf Minuten des Films). Es geht im Film um einen Pastor in der Sinnkrise. Gott schweigt, sagt er. Doch nicht Gott schweigt, sondern die Menschen schweigen. Winter in der mittelschwedischen Provinz, alles ist voller Eis und Schnee. Auch die Herzen der Menschen. Sie sind unfähig, miteinander in Beziehung zu kommen, miteinander zu kommunizieren.
Der Winter ist die Zeit des Rückzugs. Alles Lebende verkriecht sich, um zu ruhen. Bis zum zweiten Februar, dem Tag, der Lichtmess genannt wird. Das bäuerliche Jahr beginnt. Die Tage sind schon spürbar lichter als an Weihnachten, eine Ahnung vom Frühjahr kommt auf. Langsam erwacht die Natur.
Zwei Minuten vor Ende des Films Licht im Winter sinkt Märta Lundberg in die Knie, senkt den Kopf, und wir hören ihre Gedanken:
Wenn wir uns nur sicher fühlen könnten und uns getrauten, zueinander zärtlich zu sein! Wenn wir nur eine Wahrheit hätten, an die wir glaubten! Wenn wir nur glauben könnten!
Dann schwenkt die Kamera zum Pastor, der den Kopf ebenfalls gesenkt hält. Er scheint überrascht von der Botschaft und erwacht aus seiner Lethargie. Kurz darauf wird Märtas Gesicht in strahlendes Licht getaucht. Da ist es, das Licht. Das Licht nach einem langen Winter!
Im schwedischen Original heißt der Film Nattvardsgästerna, was soviel bedeutet wie Die Kommunikanten. Auf ihr Kommunikanten, auf ins Licht, nach dem langen Winter! Öffnet eure Herzen und kommuniziert!
Kronendorne
Ich rede zu viel von meinem Gefängnis, sagt Vorderbrandner, so werde ich ihm nie entkommen. Ich halte mich an ihm fest. Der Kopf will Neues, das Herz hält an Altem fest, auch wenn es daran zugrunde geht. Ich sehe die Gefängnisse anderer, weil ich selbst in einem bin. Nur weil ich selbst in einem bin. Nur wer im Gefängnis ist, sehnt sich danach, frei zu sein. Wer nicht im Gefängnis ist, weiß gar nicht, dass er frei ist. Er ist einfach frei, ohne es zu wissen. Warum sollte er es wissen wollen? Warum sollte er es wissen müssen?
Das Fatale: Ein gefangener Mann wie ich, sagt Vorderbrandner, verliebt sich nur in gefangene Frauen. Die Gefangenheit zieht mich magisch an, sagt Vorderbrandner. Je unfreier die Frau, desto mehr verfalle ich ihr. Je mehr bürgerliche Verklemmtheiten ich an ihr beobachte, desto mehr begehre ich sie. Desto mehr muss ich sie haben. Desto mehr träume ich von den lustvollen Gärten hinter diesen Verklemmtheiten. Aber diese Gärten sind zu fern, als dass ich sie jemals erreichen könnte. Weil ich sie nicht erreichen will. Weil ich mich in meinen eigenen Gärten verstecke und dabei verrückt werde bei meinem Kreisen um mich selbst.
Ich setze meine Kronendorne auf und höre ein Lied in meinem verklemmten Gefängnisgarten, als Ausdruck meiner unerfüllten Sehnsucht, als Ausdruck der Verklemmung, dem Gefängnis. Dieses Lied trägt meine Mischung aus Trauer, Zorn und Lust. Wenn ein Bild mehr aus tausend Worte sagt, sagt ein Lied mehr als zehntausend Worte:
Kronendorne Oh oh Oh oh Oh oh Oh oh Du gehst mir durch Mark und Bein Du gehst mir durch Mark und Bein Du glaubst du bist ein Gemüse Kommst niemals aus deinem Kühlschrank Uuuh G-G-G-Gurke K-K-K-Kraut B-B-B-Blumenkohl Menschen auf dem Mars Aprilregen Oh oh Oh oh Du bist eine sterbende Rasse Du bist eine sterbende Rasse Einst warst du ein Inka Jetzt bist du ein Cherokee Uuuh G-G-G-Gurke K-K-K-Kraut B-B-B-Blumenkohl Menschen auf dem Mars Aprilregen Schlag zu! Schlag zu! Au Huh Au Huh Au Huh Au Huh Wart auf mich am blauen Horizont Blauer Horizont für jeden Warte auf mich an einem neuen Horizont Neue Horizonte für jeden Einmal will ich eins mit dir sein Einmal will ich eins mit dir sein uh uh uh uh uh A-ah A-ah A-ah A-ah Ich hab entschieden, meine Kronendorne zu tragen Ich hab entschieden, meine Kronendorne zu tragen Innen außen zurück nach vor oben unten einmal rundherum herum herum herum Ich hab entschieden, meine Kronendorne zu tragen Ich hab entschieden, meine Kronendorne zu tragen Oben unten innen außen zurück nach vor einmal rundherum Nach unten nach unten nach unten nach unten Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten Huuuhh
Dann nehme ich meine Kronendorne wieder ab. Ich kehre zu mir zurück, sagt Vorderbrandner, und mache mich daran, meine Freiheit zu erobern, abseits der verklemmten Schönheit. Schluss mit der fatalen Schwärmerei! Raus aus dem Gefängnisgarten! ICH BIN FREI, ALLES IST MÖGLICH!
Reiner Felix und die Erfindung des Referats
Es war einmal ein Mann, der hieß Reiner Felix. Sein älterer Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nannten, nannte Reiner Felix Refe. Reiner und Heiner Felix hatten noch einen jüngeren Bruder namens Kleiner Felix, aber das nur nebenbei.
Reiner Felix stand oft an der Straße. Es war wie ein Hobby für ihn. Als er eines Tages wieder an der Straße stand, kam jemand vorbei und sagte: Ich möchte über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du über die Straße! Kurz darauf kam jemand anderer vorbei und sagte: Ich möchte nicht über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du nicht über die Straße! Reiner Felix hatte Spaß daran, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es gewöhnte es sich an, allen, die vorbeikamen, einen Rat zu geben.
Es kam auch der Lehrer vorbei, den alle Quälix nannten. Lehrer Quälix sah, wie Reiner Felix allen, die vorbeikamen, einen Rat gab. Toll, dachte sich Lehrer Quälix, wie der allen einen Rat gibt! Er ging zu Reiner Felix und fragte ihn, was für einen Rat er denn den meisten Leute gebe.
Den meisten sage ich, dass sie über die Straße gehen sollen oder dass sie nicht über die Straße gehen sollen, sagte Reiner Felix.
Toll! sagte Lehrer Quälix und meinte weiter: Könnten Sie mit mir in die Schule kommen und den Rat auch meinen Schülern geben?
Irritiert ging Reiner Felix mit Lehrer Quälix in die Schule. Dort stellte sich Lehrer Quälix vor die Klasse und sagte: Dieser Mann wird uns nun etwas sagen über das Überdiestraßegehen. Ach, guter Mann, wie heißen sie eigentlich? wandte er sich an Reiner Felix.
Reiner Felix, aber mein Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nennen, nennt mich Refe.
Die Schüler lachten.
Lehrer Quälix unterband das Lachen, indem er laut zu Reiner Felix sagte: Gut, Refe, leg los!
Reiner Felix räusperte sich kurz, dann stieg er in seinen Vortrag ein:
Über das Überdiestraßegehen
Beim Überdiestraßegehen gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder man geht über die Straße oder man geht nicht über die Straße. Man kann jedoch auch sowohl über die Straße gehen als auch nicht über die Straße gehen, indem man zunächst über die Straße geht, dann jedoch, wenn man auf der anderen Seite der Straße angelangt ist, nicht mehr über die Straße geht.
Danke Reiner Felix, danke Refe, danke! sagte Lehrer Quälix und applaudierte. Dann wandte er sich an die Schüler: Liebe Schüler, dieser Vortrag von Reiner Felix soll ein Vorbild für euch sein. Den Rat, den er uns darin gibt, will ich künftig auch in euren Vorträgen sehen!
Die Schüler hatten sich lediglich gemerkt, dass Reiner Felix von seinem Bruder Heiner Refe genannt wird, und nannten fortan die Vorträge, die sie bei Lehrer Quälix halten mussten Referat, also Rat nach Reiner Felix.
…Meine Zeit mit Liliane
Ich habe Liliane seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Laut Wikipedia tut sie es: Liliane Kampermann ist eine deutsche Künstlerin, die in München sowie weltweit lebt und arbeitet. Vor diesen Jahren, in denen wir uns nun nicht mehr gesehen haben, haben wir uns jahrelang in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gesehen. Ich versuche, meine Begegnungen mit Liliane über die Zeiträume zu strukturieren, aber es gelingt mir nicht. Denn wenn wir uns trafen, schien die Zeit keine Rolle zu spielen. Sie verging einfach, ohne dass wir es merkten. Wir waren eingebettet in das, was nie war und was nie sein wird, sondern einfach ist: in die Gegenwart.
Ich habe als Kind Nacktheit als etwas Verbotenes erlebt, das mit starker Scham belegt ist. Das hat dazu geführt, dass ich mich bevorzugt in Frauen verliebe, die sich nackt zeigen. Ohne jede Kleidung. Ohne jeden Schmuck. Ein nackter Frauenleib ist für mich die Offenbarung des Glücks, der Zugang ins verbotene Paradies. Liliane und ich waren nackt, als wir uns das erste Mal sahen. Und sie zeigte sich: Sie stieg vor meinen Augen nackt ins warme Wasser, lud mich mit ihren Blicken ein, ihr zu folgen. Das Paradies öffnete seine Türen. Als unser nackter Abend endete, schloss sich das Paradies. Wir zogen uns an. Aber mich zog es hin in dieses Paradies, das fortan Liliane hieß. Wir trafen uns zu unseren zeitlosen Treffen, wir redeten und redeten, im Nachhinein glaube ich, Liliane redete mehr als ich, während ich sie betrachtete: ihren Mund, wenn sie redete; ihre Augen, wenn sie schaute. Bei diesen Anblicken träumte ich vom Paradies, das sich als kuscheliges Liebesnest mit uns beiden darin darstellte.
Es ist ein sehr warmer Frühlingstag im März. Die Sonne scheint schon ungewöhnlich stark durch die noch blattlosen Äste der Bäume. Liliane und ich sind im Paradies. Wir streunen über die Wiesen, auf der die Frühlingsblumen blühen. Ein Pärchen springt bereits voller Übermut ins kalte Wasser. Ich sehe Liliane und mich in diesem Pärchen und träume schon wieder vom Paradies. Wir setzen uns ins Gras und reden. Sind wir, oder belehren wir uns? Bin ich, oder beobachte ich sie? Die Worte, die wir reden, bauen sich auf wie eine Blockade. Die Worte werden viel zu viele, und ich lege mich hin, um ihnen zu entfliehen, aber auch als ich liege, fällt mir nichts anderes ein als Worte, Worte, Worte, und ich sehe Liliane und denke mir: Sie ist schön, schön, schön, und ich denke: Gibt es eigentlich einen idealen Zeitpunkt, um sich zu küssen? Oder passiert das einfach im Paradies? Ich ringe um das Paradies in meinem Kopf und sage: Ich sehe Frauen als viel zu hohe Wesen. Ich kann kein normales Verhältnis zu ihnen aufbauen. Durch dich, Liliane, lerne ich, dass ich, um mit einer Frau zu sein, ein Mann sein muss. Noch während diese Worte meinen Mund verlassen, fühlen sie sich komisch an, schal, unwahr, bauen sich auf wie eine trennende Wand zwischen uns, und mir fallen alle unsere Gespräche ein, deren Worte sich wie ein Schleier über Nachmittage und Nächte legen, den wir nicht zu durchdringen vermögen. Ich ringe weiter um das Paradies, aber mit Worten, das ist die Illusion, der ich erliege, dass ich mit Worten das Paradies herbeireden kann, ohne etwas dafür zu tun, und ich sage also: Liliane – ich will ehrlich sein zu mir, ich will ehrlich sein zu dir, deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich spüren will, dass ich dich küssen und berühren will. Für einen Moment sehe ich, wie sich Lilianes Lippen öffnen, so als will sie mir sagen: Dann tu es doch! Doch dann sehe ich in ihren Augen all die Worte unserer Gespräche, die uns trennen. Ich sehe in ihnen die Trauer über Oleg, den Zorn über ihren Vater, die Bitterkeit über die Männer. Ich sehe, dass sie das alles voll in Beschlag nimmt und verhindert, dass wir uns nahe kommen. Kein Platz für mich in Lilianes Welt. Oder haben wir uns für einen kurzen Moment gefunden, um uns gegenseitig unsere Trauer zu zeigen darüber, wo wir herkommen? Sind wir jetzt soweit, hinzuschauen? Sind wir jetzt am Grund des tiefen Sees, wo sich die Wahrheit ruhig verrät?
Liliane stand auf und lief davon. Ich blieb im Gras liegen und schaute zum Himmel. Ja, ich mag die Natur, weil sie keine Meinung hat. Sie ist einfach. Jahre vergehen, so wie die mit Liliane. Eines bleibt: die Gegenwart. Und mit ihr die Chance, frei zu sein. Denn der verdient sich seine Freiheit, der täglich sie erobern muss. Ich ziehe mich aus und springe in das kalte und klare Wasser.
…Untermann…
Die Nächte voll quälender Unruhe. Jede Nacht der Fall ins Bodenlose. Oleg surft davon auf dem wilden Wasser, während ich in die schwarzen Fluten des Atlantiks stürze. Schweißgebadetes Aufwachen vor dem vermeintlichen Ertrinken.
Ich hatte mich aufgerappelt, aber ich stand in der Ecke wie ein Mauerblümchen. Völlig geschafft von diesen geträumten nächtlichen Abstürzen. Ich war kurz davor zu gehen. Da spürte ich die bewundernden Blicke von Jannick auf mir. Kokett blickte ich zu ihm auf. Wie schön, bewundert zu werden! Er näherte sich mir. Nein, komm mir nicht nahe! Nein, lass mich in Ruhe! – Doch! Komm her! Komm her! Ich lächelte ihn an. Er kam zu mir, ganz nah zu mir. Er gefiel mir. Mein Gott, er war jung! Noch keine zwanzig, oder gerade mal so. Jannick redete, aber ich nahm das nur undeutlich wahr. Ich wollte nur, dass er mich erlöst. Ja, Jannick, sei mein Erlöser!
Als er mich am nächsten Morgen verließ, war sein Rücken voller Kratzer, so fest hatte ich mich an ihn gekrallt. Ich hielt mich fest an ihm. Ja, durch Jannick würde dieses Fallen ins Bodenlose aufhören, dieses allnächtliche Ertrinken im Strudel meiner Gefühle. Wir trafen uns wieder und wieder und wieder. Jannick wurde mein neuer Oleg. Nein, Jannick ist nicht mein neuer Oleg! Bei Oleg taumelte ich. Bei Jannick stehe ich fest. Bei Jannick habe ich die Kontrolle. Ich habe die Reife. Ich habe das Geld. Ich habe die Macht. Er hat den Schwanz, über den ich herrsche.
Aber da ist die Geschichte mit Emil. Emil spricht von seiner Übermutter und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich kann mit dem, was er sagt, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redet ganz normal mit mir, die ganzen Jahre, die wir uns mittlerweile schon kennen. Er verwirrt mich. Ich fühle mich bedroht. Er ist nämlich ein Mann. Ein gefährlicher Mann!
Mit Emil, das hat so angefangen: Ich fühlte mich sehr entspannt an jenem Abend. Ich war in die Sauna gegangen. Da saßen wir auf unseren Handtüchern und schwitzten, nur er und ich in der Kabine, und lächelten uns an. In der Dusche, im Ruheraum, im Gang: Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Schließlich stieg ich wie eine Meerjungfrau vor ihm ins Warmwasserbecken und räkelte mich darin. Er kam zu mir, und ich sprach ihn an.
Künstlerin? fragte er.
Ja! sagte ich.
Künstler sind verlorene Seelen, sagte er. Wir sind zwei verlorene Seelen, die im Wasser schweben.
Wir zwei schwebten im Wasser. Freiheit! Er sagte, er werde nun ins Dampfbad gehen, und ich sagte: Ich auch! Im Dampfbad räkelte ich mich auf den Fliesen. Als ich das Dampfbad verlies, wurde mir klar, dass ich rausmuss aus dieser Nummer. Er aber passte mich in der Umkleide ab und fragte, ob wir nicht noch gemeinsam ins Café gehen nebenan. Ich zierte mich. Wir schlenderten vor die Tür. Er reizte mich. Mit seiner gelassenen Beharrlichkeit. Schließlich willigte ich ein. Ich kann mir diese Einwilligung nur so erklären: Wir waren jetzt angezogen. Die Nummer war nicht mehr so heiß wie in der Sauna, als wir beide nackt waren.
Ich merkte, wie er mich verliebt ansah, als wir am Tisch saßen. Ich merkte, wie toll er es fand, dass ich Künstlerin bin. Zwei verlorene Seelen, die sich gefunden haben. Mitten in seine Euphorie hinein erwähnte ich Jannick. Ich schob Jannick als Riegel zwischen uns. Jannick als Stoppschild gegenüber anderen Männern. Die meisten von ihnen ziehen sich dann zurück, wenn sie merken, dass nichts geht. Emil aber zog sich nicht zurück. Zwar meldete er sich wochenlang nicht. Dann aber plötzlich und unerwartet. Ich merkte, wie ich mich freute, dass er sich meldete. Wir trafen uns immer wieder, im Abstand von Wochen, manchmal im Abstand von Monaten. Halbe Nächte lang saßen wir beisammen und redeten und redeten. Er sagte, es wäre doch gut, dass wir beide einen Partner hätten, so wäre das ganze unbefangener, und ich versuchte ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm nicht. Ich vermisste etwas bei unserem Gerede, eine Berührung, einen Kuss, aber gleichzeitig fürchtete ich mich davor, vor einer Berührung, vor einem Kuss. Ich hatte das Gefühl, eine Berührung, ein Kuss, könnte meine ganze Welt ins Wanken bringen.
An einem schönen Frühlingstag verabredeten wir uns im Park. Ich trug ein tiefes Dekolleté. Das wurde mir erst bewusst, als wir uns gegenüberstanden und er es betrachtete. Was will ich eigentlich von ihm? Was will er von mir? Wir setzten uns ins Gras. Dann streckte er sich und legte sich hin.
Leg dich doch auch hin! sagte er.
Nein, nein! sagte ich: Ich bleibe lieber sitzen!
Viel zu gefährlich, dachte ich, sich neben ihm ins Gras zu legen. Viel zu gefährlich mit ihm, alles, sowieso, dachte ich plötzlich. Wie hatte ich ihn nur so anmachen können damals in der Sauna!
Er lag im Gras und redete von den Blumen neben uns und dem Himmel über uns und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich mich neben ihn ins Gras gelegt hatte.
Er schaute zum Himmel und sagte: Vera und ich haben uns getrennt. Ich will mein Leben endlich in meine eigenen Hände nehmen, und ich habe das Gefühl, dass ich das mit ihr nicht schaffe. Dann schaute er mich an und meinte: Durch dich, Liliane, habe ich gemerkt, dass ich, wenn ich eine Frau will, erst ein Mann sein muss.
Ich schreckte hoch. Jetzt brachen die Dämme, und die schwarzen Fluten über mich herein. Er redete weiter: Der erste Schritt in mein neues Leben ist, ehrlicher zu sein. Ehrlicher zu mir selbst. Ehrlicher zu anderen. Und deshalb, Liliane, sage ich dir jetzt, was ich gerade denke. Deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich berühren, dass ich dich küssen will.
Nein! Nein! Jetzt ging er zu weit! Was erlaubt er sich? Warum berührt und küsst er mich nicht einfach? Was labert er da herum? Männer sind Alphatiere, die sich nehmen was sie wollen und reden nicht davon. Nein! Nein! Ich will nicht, dass er mich berührt und küsst! Die schwarzen Fluten stürzten auf mich ein. Ich begann zu zittern. Oleg! Oleg! rief alles in mir. Ich liebe dich doch noch immer! Vater, du Schuft, so hilf mir doch! Jannick! Ja, Jannick, ich muss zu dir! Rette mich! Ich stand auf und rannte weg, ich rannte so schnell ich konnte. Die Wiese so grün und der Himmel so blau, doch um mich herum nur schwarze Fluten. Ein Schluchzen in mir, dass die ganze Umgebung erfasste und alles fortriss und ich konnte nicht anders und weinte und weinte und weinte…