Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Agathe ohne Fenster

„Vor Monaten wollte ich dir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen (Agathe und das Fenster). Doch dann habe ich dir die Geschichte von Josefine und den Türen erzählt.“

„Ich glaube, du hast mir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählt. Ich kann mich aber nicht mehr an sie erinnern. Erzähl sie mir nochmal!“

„Die Geschichte ist schnell erzählt: Agathe steht an ihrem Fenster, während ich ins Freie eines schönen Tages laufe, über grüne Wiesen und durch bunte Wälder. Doch Agathe, anstatt mitzukommen, schließt das Fenster hinter mir.“

„Das ist eine schöne und eine traurige Geschichte.“

„Findest du? Es ist eine eingebildete Geschichte. Denn Agathe ist nie am Fenster gestanden als ich von ihr ging und schon gar nicht hat sie es zugemacht. Ich bilde mir das nur ein.“

„Vielleicht willst du es dir einbilden. Steht das Fenster für etwas, das du zwischen Agathe und dich schiebst, damit es euch trennt?“

„Wieso sollte ich wollen, dass uns etwas trennt?“

„Keine Ahnung. Ich suche nach Gründen, warum du mir seit Monaten die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen willst.“

„Gründe! Es gibt so viele Gründe, unendlich viele. Die ich noch nicht betreten habe.“

„Leg deine Scheu ab, diese Gründe zu betreten. Denk dir Agathe ohne das Fenster, ohne irgendetwas, das euch trennt.“

„Agathe ohne irgendetwas. Das ist gut. Das gefällt mir. Ich glaube, ich dringe zu den wahren Gründen meines Daseins vor.“

Kleine Philosophie des Lebens

Jeden Tag erwache ich und frage mich: Was ist das Leben? Dann lebe ich, den ganzen Tag, und vor lauter Leben vergesse ich die Frage, die ich mir am Morgen gestellt habe.

Abends gehe ich ins Bett und erinnere mich an die Frage die ich mir morgens gestellt habe: Was ist das Leben? Um eine Antwort zu finden, lasse ich den Tag Revue passieren und sage mir schließlich: Das ist es, das Leben. Und schlafe zufrieden ein.

Josef im Interview

Neulich bin ich in den Himmel aufgefahren und habe den heiligen Josef zu einem Interview getroffen.

Emil: Josef, die Menschen auf der Erde feiern wieder mal Weihnachten. Freust du dich darüber?
Josef: Ich weiß nicht recht. Ich bin etwas zwiegespalten.
Emil: Inwiefern?
Josef: Die Menschen feiern Jesus und Maria, und ich steh blöd daneben.
Emil: Wie war das damals, als Maria dir sagte, sie sei schwanger?
Josef: Sie druckste ganz schön rum. Klar, das Kind war ja nicht von mir, obwohl wir verlobt waren und heiraten wollten.
Emil: Von wem war denn das Kind?
Josef: Sie hat es mir nie gesagt. Ich vermute, sie hatte eine Affäre mit Hans dem Schreiner.
Emil: Was hat sie stattdessen gesagt?
Josef: Sie redete plötzlich davon, dass sie ein Kind von Gott empfange, und dass ihr, wie durch ein Wunder, ohne sexuelle Aktivität die Frucht in den Leib gelegt worden sei. Das fand ich komisch. Denn so schlimm finde ich sexuelle Aktivität nicht, dass man auf so ein Wunder hoffen müsste. Außerdem machte ich mir ernsthaft Sorgen um sie. Hatte sie solche Panik, dass ich sie verlasse, was sie dazu veranlasste, eine solch abstruse Geschichte zu erfinden? Oder geht mit Schwangeren generell die Phantasie durch?
Emil: Du bist aber dennoch bei ihr geblieben.
Josef: Ja. Da kam der Beschützerinstinkt in mir durch. Außerdem fand ich sie schon wahnsinnig toll. Sie hat sich ja auch trotz des Kindes für mich und gegen Hans den Schreiner entschieden. Außer beim Sex. Da blieb sie hartnäckig.
Emil: Wie? Sie hatte danach noch Sex mit Hans dem Schreiner?
Josef: Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Ich vermute, ihr damaliger PR-Manager, wie hieß der nochmal – Petrus, glaube ich – hatte großen Anteil daran. Also, ich weiß nicht ob sie mit dem auch was hatte, ist auch nicht wichtig, aber auf alle Fälle wollte der die Nummer mit dem Sohn Gottes groß rausbringen.
Emil: Du willst also sagen, Maria hat aus PR-technischen Gründen keinen Sex mit dir gehabt?
Josef: Als das Ding voll am Laufen war, also die Story mit dem Sohn Gottes und der Jungfräulichkeit, waren Maria und ich einmal sehr leidenschaftlich über uns hergefallen, als sie plötzlich von mir abrückte und sagte, sie dürfe keinen Sex mit mir haben, denn Petrus hätte gemeint, sie müsse als Jungfrau authentisch wirken. Wenn sie mit mir Sex hätte, würde man das merken. Da wurde ich wirklich zornig auf Petrus und wollte dafür sorgen, dass Maria aus dieser Nummer rauskommt. Sie aber meinte, ich solle bedenken, wieviel wir verdienen mit ihren Auftritten als Jungfrau Maria im Gegensatz zu meinem kärglichen Zimmermann-Lohn. Da habe ich klein beigegeben.
Emil: Und dein Sohn, ääh, ich meine Jesus, welche Rolle hat der dabei gespielt, als er auf die Welt gekommen war?
Josef: Bei seiner Geburt waren wir bei meinen Eltern im Bethlehem. Als bei Maria die Wehen einsetzten, verordnete Petrus, wir sollen in den alten Stall gehen, er habe dort bereits alles arrangiert. Der Stall war schön mit Kerzen und Fackeln ausgeleuchtet. Vier Reporter waren da: Lukas, Matthäus und… wie hießen die beiden anderen jetzt? Schließlich kamen auch noch drei maskierte Typen, als ob wir Fasching hätten, und haben sich als Heilige Drei Könige ausgegeben. Sie hatten Zeug dabei, das hat so gestunken, dass ich nach einer Weile unauffällig zum Holzhacken gegangen bin.
Emil: Wie ging es Jesus, als er so im Scheinwerferlicht heranwuchs?
Josef: Ich glaube, er hat es vom ersten Moment an genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Er war ein Star, der Sohn Gottes, mehr geht nicht, und dazu seine Mutter, die ewige Jungfrau. Die Frauen kamen wegen ihm, die Männer wegen ihr. Später hat sich der Junge dann gewaltig inszeniert! Ein gigantisches Spektakel hat er abgezogen. Der Eselsritt zum Beispiel, ein Wahnsinn! Ich glaube, irgendwann hat er übertrieben und sich viele Feinde geschaffen. Einer der Jungs, die ständig an seiner Seite waren und mit ihm rumhingen, ich glaube es war Judas, ist dann von der Clique abgesprungen und hat den Römern gesagt, dass Jesus einen an der Klatsche habe.
Emil: Auffallend viele Frauen sind während der dramatischen letzten Stunden Jesus‘ gesehen worden.
Josef: Kein Wunder, er hat ja mit vielen was gehabt. Vor Verehrerinnen konnte er sich nicht retten. Richtig sexsüchtig war er, der Sohn der ewigen Jungfrau. (lacht)
Emil: Wie ging es Maria, als ihr Sohn gekreuzigt wurde?
Josef: Ich glaube, sie fühlte sich wie eine alte Jungfrau. (lacht wieder) Sie war traurig wie eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie wusste, mit Jesus war ihr kongenialer Gegenpart von ihr gegangen. Wer konnte schon ahnen, dass dieser PR-Coup des Petrus eine derart langandauernde Wirkung über den Tod Jesu hinaus haben würde.
Emil: Auch du wirst sehr verehrt von den Menschen. Es gibt viele Kirchen und Plätze auf der Erde, die deinen Namen tragen.
Josef: Ich habe keine Ahnung wieso. Ich finde, ich habe in dieser Geschichte ja schon die Arschkarte gezogen. Aber es ist halt wie es ist. – Wer hat das geschrieben? Sigmund Freud, euer neuer Gott?
Emil: Der Dichter Erich Fried hat geschrieben: Es ist was es ist, sagt die Liebe.
Josef: Auch gut. Ich geh jetzt holzhacken. Diese Tradition habe ich mir auch im Himmel beibehalten. Schöne Weihnachten!

Emil Hinterstoisser 2014 und 2015

Gewissheiten

Ich übe täglich, Ungewissheit zu akzeptieren. Das ist meine schwerste Übung. Ich hätte gerne Gewissheit.

Vor kurzem sagte jemand zu mir, die einzige Gewissheit bestehe aus Holz und sei viereckig. Doch nicht einmal dieser Gewissheit stimme ich zu: Was ist, wenn am Tag nach meinem Tod ein Gesetz erlassen wird, das die Verwendung von Holzsärgen verbietet? Dann würde mir die einzige Gewissheit genommen, an die ich in meinem Leben geglaubt habe. Was ist, wenn ich verfüge, verbrannt und in einer Urne bestattet zu werden? Dann nehme ich mir selbst diese Gewissheit.

Ein Großindustrieller baute sich eine Villa und wollte Gewissheit haben, dass nicht eingebrochen wird. Also ließ er dicke Stahlbetonmauern bauen, unterbrochen nur von dicken Stahltüren und Fenstern aus Panzerglas. Die Fenster konnte man aus Sicherheitsgründen nicht öffnen. Das Haus musste aufwändig klimatisiert werden. Als nach seinem Tod niemand mehr in diesem Gefängnis wohnen wollte, hatte man größte Schwierigkeiten, das massive Bauwerk abzureißen. Der Großindustrielle kam zu mir und sagte: Ich wollte Gewissheit haben und habe ein Gefängnis geschaffen.

Ich nehme an, dass morgen die Sonne aufgeht. Ist es gewiss? Ich habe mir angewöhnt, mich jeden Tag überraschen zu lassen von der Sonne und mich zu freuen, wenn sie wieder da ist. Ich glaube zu wissen: Der neue Tag bringt viele Überraschungen, aber ganz gewiss keine Gewissheiten.

Goldener Herbst, zwei bis drei Sekunden lang

Ich habe heute nicht viel zu sagen. Es ist eine Woche vergangen seit letztem Donnerstag. Es wäre also die Geschichte dieser vergangenen Woche zu erzählen. Ich bin ein Freund der Chronologie. Ich werde nun eine Chronologie der Ereignisse liefern, der Ereignisse seit letztem Donnerstag.

Der Herbst ist golden, wird jeden Tag goldener. Wohin wird das führen? Zu goldenen Blättern. Die Blätter werden fallen. Doch noch sind die meisten an den Bäumen, bis der erste nächtliche Frost sie lockert.

Das Glück des Lebens ist eine Momentaufnahme von maximal zwei bis drei Sekunden, die mich sprachlos macht. Wieviele Momente passieren in einer Woche? Die Vergangenheit ist vergangen. Zu oft missbrauche ich sie als Erklärung für meine Gegenwart. Die Gegenwart ächzt unter diesen Vergangenheitsbeschwichtigungen. Ehe ich die Gegenwart greifen kann, ist sie vergangen, obwohl sie gerade noch Zukunft war.

Die Chronologie der Ereignisse der vergangenen Woche mündet darin, dass ich sie nun niederschreibe. Am wichtigsten scheint mir zu sagen, was die vergangene Woche betrifft, dass der Herbst golden ist und jeden Tag goldener wird. Doch das habe ich bereits gesagt.

Es gibt noch etwas, das ich erwähnen möchte: Ich habe viele Leute getroffen letzte Woche. Manche lächelten, manche waren traurig, aber die meisten waren – gar nichts. Die haben nicht geschaut mit ihren Augen, die waren nicht hier. Es ist schade, dass sie nicht hier sind. Aber es ist ihre Sache. Ich lerne, dass Leute nicht hier sein wollen, in diesen zwei bis drei Sekunden der Gegenwart.

Ich wollte auch mal nicht hier sein, und jetzt weiß ich warum: Weil mir diese zwei bis drei Sekunden viel zu unbedeutend erschienen, um ihnen Beachtung zu schenken. Ich sah das Leben in großen Chronologien der Ereignisse, und die Größe dieser Ereignisse gab meinem Leben erst Bedeutung. So bemerkte ich nicht, dass ich es versäume, in diesen zwei bis drei Sekunden Dinge zu entscheiden und zu tun, die meinem Leben Richtung geben. Ich wurde entschieden und getan und mein Leben hat gewissermaßen ohne mich gelebt. Mein Leben ohne mich – ist das nicht gelebtes Unglück?

Soeben habe ich entschieden, weiterzuschreiben. Ich möchte noch einmal betonen, dass der Herbst golden ist, seit einer Woche, und immer goldener wird. Ansonsten gibt es nichts zu sagen, was ich im Moment sagen könnte. Weil ich sprachlos bin vor Glück.

App-Laus

Ich möchte auf folgende Frage zurückkommen: Wieso spricht man von Lausbuben und nicht von Lausmädchen? Die Haarpracht der Mädchen bietet oft eine reichere Fülle als die der Buben. Die Läuse haben dort mehr Platz, sich einzunisten. Es ist also anzunehmen, dass Läuse Mädchenköpfe Bubenköpfen vorziehen. Bei den Buben ist es ja zudem so: Wenn sie älter werden und sich gern Männer nennen, verlieren sie oft ihr Kopfhaar, sodass für die Laus wenig bis gar kein Platz zum Verstecken bleibt. Manche der Buben rasieren sich gar freiwillig die Haare vom Kopf. Dafür beobachte ich neuerdings, dass viele sich einen umso mächtigeren Bart im Gesicht wachsen lassen, der wiederum ein hervorragendes Rückzugsgebiet für Läuse darstellt. Mädchen, die sich mit solchen bärtigen Buben einlassen, rechnen wohl mit lausigen Küssen. Oder haben gemerkt, dass nicht die Haare, sondern der Bart einen Buben zu einem Lausbuben macht.

Aber ich will nicht zu negativ werden. Neben der Kopf- beziehungsweise Bartlaus gibt es eine Laus, die durchaus positive Gefühle weckt, nämlich die Applaus. Schauspieler und Bühnenschaffende freuen sich sehr über ihr Erscheinen. Sie können süchtig werden nach dieser Laus, und bleibt sie aus, kann sie das in eine schwere Schaffenskrise stürzen. Nun hat sich neuerdings eine Unterart der Applaus entwickelt, die zwiespältige Gefühle in mir hervorruft: Die sogenannte App-Laus (sprich: Äpp-Laus). Die App-Laus nistet sich in jeglichen Smartphones ein und befällt die auf ihr gespeicherten Anwendungen. Benutzt jemand auf seinem Smartphone so eine befallene App, sorgen die App-Läuse dafür, dass derjenige seinen Blick nicht mehr von seinem Smartphone abwenden kann. Das habe ich schon mehrmals beobachtet. Rote Ampeln, hupende Autos – alles ist ihm egal, weil ihn die App-Laus in seinem Bann hält. Nicht der Affe laust, sondern die App. Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass so eine befallene App lebensgefährlich ist. Wäre es nicht sinnvoll, zu warnen vor diesen lebensgefährlichen Kreaturen? Doch ich weiß nicht, ob Warnen etwas bringt.

Vor kurzem war ich wandern und sah einen, der Steine einsammelte. Das ist nicht gefährlich, doch plötzlich nahm er die Steine in den Mund und verschluckte sie. Ich sagte zu ihm: Iss doch keine Steine!, woraufhin er brüsk antwortete, es sei seine Entscheidung, ob er Steine esse oder nicht und dass mich das überhaupt nichts angehe. Er schickte mich weiter, sagte, ich solle verschwinden. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, wie er einen richtig großen Stein verschluckte. Mich würgte es bei dem Anblick. Jemand hat mir erzählt, dass er daran gestorben sei, an seinem Steineschlucken. Ich stellte mir vor, wie so ein harter Stein seinen weichen und gewundenen Darm durchbohrte und er unter großen Schmerzen elendig verreckte. Steineschlucken ist also gefährlich. Soll man jetzt vor Steinen warnen? Soll man Gebiete, in denen Steine vorkommen, zu Sperrgebieten erklären?

Als Erklärung für das Verhalten dieses Mannes könnte ich in Betracht ziehen, dass die Steine, die er verschluckte, wohl von der Steinlaus befallen waren. Oder tue ich den Läusen unrecht, wenn ich sie für alles verantwortlich mache, was mir nicht gefällt? Vielleicht gibt es die App-Laus gar nicht und ich habe sie nur erfunden? Das wäre wissenschaftlich noch zu untersuchen.

Die Dinge der Welt

Mein Freund Georg ist ein ordnungsliebender Mensch, und nichts liebt er mehr, als Dinge in eine Struktur zu bringen. Da ihn jedoch seine Beziehungen mit der Welt regelmäßig in ungeordnete Krisen stürzen, hat er neuerdings die Philosophie als Disziplin für sich entdeckt. Er studiert in letzter Zeit Buch über Buch, gerät dabei jedoch zunehmend in Unruhe.

Ich sitze mit ihm am Tisch, als er zu mir sagt: „Lieber Emil! Was ich erkenne ist, dass die Philosophie viel mit den Dingen dieser Welt zu tun hat. Meine Bücher bringen mich da nicht weiter. Das ist zu theoretisch.“
Er macht eine kurze Pause. Ich signalisiere ihm, er solle fortfahren. Was er tut.
„Lieber Emil, du bist doch ein Mensch, der sich viel mit den Dingen der Welt beschäftigt. Könntest du nicht mal rausgehen zu den Dingen der Welt, fort von den Büchern, und mir dann berichten, was du erfahren konntest?“

Es erscheint mir eine große Aufgabe, die mein Freund Georg mir da stellt. Doch er hat Recht – nichts interessiert mich mehr als die Dinge der Welt. Meine Neugier ist grenzenlos. Ich verspreche also, mich um sein Anliegen zu kümmern.

Eine große Aufgabe beginnt man am besten mit kleinen Schritten. Ich gehe raus ins Freie, das erscheint mir sinnvoll. Da finde ich die Dinge der Welt am ehesten, glaube ich. Ich sehe eine Pflanze am Wegrand stehen. Sie ist zweifelsohne ein Ding der Welt. Ich frage sie: „Wie geht es dir in deinem Grünsein?“ Sie gibt mir keine verbale Antwort. Natürlich nicht. Das wäre doch eine große Überraschung, wenn mir die Pflanze eine verbale Antwort gäbe. Doch gibt sie mir wirklich gar keine Antwort? Sie erscheint mir plötzlich viel grüner als wenn ich sie nicht gefragt hätte. Ich treffe einen Mann und frage ihn: „Wie geht es dir in deinem Mannsein?“ Er schaut mich irritiert an und sagt: „Sonst geht’s dir gut? Du hast vielleicht Probleme!“ Dann geht er weiter. Ich treffe ein Kind und frage es: „Wie geht es dir in deinem Kindsein?“ „Ich verstehe deine Frage nicht“, sagt das Kind, „aber sie ist lustig. Wollen wir etwas spielen?“ Gerne würde ich mit dem Kind etwas spielen, aber ich habe eine Mission: etwas zu erfahren über die Dinge der Welt.

Allmählich denke ich mir jedoch, dass mich diese Fragerei nicht weiterbringt. Ich sollte mich aufs Beobachten verlegen. Ich beobachte Menschen. Sie scheinen ganz nett miteinander umzugehen, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass sich viele von ihnen dauernd anschreien mit ihren Blicken und Gesten. Sie haben gequälte Gesichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die hatte oft ein gequältes Gesicht. Aber sie hat nie erzählt, was sie denn so quält. Einmal habe ich sie so lange getriezt deswegen, bis sie zwar nicht geschrien, aber geweint hat. Es klingt komisch, aber das war der schönste Moment, den ich mit meiner Großmutter hatte. So nah waren wir uns vor diesem Moment nicht und danach auch nie mehr wieder. Soll ich die Menschen, die ich beobachte, die scheinbar so nett miteinander umgehen, fragen, ob sie, nur für eine Minute, mal offen miteinander schreien? Vielleicht würde das ihre Gesichter von den gequälten Ausdrücken befreien? Ich befürchte, viele von ihnen würden sagen: Wenn ich zu schreien anfange, müsste ich mich selbst erklären. Das will ich vermeiden. Ich bleibe lieber stumm. Und außerdem: Wenn jeder schreit, wo kommen wir denn da hin? Doch ich will ja keine Fragen mehr stellen, nur beobachten. So ein Gesichtsausdruck sagt mehr als tausend Worte, die ihn widerlegen oder verheimlichen wollen, denke ich mir.

Ein weiterer Gedanke kommt während des Beobachtens zu mir: Der Mensch ist immer auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn das stimmt, wieso fällt es mir dann so schwer, mich mit mir selbst zu befassen? Wieso ist es ein scheinbar automatisiertes Muster, auf andere zu zeigen, obwohl ich selbst der Betroffene bin? Was ist so schlimm an mir, dass mir dabei unbehaglich werden könnte? Mir kommt jetzt die entscheidende Frage in den Sinn, die ich mir zu stellen habe: „Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ Das ist die entscheidende Frage, und nur wenn ich sie mir beantworte, können die Dinge der Welt einen Sinn für mich ergeben.

Ich breche meine Beobachtungen ab und gehe voller Freude über diese Erkenntnis zu Georg. Ich setze mich zu ihm und sage: „Georg, wenn du den Dingen der Welt auf den Grund gehen willst, dann frage dich zuallererst: ‚Georg, wie geht es dir in deinem Georgsein?‘ Als ich mir selbst diese Frage stellte, erschienen mir die Pflanzen plötzlich viel grüner, die Menschen viel menschlicher und die Sonne viel heller.“

„Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musstest du rausgehen? Das ist herzlich wenig. Ich habe dich losgeschickt, um etwas über die Dinge der Welt zu erfahren, und du wirfst mir alles wieder zurück? Hättest du mir das nicht gleich sagen können?“

„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen“, murmle ich für mich, durch Georgs Aussage an meinen eigenen Gedanken mich erinnernd.
„Was?“ fragt Georg
„Nein“, sage ich, „hätte ich nicht. Ich hätte es dir nicht gleich sagen können“, beantworte ich Georgs Frage.
„Nein! Was du gerade gemurmelt hast meine ich!“
„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.“

Enttäuscht wendet Georg seinen Blick von mir ab. Er sieht zum Fenster hinaus und beachtet mich nicht mehr. Ein gequälter Ausdruck liegt in seinem Gesicht. Ein stiller Schrei liegt in der Luft. Ich entscheide mich zu gehen. Georg jetzt allein zu lassen erscheint mir das einzig Sinnvolle. Leise schließe ich die Tür. Ein Gedanke kommt zu mir: Um sich selbst zu erfahren, geht der Mensch hinaus zu den Dingen der Welt und begegnet ihnen.

„Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ frage ich mich. Ich gehe hinaus in den Tag, der noch lange nicht zu Ende ist.

Der Duschkopf

Am Meer gibt es oft Duschen am Strand, damit man sich das Salz vom Körper waschen kann. Auch ich gehöre zu denjenigen, die solche Duschen gerne benutzen, weil mich das Salz sonst juckt, wenn ich es mir nicht vom Körper wasche.

An schönen Sommertagen kann es nun vorkommen, dass sich vor einer solchen Dusche eine kleine Schlange bildet. In solch einer kleinen Schlange befinde ich mich gerade, als plötzlich ein Herr, der unter der Dusche steht, einen lauten Schrei von sich gibt. Alle in der Schlange und sonstige Umstehende schauen daraufhin zu ihm, während er, seinen Rücken mir und den anderen Wartenden zugewandt, wie angewurzelt stehen bleibt. Zögernd dreht er seinen Kopf über die Schulter. Alle warten auf eine Erklärung für seinen Schrei. Ist etwas passiert? Ist alles in Ordnung? Der Herr scheint sich zu sammeln und sagt, immer wieder unterbrochen von einem verlegenen Lächeln: „Diese Dusche ist eine tolle Sache. Um sich das Salz vom Körper zu waschen. Einfach herrlich. Nicht? Wobei ich das Meer an sich, obwohl es voller Salz ist, ja schon sehr mag. Ich meine nicht nur das Baden im Meer. Sondern das Meer an sich. Betrachtet man zum Beispiel die Geschichte der Seefahrt…“

Er setzt gerade an zu erklären, wie die Portugiesen die Hoheit über die Meere erobert haben, als der erste der Wartenden in der Schlange seinen Vortrag unterbricht und ihn fragt, ob er denn nicht neben der Dusche weitererzählen könne, denn er wolle jetzt selbst gerne duschen. Der Mann tritt verlegen zur Seite, als ob er bei etwas sehr Widerwärtigem ertappt worden sei. Er mustert die umstehenden Leute. Hat er Angst, ein Geheimnis von sich preiszugeben? Sein Schrei von vorhin liegt in der Luft.

Unsere Blicke treffen sich. Es ist ein kurzer, aber intensiver Moment. Der Mann zögert. Welche Konsequenzen zieht er aus diesem Moment? Dann stürmt er auf mich zu, packt mich und reißt mich nieder, sodass wir beide auf dem Boden zu liegen kommen.
„Hören Sie!“, sagt er äußerst erregt zu mir. „Das, das geht niemanden etwas an! Niemanden!“
„Was denn?“ frage ich kleinlaut.
„Der Duschkopf!“
Fragende Blicke meinerseits.
„Der Duschkopf machte eben ein sehr komisches Geräusch. Haben Sie es gehört? – Sie müssen es gehört haben!“
Ich getraute mich nicht zu widersprechen.
„Als ich ein kleiner Junge war, hat sich bei einem ähnlichen Geräusch der Duschkopf gelöst und ist mir auf den Kopf gefallen. Es tat höllisch weh. Meine Eltern hatten es nicht gehört, sind erst sehr spät zu mir gekommen. Ich fühlte mich so alleine, so im Stich gelassen.“
Er fängt zu schluchzen an.
Plötzlich wird er wieder ernst, packt mich am Kragen und sagt: „Aber das geht niemanden etwas an. Niemanden!“
Er schaut sich um, richtet sich vorsichtig auf und schleicht davon. Das geht niemanden etwas an! hallt es nach in meinen Ohren.
„Niemanden? Nicht einmal Sie?“ sage ich, aber er ist längst davongegangen und hört mich nicht mehr.

Ich blicke zur Dusche und sehe, dass sie gerade frei ist. Erst einmal abduschen, was ich ohnehin wollte, das ist eine gute Idee, denke ich. Ich stelle mich unter die Dusche und betrachte den Duschkopf. Alles scheint normal. Ich mache das Wasser an. Keinerlei Geräusche. Während das Wasser auf mich prasselt, denke ich: Dem Mann muss geholfen werden! Er muss an die Duschköpfe der Welt wieder herangeführt werden. Und es ist am besten, mit diesem zu beginnen. Ich gehe am Strand umher und suche den Mann. Ich gehe nach hinten, nach vorne, blicke durch alle Reihen. Schließlich finde ich ihn tatsächlich, in einer der versteckteren Ecken. Er blättert in einem Buch über die Geschichte der Seefahrt.
„Kommen Sie!“ sage ich, „ich will Ihnen etwas zeigen.“

Er weigert sich. Ich bleibe hartnäckig, und schließlich kommt er mit. Ich gehe mit ihm zur Dusche. Sie ist frei, keine Schlange davor. Ich stelle mich darunter, mache das Wasser an. Es prasselt auf meinen Körper. Der Mann steht daneben und starrt wie gelähmt auf den Duschkopf. Sein Blick hat etwas Irres, so als sehe er alle Duschköpfe der Welt vor sich, die auf seinen und auf die Köpfe aller seefahrenden Portugiesen knallen. Dann beginnt er, in Schleifen um die Dusche herumzurennen und ruft dabei wie verrückt:
„Duschköpfe beherrschen die Weltmeere! Sie haben die Portugiesen besiegt!“
Er ruft es immer wieder, während er seine Schleifen um die Dusche dreht. Ich spüre Zorn in mir, wahrscheinlich weil mir das alles zu viel wird und ich rufe in seine Schreie hinein:
„Lassen Sie doch die Portugiesen in Frieden! Die geht das nichts an! Es geht um Sie und den kleinen Jungen in Ihnen, der mit den Duschköpfen dieser Welt Frieden schließen soll!“

Er hört mich nicht. Er läuft wie in Trance seine Schleifen. Als ein kleiner Junge seinen Weg kreuzt, stößt er ihn einfach um. Der kleine Junge fängt fürchterlich zu brüllen an. Die Situation scheint völlig zu eskalieren. Dann packen ihn zwei andere Männer und halten ihn fest. Kurz wehrt er sich. Dann fängt er hemmungslos zu weinen an. Dieses Weinen, finde ich, ist das Beste an dieser Geschichte, denn ich hatte das Gefühl, durch die Tränen schien er zu begreifen, dass es ihn sehr wohl etwas angeht, sein Verhältnis zu den Duschköpfen dieser Welt, und dass weder Portugiesen noch sonst wer ihm das abnehmen werden.

Das Wasser prasselt noch immer auf meinen Körper ohne dass ich es merke. So gefesselt bin ich von dieser Szene vor mir. Da berührt mich jemand leicht am Arm und gibt mir zu verstehen, dass er duschen wolle. Für einen kurzen Moment schaue ich die Person verständnislos an über diese banale Bitte in diesem Moment. Dann trete ich zur Seite und sage: „Vorsicht. Duschkopf!“

Was geht mich das jetzt an?

Konzepte (Rhythmus & Beziehung)

Ich habe Konzepte ausgearbeitet. Ich finde sie großartig. Meine tiefe Überzeugung erfüllt meinen ganzen Körper mit einem tiefen Schauer. Das Hauptkonzept lautet: Der Rhythmus bestimmt das Leben. Das erste Unterkonzept lautet: Wenn zwei Individuen eine Beziehung eingehen, gleichen sich ihre Rhythmen an.

Die Sonne schickt helles Licht auf die Erde. Das Gras ist grün. Sie liegt darin, nackt und frei. Ist das das zweite Unterkonzept: Ein nackter Körper ist frei? Wobei hier gleich das dritte Unterkonzept nachzuschicken wäre: Ein freier Körper hat freie Gefühle und Gedanken. Wieder geht ein Schauer durch meinen Körper. Eine Unbeschwertheit, als ich die Grashalme unter meinen Füßen spüre. Mit tiefster Überzeugung bin ich mir sicher, dass dies der Zeitpunkt ist, uns rhythmisch aufeinander einzustimmen und eine Beziehung einzugehen. Ich vermeine körperliche Signale zu empfangen und suche Blickkontakt. Doch der Blickkontakt will sich nicht recht einstellen. Ist das die erste Rhythmusstörung unserer Beziehung, oder ist die Beziehung noch gar nicht vorhanden? Ich stehe auf, um uns zum blauen Wasser zu bringen, doch es ist keine Bereitschaft zu erkennen, dass sie mich begleitet.

Ich komme aus dem Wasser zurück, lege mich ins Gras und schließe die Augen. Da beugt sie sich über mich und sagt: „Begehre mich! Begehre mich mit deinen Blicken!“ Ich öffne die Augen. Jetzt ist Blickkontakt da. Ihre Augen blicken mich scharf an und wiederholen ihre Worte: „Begehre mich!“ Ich fühle mich überfordert. Nichts tue ich mehr als sie begehren, doch die Vehemenz, mit der sie mein Begehren fordert, enttäuscht mich. Der Zauber ist verflogen. Ihre scharfen Blicke töten mein Begehren. Sollte eine Beziehung zwischen uns bestanden haben, so ist das das definitive Ende davon. Der Rhythmus. Wo ist der Rhythmus? Ihre Pauken der Vehemenz gegen meine filigrane Jazz-Trommel. Erstes Unterkonzept, Wiederholung: Wenn zwei Individuen eine Beziehung eingehen, gleichen sich ihre Rhythmen an. Erstes Unterkonzept des ersten Unterkonzepts: Wenn eine Individuum eine Beziehung mit einem anderen eingehen will, das zweitere jedoch nicht, läuft das erstere Gefahr, vom Rhythmus des zweiteren erschlagen zu werden. Zweites Unterkonzept des ersten Unterkonzepts: Das erste Individuum tut gut daran, in so einer Situation bei seinem eigenen Rhythmus zu bleiben und ein Angleichen der Rhythmen nicht weiter zu verfolgen.

Strenge und fordernde Blicke von ihr: „Begehre mich!“ Ja, ich begehre dich. Aber auf perverse Weise, weil das Begehren keinen Rhythmus findet, sondern auf Abgrenzung und Entfremdung beruht. Ich fühle nichts. Meine Konzepte scheinen zu stimmen. Wenngleich sie ein aufwändiges Konstrukt sind für etwas, dass in rhythmischen Störungen und Nicht-Beziehung endet. Ich habe den Gedanken, sie zu fragen über ihre Konzepte, verwerfe ihn aber schnell.

Sie verlässt das grüne Gras. Es scheint, als ob das helle Licht der Sonne merkwürdig dunkel wird um sie. Schlusskonzept: Leben ohne Rhythmus und Beziehung ist nicht möglich.

Was ist jetzt?

Es ist vorbei. Das, was ich Vergangenheit nenne, ist vorbei. Die Sekunde, die jetzt ist, ist in der nächsten Sekunde vorbei. Doch was ist jetzt?

Ich spüre es so sehr, obwohl es längst vorbei ist. Diese Straße im engen Bergtal, auf der ich gehe, hat mein Großvater mitgebaut, damals, im Straßenbaufieber im Deutschen Reich der 1930er Jahre. Das ist vorbei. Doch ich bilde mir ein, ihn vor mir zu sehen, hier in diesem Tal. Was weiß ich schon von meinem Großvater! Ich spüre ihn nur, als ob die Vergangenheit nicht vorbei wäre, sondern jetzt wiederkommt zu mir.

Der Schlaf in der Hütte in diesem engen Tal fällt mir nicht leicht. Die Zukunft scheint zentnerschwer vor mir zu liegen. Ich stehe auf, gehe hinaus, hoch auf die Almwiese und blicke in die mondklare Nacht. Was ist jetzt? Ich blicke hinauf zu den Sternen und sage zu ihnen:

Die Vergangenheit beklage ich.
Die Zukunft befürchte ich.
Die Gegenwart bestreite ich.
Lebe ich denn?

Die Sterne schauen mich an, und in ihrer kraftvollen Ruhe bedeuten sie mir: Die Gegenwart sind wir. Ich hole tief Luft und spüre den Atem in mir. Ich spüre die Energie, die er mir gibt. Ist das das Leben? Vor mir wiegt sich das Gras in einem leichten Windstoß, vom Mondlicht beschienen. Ich rieche die Düfte der Pflanzen. Die Baumwipfel stehen mir Spalier.

Was ist jetzt? Die Beschreibung bleibt ungenau. Ich atme.