Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Barfuß bis zum Hals

Das Eigenartige ist, dass von allem immer auch das Gegenteil wahr ist. Wenn ich sage, es geht mir gut, impliziere ich damit, dass es mir auch schlecht gehen kann. Wenn ich nur sage, es geht mir, ohne gut oder schlecht, so halte ich mir damit die Möglichkeit offen zu sagen, es steht mir, vielleicht sogar bis zum Hals. Wenn ich sage Hals, erkläre ich alles andere am Körper zum Nicht-Hals. Neulich las ich: barfuß bis zum Hals. Der das schrieb, verneint alles am Körper vom Fuß bis zum Hals, was er ebensogut bejahen könnte.

Barfuß bis zum Hals, so ging ich auf der Wiese, um im See zu baden, was eine Dame, die mir entgegenkam und mich mit entsetztem Blick betrachtete, nicht tat, nein, sie tat das Gegenteil: Sie war nichtbarfuß bis zum Hals, was man als vollständig bekleidet bezeichnen könnte, und hatte nicht vor zu baden. Ich fragte sie – ob ihres entsetzten Blickes – ob sie noch nie einen Mann nackt gesehen habe. Sie nickte und sagte, ihr Mann und sie wären selbst beim Sex nie vollständig nackt und hätten ihn außerdem nur im Dunkeln. Ihr Schamgefühl erlaube ihr nicht, einen Mann nackt zu sehen und sich einem Mann nackt zu zeigen. Dann hoffe ich, sagte ich, dass es dunkel war, als Sie geboren wurden, ansonsten wären Sie bereits zu diesem Zeitpunkt ihrem Schamgefühl schutzlos ausgeliefert gewesen.

Ich ging weiter, als sich mir eine andere Frau näherte, die sich im selben Zustand befand wie ich, nämlich barfuß bis zum Hals oder mit unbedecktem Hals bis zu den Füßen, je nach Sichtweise. Diese Frau gefiel mir, doch ehe ich ihr das sagen konnte, sagte sie zu mir, dass ich ihr gefalle und dass ihr mein Penis gefalle und ob es mir gefallen würde, ihren Penis zu streicheln und zu lecken. Ich sagte ihr, dass ich nicht genau wissen würde, was sie damit meine, also sagte sie mir, dass ihre Klitoris zwar Klitoris heiße aber in Wahrheit ein Penis sei, ein kleiner aber feiner Penis. Mich erregte, wie sie das sagte und ich stimmte zu, ihren kleinen feinen Penis zu streicheln und zu lecken. Ich kniete mich vor sie und sie spreizte ihre Beine ein wenig, damit ich sie besser streicheln und lecken konnte. Während ich ihren Penis namens Klitoris streichelte und leckte, bewegte sich mein eigener Penis in die Höhe, oder – das ist vielleicht die bessere Beschreibung – er bewegte sich in die Tiefe, denn er zeigte zum Himmel, und nur im Himmel sind die tiefsten, unendlichen Tiefen, während die Erde zwar tief ist, aber irgendwann kommt man auf der anderen Seite wieder raus. Galilei stellte fest: Die Erde ist eine Kugel und keine Scheibe mit Höhen und Tiefen.

Ich streichelte und leckte weiter die Klitoris, und mir war, als ob sich alles Gegensätzliche auflösen würde, als ob die Welt eins und ganz wäre. Da sagte die Frau: Jeder Moment ist da, um zu vergehen. Alles bewegt sich, immer und fortwährend, und alles Körperliche ist nur dazu da, uns die Existenz des Unkörperlichen zu zeigen. Da entdeckten wir unsere Körper abseits von Klitoris und Penis, wir erkundeten ihre Oberflächen und Öffnungen. Diese Erkundungen erregten mich sehr, ließen mich fallen in einen Zustand der Glückseligkeit. Ich ringe nach Worten, und mir scheint, das Nicht-Wort wäre in dieser Situation angebrachter.

Plötzlich ging Wittgenstein neben uns ins Wasser zum Baden. Ja, es war Wittgenstein, barfuß bis zum Hals, und ich rief zu ihm hinüber: Du hast recht, Ludwig – wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, während er kopfüber ins Wasser tauchte, ohne ein Wort.

Org Geder

Einer meiner Klassenkameraden hieß Georg Eder. Er war aber kein Kamerad. Er war ein isoliertes Subjekt in der Klasse. Keiner mochte ihn. Ich schämte mich für Georg, so peinlich war mir seine Erscheinung. Die dicke Hornbrille in seinem Gesicht wäre vielleicht noch zu verschmerzen gewesen, aber wie er ging, das ertrug ich nicht. Er hinkte nicht, und er hinkte doch. Alles schien schief zu sein an seinen Beinen. Seine Füße setzte er auf den Boden mit schiefem Tritt. Es war ein Wunder, dass er nicht bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht kam und hinfiel. Der hat Klumpfüße, sagte Peter, der Rudelführer in der Klasse und in dieser Funktion ein Verkünder der Wahrheiten. Die restliche Klasse stimmte dieser Wahrheit bei: Georg Eder hat Klumpfüße, so wie der geht!

Eines Tages war die ganze Klasse beim Bürgermeister im Rathaus zu einem Empfang eingeladen. Natürlich war Georg Eder auch mit dabei, er war ja Teil der Klasse. Er schleppte seine krummen Beine mit uns in das Rathaus. Wir standen versammelt vor dem Bürgermeister. Dem Bürgermeister muss Georg aufgefallen sein, denn er ging geradewegs auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Namen. Georg bekam ein hochrotes Gesicht, schluckte so angestrengt, als müsse er seinen ganzen Mageninhalt zurückhalten, um anschließend herauszupressen: Org Geder.

Org Geder hatte dieser Idiot gesagt! Org Geder. Nicht mal seinen eigenen Namen konnte er sagen! Einige kicherten. Ich schämte mich in Grund und Boden für Georg, wie er dastand, mit seiner Hornbrille und den schiefen Beinen. Es war erbärmlich anzusehen. Unerträglich.

Auch der Bürgermeister schien peinlich berührt zu sein, denn er wandte sich sofort wieder von Georg ab und unserer Lehrerin zu. Während also der Bürgermeister mit unserer Lehrerin sprach, was er ohnehin, so mein Eindruck, lieber tat als mit uns Schülern zu sprechen, denn unsere Lehrerin war sehr hübsch und ich heimlich in sie verliebt, dachte ich über Georgs Versprecher nach. Aufgrund meines Nachdenkens erschien er mir jetzt logisch, der Versprecher: Georg hatte vor Nervosität die Vorsilbe ge seines Vornamens verschluckt. Diesen Verschlucker wollte er korrigieren, indem er die verschluckte Silbe seinem Nachnamen Eder voranstellte. In seinem gestressten Kopf war es scheinbar eine logische Vorgehensweise, die einzig richtige Möglichkeit, Org Geder zu sagen. Die Welt des Georg Eder – eine konfuse Welt, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Und die mir doch so nahe ging.

Nach dem Empfang standen wir noch eine Weile vor dem Rathaus herum. Georg dagegen hinkte alleine davon mit seinen krummen Beinen. Peter rief ihm hinterher: Org geder, der Eder! Was in unserem Slang so viel bedeutete wie: Arg, entsetzlich, grauenvoll geht er, der Eder! Und es stimmte, ja: Es war entsetzlich, grauenvoll anzusehen, wie Georg mühsam und einsam seines Weges ging. Ich werde dieses Bild nicht mehr vergessen: wie er mit seinem krummen Beinen sich vom Rathaus wegkämpfte und wir ihm alle nachsahen. Peter hatte wieder einmal die Wahrheit gesprochen.

Seit diesem Tag hieß Georg Eder in der Klasse nur noch Org Geder. Und ich habe an diesem Tag beschlossen, mich nicht mehr für Georg zu schämen, sondern ihn einfach zu ignorieren. Die Welt des Org Geder war mir zu erbärmlich. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben.

Peter, der ehemalige Rudelführer in unserer Klasse, ist aktuell in einem Kreisverband für die AfD aktiv. Der Verkünder der Wahrheiten. Was aus Georg Eder geworden ist, weiß ich nicht. Wieso will ich das wissen? Wieso kann ich Org Geder und seine konfuse, entsetzliche, grauenvolle Welt nicht einfach vergessen?

Münchner Fürstenwege, Teil 3

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, fuhr mit seiner Begleiterin Sophia auf der Pferdekutsche die Fürstenrieder Straße entlang. Die Kutsche wirkte wie ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit. Sie bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern pro Stunde fort, die Autos rauschten an ihr vorbei. Die zwei Pferde zogen die Kutsche mit rhythmischen und anmutigen Bewegungen vorwärts.

Als sie die Autobahn nach Lindau überquerten, schaute Oskar zu Sophia. Sie schauten sich in die Augen, woraufhin Sophia Oskars Hand nahm. Ein heißer Schauer durchzuckte daraufhin Oskar am ganzen Körper, als stünde Sophias Hand unter Starkstrom. Das war keine Kutschfahrt mehr, das war ein wilder Ritt! Was passierte hier? War der Wahnsinn ausgebrochen? Er war ausgebrochen, in Oskars Kopf. La Folie! Mit diesem Wahnsinn in Oskars Kopf ging es weiter die Fürstenrieder Straße entlang.

Schließlich erreichten sie den Waldfriedhof, dessen hohe Bäume sich rechts der Fürstenrieder Straße auftürmen. In Oskar tobte es, doch er versuchte, sich gefasst zu geben und erläuterte:
„Das ist der Vorbote des Schlosses. Der ehemalige Schlossforst. Seit gut hundert Jahren der Waldfriedhof.“
„Wir sind also bald da?“
„Der Friedhof ist riesig. Wir fahren noch einige Kilometer an ihm entlang.“

Am Ende der Fürstenrieder Straße waren sie immer noch nicht am Ziel angekommen, sondern bogen nach rechts ab, in eine Lindenallee, und fuhren in südwestlicher Richtung weiter, zwischen Waldfriedhof und Autobahn nach Garmisch. Der Wahnsinn ging weiter. Sophia blickte zu den Autos auf der Autobahn, die parallel von ihnen, sehr nahe und doch seltsam entrückt, links vorbeizogen. Die Pferde zogen unverdrossen die Kutsche vorwärts.

„Jetzt fahren wir direkt auf das Schloss zu. Du musst dir das so vorstellen: Wir fahren unter einer Lindenallee. Auf der anderen Seite der Autobahn gab es früher genauso eine Allee. Eine doppelte Auffahrtsallee, wie in Nymphenburg.“ erläuterte Oskar. Er klammerte sich an seine Worte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.

„Und was war früher anstelle der Autobahn? Auch ein Kanal wie in Nymphenburg?“

„Nein, ein tapis vert, ein grüner Teppich. Ein breiter Grünstreifen, der damals, vor dreihundert Jahren, aufwendig angelegt und gepflegt werden musste. Es gab noch keine Rasenmäher, und so waren Gärtner im Dauereinsatz damit beschäftigt, mit Sensen den grünen Rasenteppich zu stutzen und zu hegen.“

„Lauter Möchtegern-Louis-XIV waren das, diese bayrischen Monarchen! Aber irgendwie waren sie auch sehr romantisch. Fous, complètement fous! Wahnsinn!“ Sophia lächelte.

Oskar machte große Augen: Fous, complètement fous! Wie Otto! La folie, der Wahnsinn! Sie blickten von der Kutsche über die Autobahn hinweg zur Lindenallee gegenüber und konnten erahnen, wie breit und imposant dieser grüne Teppich gewesen sein muss.

Die Autobahn führt zwar geradewegs auf das Schloss zu, macht kurz davor aber einen geradezu abweisenden Linksschwenk Richtung Süden, um ihren Weg fortzusetzen. Die Kutsche fuhr indessen geradeaus weiter ans Tor des Schlosses, wo Oskar und Sophie ihr entstiegen. Endlich angekommen! Würde der Wahnsinn jetzt ein Ende nehmen?

Dem Himmel war anzumerken, dass sich der Tag langsam auf sein Ende vorbereitete. Die Wolken waren verzogen, sodass die Luft im zartrosa Licht der letzten Sonne lag. Oskar hätte den Kutscher gerne in die königliche Schwaige des Schlosses geschickt, aber die gibt es nicht mehr, sodass er ihn stattlich bezahlte für die königliche Fahrt. Dann zog die Kutsche ohne die beiden ab.

Oskar ging auf das Eingangstor des Schlosses zu, auf dem ein königliches Wappen prangt.
„Ein seltsam verlassener Ort. Hierher sind immer Leute gekommen, die sich zurückziehen wollten: Maria Amalia von Österreich und Maria Anna Sophia von Sachsen, als sie Witwen waren. Und Otto, der unglücklichste König Bayerns.“
„Und wir“, sagte Sophia.
Sie drehte sich um und ging über den Schloßvorplatz Richtung Autobahn. Dort setzte sie sich auf eine Bank, die sehr prominent und einsam steht. Die Autos donnerten auf sie zu, um dann links abzudrehen. Ihr Blick ging über die Autos hinweg auf die Frauenkirche im Zentrum Münchens, die in der Ferne sichtbar ist. Oskar schaute ebenfalls über die sitzende Sophia hinweg zur Stadt. Hinter der Frauenkirche ist die Residenz. Dort war Oskar heute morgen mit Sophia gewesen, am Anfang ihrer Reise. Wenn er es sich jetzt rückblickend überlegte, hatte er es dort sehr schön gefunden. Ja, im Nachhinein betrachtet, hatte er so etwas wie Glück empfunden. Wieso wollte er mit Sophia dann unbedingt weiter nach Nymphenburg und Fürstenried? Ist das nicht Wahnsinn? Würde er das Glück jetzt nicht spüren, wenn sie bei der Residenz geblieben wären? Findet das Glück nur, wer weite Wege geht? Zeig mir etwas Schönes, hatte sie gesagt. Hatte er das getan?

Ziemlich durcheinander setzte er sich zu ihr auf die Bank. Die Dämmerung setzte ein. Die Scheinwerfer der Autos beleuchteten sie.
„Weißt du, hinter der Frauenkirche ist die Resid…“, setzte Oskar an, um Schutz hinter den Worten zu finden, als Sophia sich zu ihm drehte mit forderndem Blick, was ihm die Sprache verschlug. Nein, der Wahnsinn nahm kein Ende!
„Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Schöne liegt so nah!“ sagte sie, schob ihren Mund ganz nah an seinen und packte ihn energisch zwischen den Beinen. Wieder durchzuckte es Oskar am ganzen Körper. La Folie, der Wahnsinn!

War das das Schöne, zwischen seinen Beinen, das sie die ganze Zeit sehen wollte? War das das Ende von seiner Existenz als Hagestolz? Jedenfalls küsste er sie, energisch und entschlossen, ohne darüber nachzudenken, ob es schön ist oder nicht. Vielleicht war es gerade deswegen schön. Wahnsinn!

Die eine große Liebe

oder: ylop/mag onom mag ylop/nicht

Ylop und Onom sind zwei Menschen, bei denen es zunächst überhaupt nicht wichtig ist, welchen Geschlechts sie sind. Es ist jedoch nicht leicht, in der Sprache geschlechtsneutral zu bleiben. Die Sprache ist zu versext. Weil der westliche Mensch seinen Sex unterdrückt, ist er völlig verrückt nach Sex. Das drückt sich in seiner Sprache aus. Ich versuche, den Sex von Ylop und Onom auszuklammern, indem ich sie neutralisiere: Ich nenne sie das Ylop und das Onom.

Mit Ylop und Onom verhält es sich nun folgendermaßen: Ylop mag Onom, während Onom Ylop überhaupt nicht mag. Ylop könnte Onom fragen: „Warum magst du mich nicht?“ Aber Ylop fragt Onom das nicht, denn Ylop mag Onom, egal ob Onom es mag oder nicht. Ganz nach Christian Morgenstern: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.

Apropos Liebe: Onom sagt, es glaube an die eine große Liebe. In dieser Aussage ist ein Vorwurf an Ylop enthalten. Onom wirft Ylop vor, nicht an die eine große Liebe zu glauben und das Leben deshalb zu entwürdigen.
Ylop fragt Onom, warum es glaube, dass es nicht an die große Liebe glaube.
„Weil ich weiß, dass du mehr als einen Menschen in deinem Leben geliebt hast!“ sagt Onom.
Ylop sagt: „Menschen gibt es viele, Liebe gibt es eine. Warum sollte ich diese eine Liebe nicht mit mehreren Menschen teilen?“

Onom wendet sich verärgert ab. Es findet sich bestätigt in seinem Grund, warum es Ylop nicht mag. Es gibt einen Menschen für jeden Menschen, der dessen große Liebe ist, davon ist Onom überzeugt. Und weil Ylop davon nicht so überzeugt ist, um das zu seinem alles beherrschenden Lebenskonzept zu machen, bleibt es dabei: Onom mag Ylop nicht. Aber Ylop wiederum mag Onom, da kann Onom Ylop so viel nicht mögen wie es will. Denn Ylop glaubt an die eine große Liebe und schließt deshalb auch Onom in seine Liebe ein.

Komisches und Tragisches (das Leben)

Komisch und tragisch erlebe ich Vorderbrandner. Er sagte mir zuletzt unter Tränen, dass er unendlich froh und unendlich dankbar sei, seinen Platz hier in diesem Leben zu haben. Das war tragisch im Vortrag, aber auch komisch. Warum komisch? Vorderbrandner ist ständig auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass er nicht bereit ist, seinen Platz einzunehmen. Vom Suchen und nicht Finden(wollen) des Platzes im Leben könnte man also Vorderbrandners bisheriges Leben betiteln. Stattdessen verkriecht er sich oft in der Ecke. Er erfindet für dieses Verkriechen alle möglichen Argumente. Er sagte zum Beispiel einmal, er sei eine konstante Belastung für seine Umwelt, seine CO2-Bilanz sei konstant negativ, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Deshalb bezweifle er, ob seine menschliche Existenz über eine berechtigte Grundlage verfüge, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Gleichzeitig, und das macht die Sache so komisch, hat er eine unglaublich große Sehnsucht nach dem Leben.

Bevor ich mich in Allgemeinheiten verliere, will ich konkret werden: Vorderbrandner und ich fuhren mit unseren Fahrrädern die Ainmillerstraße in München-Schwabing entlang. Das war gar nicht tragisch. Das war auch nicht komisch. Deshalb erwähne ich es, weil es ungewöhnlich ist, mit Vorderbrandner etwas zu erleben, das nicht tragisch und nicht komisch ist. Ein Auto fuhr vor uns durch die Ainmillerstraße. Es fuhr so langsam, dass wir zu ihm aufschlossen. Wir fuhren hinter ihm her, bis wir kurz vor dem Ende der Ainmillerstraße angelangt waren.

Der Ort des Geschehens

Die Ainmillerstraße mündet in die Kurfürstenstraße. An dieser Einmündung muss man sich entscheiden: Biegt man nach links oder nach rechts in die Kurfürstenstraße ein? Geradeaus weiterfahren ist nicht möglich. Der langsam fahrende Autofahrer vor uns tat seine Entscheidung nicht kund: Er setzte keinen Blinker. Oder hatte er sich noch nicht entschieden und zuckelte unentschieden auf die Kreuzung zu? Das Auto wurde jedenfalls immer langsamer. Warum erzähle ich das? Weil Vorderbrandner unvermittelt mit seinem Fahrrad links an dem langsamer und langsamer werdenden Auto vorbeifuhr. Auf Höhe der Fahrertür, deren Scheibe geöffnet war, sagte er zum Fahrer: „Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie blinken würden und uns so mitteilen, ob Sie links oder rechts abbiegen wollen!“ Er sagte es in einem subtil provokanten Ton, der sich schwer beschreiben lässt.
„Wieso? Ich suche einen Parkplatz“, hörte ich den Fahrer irritiert aus dem Wagen antworten.
„Dann wäre es nett von Ihnen, wenn Sie Ihrer Umwelt mitteilen, wo Sie beabsichtigen, Ihren Parkplatz zu suchen, links oder rechts.“
Der Fahrer wurde verbal ungehalten, woraufhin Vorderbrandner durch die offene Scheibe ins Auto griff und den Blinkerhebel betätigte. Der Wagen war inzwischen mitten auf die Kreuzung gerollt und blockierte den Verkehr. Links und rechts hupten andere Autos.
„Sie Unverschämter Sie!“ schrie der Fahrer aus dem Wagen.
„Bitte nach rechts fahren, nach dorthin ist der Blinker gesetzt!“ erwiderte Vorderbrandner scheinbar ungerührt und herablassend und gab mir Zeichen zum Weiterfahren.

Ich folgte seiner Anweisung. Nichts wie weg hier! Wir fuhren weiter und überließen die angerichtete Szene den anderen Protagonisten. Beim Weiterfahren dachte ich über den, wie ich finde, äußerst dreisten und provokanten Auftritt Vorderbrandners nach. Einerseits hat Vorderbrandner diese große Scheu, seinen Platz im Leben einzunehmen, andererseits legt er Auftritte wie eben jenen hin.

Wir fuhren in unser Büro in der Georgenstraße 146 in München-Schwabing. Dort angekommen, hörte Vorderbrandner ein wenig Musik. Das macht er oft, um Erlebtes zu verarbeiten. Diesmal drangen trällernde Opernstimmen durch den Raum. Ich ging näher zu Vorderbrandner und sah auf dem Bildschirm zwei Opersängerinnen, als Männer verkleidet, die sich in einem gesanglichen Zwiegespräch befinden.

Vorderbrandner, ungewöhnlich kommunikativ für einen solchen Moment der inneren Besinnung, sagte: „Das ist ein Ausschnitt aus der Oper Serse von Händel – komische Tragödie und tragische Komödie.“
„Komisch ist das in der Tat“, sagte ich: „Wieso sind denn die Frauen als Männer verkleidet?“
„Es gibt keine Kastraten mehr, die die Rollen singen könnten.“
„Tragisch… Für die Oper, meine ich, – dass es keine Kastraten mehr gibt“, und meinte es komisch.
Wir lauschten dem Gesang.
„Der in weiß Gekleidete ist König Serse“, erläuterte Vorderbrandner und zeigte auf die Opersängerin in der weißen Uniform. „Er offenbart seinem Bruder Arsamene (die in schwarz gekleidete Dame im Video – Anm. d. Red.), dass er der schönen Romilda seine Liebe gestehen wird, obwohl Arsamene mit ihr verlobt ist.“
Vorderbrandner interessierte vor allem eine Sequenz des Videos, zwischen 1:00 und 2:30, die er mehrmals abspielen ließ. Hier verkündet Serse seine Absicht: Io le dirò che l’amo, ne mi sgomentarò. (Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe, ich werde nicht davor zurückschrecken.)

„Schau!“ sagte Vorderbrandner und zeigte auf den Bildschirm, „wie stolz Serse ist; wie er sich auf seine Sänfte heben lässt und immer wieder betont, dass er Romilda seine Liebe gestehen wird! Was für ein stolzer, leidenschaftlicher Platzhirsch!“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, als nähme Serse stellvertretend für ihn den Platz ein, den er sich gerne nehmen würde. Wir waren wieder mitten drin im Komischen und Tragischen.

Während wir weiter dem Gesang lauschten, stellte ich mir Vorderbrandner in der Ainmillerstraße vor, wie er auf den Dächern der hupenden Autos steht und im Falsett die Arie des Serse singt. Wieso ist mit Vorderbrandner immer alles komisch und tragisch? Liegt es wirklich nur daran, dass er seinen Platz im Leben sucht und nicht finden will? Oder liegt es daran, dass er mir beständig vorführt, was das Leben ist: Komische Tragödie und tragische Komödie?

Die Welt als Haushalt und Gegensatz

Professor Dr. Dr. Rainer Schmorn, ein Universitätsprofessor für Philosophie und Wissenschaftstheorie, öffnete eines Morgens die Besteckschublade in seiner Küche, um daraus einen Löffel zu entnehmen. Doch er fand keinen Löffel darin. Er seufzte. Er hatte vergessen, am Vorabend den Geschirrspüler anzumachen. Also öffnete er die Klappe des Geschirrspülers, entnahm daraus einen schmutzigen Löffel und spülte ihn ab. Dann setzte er sich mit dem Löffel an den Tisch, wo eine Schale mit Müsli stand, und begann zu essen.

Seit Clarissa nicht mehr da war, musste er seinen Haushalt alleine führen. Es machte ihn einerseits stolz, dass er endlich, im fortgeschrittenen Alter, einen Haushalt alleine führte. Bisher hatte er das immer den Frauen in seinem Leben überlassen, zunächst seiner Mutter, dann Clarissa. Andererseits überforderte ihn die Haushaltsführung. Seine geistige, wissenschaftliche Arbeit litt unter dieser neuen Herausforderung. Er hätte sich eine Haushälterin anstellen können, aber das erschien ihm nicht zeit- und frauengerecht. Ist Haushaltsarbeit zwingend weiblich und von Männern nicht zu bewältigen? Professor Schmorn blickte traurig auf und betrachtete das Bild von Clarissa und ihm, das noch immer an der Wand hing. Dann stand er auf und gab den benutzten Löffel wieder in den Geschirrspüler.

Er ging, wie immer, zu Fuß zu seiner Arbeit an der Universität, die etwa zehn Gehminuten von  seiner Wohnung entfernt lag. Er begrüßte seine Kollegen und Mitarbeiter am Institut, um anschließend in den großen Vorlesungssaal zu gehen. Er hielt dort eine Vorlesung für Erstsemestrige und begann seinen Vortrag so:

„Was machen wir an der Universität, in den Wissenschaften? Wir beobachten die Phänomene und erschaffen Begriffe für sie, um aus den geschaffenen Begriffen unser wissenschaftliches Weltbild zu formen. Was ist zuerst da, das Phänomen oder der Begriff? Natürlich das Phänomen – zumindest ist das mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen -, aber um es beobachten und abgrenzen zu können von anderen Phänomenen, müssen wir es zumeist erst begrifflich definieren. Nehmen wir als Beispiel das Phänomen des Haushalts: Unter einem Haushalt verstehen wir die wirtschaftliche Einheit einer Person oder mehrerer zusammenlebender Personen. Wir haben also das Phänomen Haushalt definiert, um es beobachten zu können. Ein Haushalt ist zunächst ein in sich ruhender, harmonischer Begriff. Doch ein Haushalt ruht nicht, genauso wie die Welt nicht ruht. Sie bewegt sich, zwischen den Polen. Was sind die bekanntesten menschlichen Pole? – Männlich und weiblich. Bewegt sich ein Haushalt zwischen den Polen männlich und weiblich? Vielleicht, obwohl sich hier beobachten lässt, dass traditionell in unserer Kultur das Pendel zum Weiblichen ausschlägt, was den Haushalt betrifft.“

Professor Schmorn erntete verständnislose Blicke aus dem Auditorium der jungen Studenten. Er nahm diese Blicke auf und fuhr fort:

„Heute gibt es aber mehr denn je das Phänomen des rein weiblichen und des rein männlichen Haushalts, und es lassen sich keine signifikanten, wissenschaftlich definierbaren Unterschiede daraus feststellen. Vielleicht sollten wir stattdessen für den Haushalt die Pole ordentlich und schlampig einführen. Diese Pole habe ich aus meiner Erfahrung hergeleitet. Was ist nun unsere nächste Aufgabe als Wissenschaftler? Wir definieren die eingeführten Pole für Haushalte. Was ist ein ordentlicher Haushalt, was ist ein schlampiger Haushalt? An welchen Kriterien können wir das festhalten? Ein wichtiges Kriterium in einem Haushalt ist das Abspülen, und aus diesem Kriterium lässt sich folgern, dass in einem prototypischen ordentlichen Haushalt nach dem Essen abgespült wird, während in einem prototypischen schlampigen Haushalt vor dem Essen abgespült wird.

Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht länger mit theoretischen Abhandlungen quälen, sondern fordere Sie auf, sich selbst Phänomene ins Gedächtnis zu rufen, die Ihnen in Ihrem Leben bereits begegnet sind, diese begrifflich zu formen und über ihre Polarität nachzudenken!“

Während er das sagte, entdeckte Professor Schmorn eine junge Frau im Auditorium, die ihn an die junge Clarissa erinnerte.

Polarität

Notenständer der Welt

Vorderbrandner hatte ein Treffen mit dem ägyptischstämmigen Künstler Bahiti Chigaru arrangiert, und weil Vorderbrandner große Stücke auf Bahiti Chigaru hält, hatte er den Lokalreporter einer großen süddeutschen Tageszeitung zu diesem Treffen eingeladen. Der Lokalreporter war dieser Einladung gefolgt und gekommen. Zu Beginn des Treffens informierte Vorderbrandner den Reporter, dass er sich mit Bahiti Chigaru im folgenden über die Logik in der Sprache unterhalten wolle. Daraufhin meinte der Reporter, dass das ein Thema sei, das durchaus interessant sei, er jedoch bezweifle, dass es seine Redaktion genauso sehe. Vorderbrandner platzte daraufhin der Kragen, und er schrie den Lokalreporter an:

„Über jedes noch so dilettanische Laienschauspiel in einem abgehalfterten Gemeindezentrum berichten Sie und stellen es als große künstlerische Errungenschaft dar! Oder diese ganzen Hobbymaler und Hobbyschriftsteller, die nichts zu malen und nichts zu schreiben haben, die Sie mit einer Schleimspur in Ihr Blatt hineinredigieren! Aber über Bahiti Chigaru, der schon oft bewiesen hat, wie großartig er die menschliche Existenz darzustellen vermag, der die Ambivalenz der Dinge würdigt wie kein zweiter, über den wollen Sie nichts schreiben! Ich dachte immer, die Presse sei ein sensibles Organ für gesellschaftliche Notstände, aber Sie sind nur ein erbärmliches Anhängsel irgendwelcher Lobbies! Sie haben Angst, nichts als Angst! Jeder Buchstabe, den Sie schreiben, schreit vor Angst! Sie sind an Einfältigkeit nicht zu überbieten! Gehen Sie, verlassen Sie diesen Raum, Sie nichtsnutziger Schmarotzer dieser Gesellschaft!“

Der Lokalreporter wollte zunächst etwas erwidern, überlegte es sich dann jedoch anders und ging mit geöffnetem Mund zur Tür hinaus.

Eine Weile saßen Bahiti Chigaru und Vorderbrandner daraufhin schweigend da. Dann stand Chigaru auf und holte drei Notenständer, die in der Ecke des Raumes lehnten. Er stellte sie in der Mitte des Raumes auf und sagte zu Vorderbrandner:

„Valentin, ich bemerke deine Erregung. Das ist nicht schlimm! Wir werden diese Erregung nutzen für unsere Arbeit. Wir wollten über die Logik in der Sprache sprechen. Du hast vorhin, in deiner Erregung, über Notstände gesprochen. Da ist mir aufgefallen, dass ich dieses Wort lange nicht kannte. Als ich als Kind nach Österreich kam und deutsch gelernt habe, erschien mir eines sehr unlogisch: die Mehrzahlbildung. Es gibt Regeln, aber ich bekam sie nicht in mein Hirn. So dachte ich lange, die Mehrzahl von Notstand sei nicht Notstände, sondern Notenständer. Das war meine Logik: ein Notstand, mehrere Notenständer.

Dazu eine kurze Geschichte: Nehmen wir an, ein Notstand heißt Engelbert, ein anderer Adolf – wir haben also zwei Notenständer, nach meiner früheren Logik. In diesem Raum haben wir drei Notenständer. Wer ist also der dritte Notstand? Manche würden ihn Norbert nennen, andere Heinz-Christian, andere Roman Haider. Aber soll man die Notenständer auf dieses braune Gesindel im deutschsprachigen Raum beschränken? Nein! Vielleicht will dieses braune Gesindel uns nur zeigen, dass überall auf dieser Welt Notenständer herrschen, als eine Art repräsentativer Querschnitt.“

Bahiti Chigaru verteilte die drei Notenständer im ganzen Raum und fuhr fort:

„Angenommen, dieser Raum ist die ganze Welt. Es gibt überall auf der Welt Notenständer. Mein Notstand der Kindheit heißt Hosni, andere nennen ihren Notstand Viktor, Recep, Vladimir oder Donald. Aber wie wir die Notenständer auch nennen – ist es nicht vor allem wichtig, die Menschen hinter diesen Notenständern zu erkennen? Warum handeln diese Notenständer wie Notenständer? Ist es die Stimme der Menschheit, die sie treibt? Ist man nicht zuallererst selbst gefordert, kein Notenständer für andere zu werden beziehungsweise sich von anderen nicht zum Notenständer machen zu lassen? Vielleicht bin ich naiv, aber ich habe immer die Hoffnung, dass Notenständer vor allem auch Menschen sind, die andere Entwicklungsmöglichkeiten haben als Notenständer zu sein.“

Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: „Entschuldige! Ich bin etwas vom Thema abgekommen. Eigentlich wollte ich nur erklären, dass Notenständer für mich immer die Mehrzahl von Notstand waren. Das war für mich vollkommen logisch. Deine Erregung jedoch hat mich zu weiteren Ausführungen verleitet.“

Bahiti Chigaru blieb stehen, inmitten der Notenständer. Ist das die hohe Schule der Installationskunst? Vorderbrandner hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, fühlte sich aber wie ein Notenständer. Er bereute es, den Lokalreporter so rüde verscheucht zu haben: Vielleicht hätte er ja über den soeben gehaltenen Vortrag von Bahiti Chigaru einen Artikel geschrieben.

Schafft die Noten ab!

Ich hatte gerade eine erfolgreiche Session im Studio hinter mir. Ein neues Stück nahm Formen an. Ich ging pfeifend die Straße entlang, um meine Tochter vom Hort abzuholen, als ich folgende Schlagzeile im Zeitungskasten sah: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Ich war empört! Welcher Musikbanause kann so etwas fordern! Sicher, Musik geht auch ohne Noten, aber Noten gehören zur europäischen Musikkultur. Welch ein Verlust, wenn Bach, Mozart oder Beethoven keine Noten aufgeschrieben hätten!

Ich hatte mich noch nicht beruhigt, als mir meine Tochter im Hort tränenüberströmt entgegenlief. Sie fiel mir in die Arme und schluchzte: „Papa, ich habe in der Klassenarbeit nur eine Drei geschrieben. Und sogar Maria, die sonst immer schlechter ist als ich, hat eine Zwei bekommen.“

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder allen Eltern, aber wenn ich etwas nicht ertrage, ist es, meine Tochter weinen zu sehen, obwohl das mittlerweile schon acht Jahre lang mehr oder weniger oft passiert. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Ich war also mindestens so empört über diese Drei wie meine Tochter traurig darüber, und dachte mir: Dieser Druck ist nicht gesund für die Kinder. Schafft die Noten ab!

Mit schlechter Laune machten wir uns auf den Heimweg, der uns wieder am Zeitungskasten vorbeiführte. Ich wollte nicht mehr hinschauen, tat es aber dann doch und las: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Gottseidank habe ich hingeschaut! Verwundert über meine Verbohrtheit, die man auch Blödheit nennen könnte, kaufte ich mir eine Zeitung. Ich las über die Forderung der Abschaffung von Schulnoten. Kein Mensch redet von Musiknoten. Ich trällerte fröhlich die Melodie meines neuen Stückes und sagte frohgemut zu meiner Tochter: „Mach dir keinen Kopf über deine Drei! Die Schulnoten werden bald abgeschafft.“

Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern

oder: Lichtmess und der zweckloseste Raum, den ich je erlebt habe

Meinen Soziologieprofessor an der Uni, Herrn Dr. Klaus Zapiczinsky, habe ich als einen sehr gutherzigen und weltoffenen Menschen kennengelernt. Manchmal übertrieb er es mit seiner Gutherzigkeit, wie ich finde: Als ich und ein paar Kommilitonen unsere mündliche Prüfungen bei ihm ablegten und alle gemeinsam in seinem mit Büchern zugestellten Büro saßen, wusste einer der Kommilitonen auf keine der Fragen, die ihm Professor Zapiczinksy stellte, eine rechte Antwort, woraufhin Professor Zapiczinsky zu ihm sagte: Sie haben leider nichts gewusst. Genügend. Andererseits ermutigte mich seine Gutherzigkeit dazu, ihm folgendes Thema für meine Seminararbeit vorzuschlagen: Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern.

Das Wohnzimmer ist das meistüberschätzte Zimmer in einer Wohnung. Man isst nicht darin, man schläft nicht darin, die Geselligkeit erschöpft sich oft im gemeinsamen Fernsehen. Allein ist man sowieso nie, ständig kann jemand unangemeldet hereinkommen, sei es der Partner, die Kinder oder sonstige Personen, mit denen man die Wohnung teilt. Das Wohnzimmer ist purer Luxus, ein Salon der kleinen Leute. Nach diesen Argumenten erkannte Professor Zapiczinsky die Notwendigkeit einer soziologischen Untersuchung des Wohnzimmers und stimmte meinem Seminarthema zu.

Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte, stellte ich sie dem Auditorium zwischen den Bücherstapeln in Professor Zapiczinskys Büro vor:

Meine Großeltern haben kurz nach dem Krieg ein kleines Häuschen gebaut: quadratischer Grundriss, je drei Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock, und im nordöstlichen Eck eine Diele, die über eine gekurvte Treppe die Stockwerke verband. Die Zimmer im ersten Stock lagen bereits unter dem Dach. Außerdem gab es einen Anbau mit Waschküche, Holzlage und Hühnerstall, über die Diele erreichbar. Meine Großeltern bewohnten nur die zwei südlichen Zimmer im Erdgeschoss: ihre Wohnküche und ihr Schlafzimmer. Das dritte Zimmer im Erdgeschoss war Kinderzimmer, die Mansardenzimmer im ersten Stock haben sie als Einliegerwohnung vermietet.

Als mit den Jahren das Nachkriegs-Wirtschaftswunder immer wunderbarer und meine Mutter erwachsen wurde, war meiner Großmutter, die einem stolzen Bauerngeschlecht entstammte, das kleine Häuschen ohne Wohnzimmer nicht mehr repräsentativ genug. Mein Großvater meinte, man könne doch das nördliche Zimmer als Wohnzimmer nutzen, weil meine Mutter ohnehin bald ausziehen würde, woraufhin meine Großmutter meinte, dieses Zimmer sei viel zu dunkel für ein Wohnzimmer, und wer sagt denn, dass meine Mutter ausziehen werde. Meine Mutter hatte während dieser Diskussionen meinen Vater kennengelernt und ihn geheiratet. Mein Vater entstammte einem ebenso stolzen Bauerngeschlecht wie meine Großmutter, was meiner Großmutter gefiel, und so beschloss meine Großmutter: Meine Eltern sollten den ersten Stock des Hauses beziehen. Dazu sollte das Haus vergrößert werden. Der vergrößerte Grundriss würde es erlauben, ein südwärts gerichtetes, helles Wohnzimmer im Erdgeschoss einzurichten.

Dieser Beschluss wurde umgesetzt, bereits in Anwesenheit meiner älteren Schwester, jedoch in meiner Abwesenheit. Aus dem ersten Stock wurde eine geräumige 5-Zimmer-Wohnung mit schönem Balkon, einer Wohnküche und einem modernen Bad. Meine Großeltern aber schienen dem Wirtschaftswunder während der Bauphase nicht mehr recht zu trauen, denn ihre Wohnung im Erdgeschoss blieb diesselbe, lediglich um einen Raum gestreckt. Sie wohnten in ihrer Wohnküche und schliefen in ihrem Schlafzimmer, das durch die bauliche Vergrößerung um einen Raum nach Westen gerückt war. Sie hatten also einen zusätzlichen Raum zwischen Wohnküche und neuem Schlafzimmer: ihr vormaliges altes Schlafzimmer. Diesen Raum richteten sie als Wohnzimmer ein, mit schönem Holzboden, einem eleganten Sofa mit dezenten grün-blauen Stoffbezügen und zwei dazupassenden Sesseln. Die Besuche konnten nun kommen und mit Stil empfangen werden. Doch da man das Wohnzimmer nur durch die Wohnküche betreten konnte, blieben die Besuche immer in der gemütlichen Wohnküche hängen, mit ihrem Holzofen, der Sitzecke und dem Diwan. Das Wohnzimmer sollte immer nur ein Durchgangszimmer zum Schlafzimmer bleiben – das zweckloseste Zimmer, das ich je erlebt habe. Oder wollten meine Großeltern mit dieser innenarchitektonischen Anordnung lediglich die Absurdität der Wohnzimmerkultur aufzeigen?

Am 2. Februar denke ich oft an das ehemalige Wohnzimmer meiner Großeltern, das sie nur als Durchgangszimmer nutzten. Meine Großeltern hatten jedes Jahr bis zu diesem Tag, dem 40. nach Weihnachten, einen Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer aufgestellt, wahrscheinlich um eventuellen Besuchen einen festlichen Rahmen zu bieten. Da der Raum nie beheizt wurde, weil sich nie jemand darin aufhielt, blieben die Nadeln des Baums jedes Jahr bis zum 40. Tag schön grün. Oft saß ich als Kind in der Weihnachtszeit am Baum, um mich an den brennenden Kerzen zu wärmen und mit den Figuren der darunterstehenden Krippe zu spielen. Ich war also, wenn ich mich recht erinnere, die einzige Person, die sich in diesem Raum aufhielt und ihn nicht nur durchschritt wie meine Großeltern, um zu ihrem Schlafzimmer zu gelangen.

Am 2. Februar haben meine Großeltern den Baum und die Krippe abgebaut, denn an diesem Tag endet nach dem christlichen Bauernkalender die Weihnachtszeit. Die Sonne wandert schon seit über einem Monat Richtung Nordhalbkugel. Die dunkelsten Nächte sind vorbei, und der Frühling meldet langsam seine Ansprüche gegenüber dem Winter an. Der Tag wird Lichtmess genannt, weil wieder Licht ins Leben kommt, weil das Leben neu erwacht. Dank Lichtmess habe ich an das Wohnzimmer meiner Großeltern schöne Erinnerungen, obwohl es der zweckloseste Raum war, den ich je erlebt habe.

Nach Ende meines Vortrags blickten die meisten meiner Kommilitonen recht gelangweilt drein, während Professor Zapiczinsky zufrieden nickte und sagte: Gratulation – Sie hatten, man kann es wohl so sagen, eine glückliche Wohnzimmer-Kindheit. Sehr gut.

Lichtmess in Volksmund und Tradition

Otto der Maulwurf

In der Schule war ich recht gut im Sport, was die Beine und Füße betraf. Ich lief sehr schnell und ausdauernd und konnte gut gegen den Ball treten. Sobald es aber auf die Fertigkeiten mit Armen und Händen ankam, verließen mich Kraft und Geschick. Handball, Basketball und Volleyball waren eine Qual für mich. Beim Völkerball durfte ich nie König sein, denn ich schaffte es nicht, den Ball ordentlich über das Feld zu werfen. Am schlimmsten war das Speerwerfen. Ich konnte mit dem Speer nicht umgehen, warf ihn kraftlos und ungelenk, und meist landete er wenige Meter vor mir unwürdig im Gras.

Ich wäre leicht zum Gespött meiner Mitschüler geworden. Doch unser Sportlehrer hatte eine Vorliebe für Fußball, sodass ich die seltenen Speerübungen irgendwie rumbrachte, ohne größeren Schaden zu nehmen. Und es gab Otto. Otto hatte solch krumme Beine, dass er mit ihnen entweder ausschlug wie ein wildes Pferd oder eines dem anderen im Weg war. Beim Speerwerfen war er so damit beschäftigt, nicht über seine Beine zu fallen, dass der Speer schließlich beim Abwurf wie ein nasses Handtuch von seiner Wurfhand fiel. Einmal hätte er es fast geschafft, sich selbst mit dem Speer zu erschlagen.

In einem Schuljahr hatten wir einen jungen Referendar als Sportlehrer. Der bevorzugte Handball, Basketball und Volleyball gegenüber Fußball. Und auch Speerwerfen machte er recht gern mit uns. Es war ein furchtbares Schuljahr für mich. Die einzige Zeit in meinem Leben, in dem Sport eine Qual war.

Ich mühte mich also wieder beim Speerwerfen, aber der Speer wollte nicht recht weit fliegen. Beschämt schlich ich mich nach jedem Wurf von dannen. Dann kam Otto an die Reihe, an jenem sonnigen Frühlingstag, als wir wieder einmal Speere warfen. Otto galoppierte mit dem Speer über die Wiese, bei jedem Schritt in Gefahr, dass seine Beine sich ineinander verhaken. Er holte mit seinem Wurfarm weit aus, viel weiter als sonst. Es sah tollkühn aus, aber man brauchte kein Prophet sein um zu erkennen, dass das schief gehen musste. Indem er diese für ihn ungewöhnlich weite Armbewegung machte, verloren seine Beine vollends ihre Koordination. Sie zappelten hilflos ineinander verschlungen in der Luft, bis er schließlich mit dem Kopf vorwärts zu Boden stürzte. Sein Gesicht lag im Gras, es hatte ihn voll aufs Maul gelassen. Der Speer, den er vor Schreck vergaß loszulassen, steckte direkt neben ihm in der Erde.

„Na Otto“, sagte der junge Referendar, der nicht wusste wie er mit Ottos Tolpatschigkeit umgehen soll, daraufhin flapsig: „Das war nun kein Speerwurf, sondern ein Maulwurf!“

Die ganze Klasse johlte: „Maulwurf! Maulwurf!“, während Otto sein Gesicht, das blutverschmiert war, langsam zur Seite drehte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Später stellte sich heraus, dass er sich dabei den Schädel geprellt und die Nase gebrochen hatte. Ich war heilfroh, dass es Otto gab, denn sonst wäre ich der Maulwurf gewesen, über den sich Hohn und Spott ergossen hätte.

Ich beschloss nun, die Sache mit dem Werfen offensiver anzugehen. Ich schnappte mir zuhause einen Ball, ging damit auf eine einsame Lichtung im Wald und warf ihn, warf ihn, warf ihn, immer wieder, bis es mir richtig Spaß machte. Dann suchte ich mir einen langen, geraden Holzstecken, der am Waldboden herumlag, als Speerersatz, und warf ihn wie den Ball, immer wieder. Viele Nachmittage verbrachte ich so im Wald. Ich bin kein guter Werfer geworden, aber ein passabler. Der Speer fliegt nun in respektabler Kurve und landet in achtbarer Entfernung. Handball, Basketball und Volleyball mag ich immer noch nicht. Der Fußball ist meine wichtigste unter den unwichtigen Sachen geblieben. Aber beim Völkerball springe ich gern mal als König ein.

Vor kurzem habe ich meine Eltern besucht und Otto auf der Straße gesehen. Sehr konzentriert und schnell riss er seine Beine hin und her während er ging, als hätte er noch immer Angst, dass er plötzlich hinfällt und ihn jemand Maulwurf ruft. Ich hielt ihn nicht auf in seinem strammen, verkrampften Schritt, denn ich hätte nicht gewusst, was ich sagen soll. Ihm zu sagen, dass ich ihm sehr dankbar bin, weil ich durch ihn meine Kraft und mein Geschick in meinen Armen und Händen entdeckt habe, erschien mir nicht passend. Er bewegte sich immer noch wie Otto der Maulwurf, und auch das hätte er bestimmt nicht hören wollen.