Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Nur Liebe

Sie lagen nebeneinander und spürten sich. „Liebst du mich?“ fragte sie ihn. „Ja, ich liebe dich!“ sagte er.

Was ist an diesem Dialog auszusetzen? Nichts. Er ist wunderschön. Der Haken ist: Sie dachte sich das Wort nur in diesen Dialog hinein. „Liebst du nur mich?“ – „Ja, ich liebe nur dich!“

Während er seine Antwort so dachte: „Ja, ich liebe dich! Weil ich mein Leben liebe, und du gibst meinem Leben Lebendigkeit.“

Durch ihr Nur war der Eifersucht Tür und Tor geöffnet. Ihre Beziehung entwickelte sich wie das Leben eines Vogels im Käfig, der seiner Kernfähigkeit, dem Fliegen, beraubt ist. Was ist eine Beziehung wert, die ihrer Kernfähigkeit, dem Lieben, beraubt ist?

Sterben wollen

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner.

„Dein Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot“, sagte ich. Wir spazierten durch den Park. Es war abends, bereits dunkel. Der Mond schien hell.

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner. „Da!“ sagte er, und deutete auf eine Stelle vor sich. „Siehst du ihn denn nicht?“

„Wo denn?“

„Da! Sieh nur, wie aufrecht und aufgeschlossen er da steht. So kenne ich ihn nicht. Ich kenne meinen Vater nur als geknickten Mann, der einen großen Sack Trauer mit sich herumschleppt, den er mit niemandem teilt. Jetzt steht er da, aufrecht und selbstbewusst. Still! Er spricht zu mir:“

„Ich bin 53 Jahre alt. Ich will sterben. Es ist Zeit zu gehen.“

„Hast du das gehört? Wie er das gesagt hat! So gütig und würdevoll. Ich kann ihm nicht böse sein. Es ist gut. Mein Gott, siehst du ihn denn nicht?“ flehte Vorderbrandner mich an. „Wie das Mondlicht ihn bescheint! Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben, weil ich ihn einfach nur bewundere.“

„Da! Da kommt ein zweiter Mann. Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, woher er kommt. Vielleicht ist er den kahlen Bäumen des März entstiegen wie eine Knospe im Frühling. Er stellt sich neben meinen Vater. Er ist etwas jünger als mein Vater, ohne Zweifel. Wer ist das?“

Vorderbrandner stand mit konzentriertem Blick neben mir, und ich spürte: Ich darf ihn nicht unterbrechen.

„Es ist mein Großvater“, sagte er plötzlich. „Natürlich, es ist mein Großvater. Wie sie dastehen, so voller Güte und dennoch seltsam entrückt und unnahbar. Sie sehen mich an. Sie sagen nichts. Nichts, was ich hören kann. Doch sie sagen ganz deutlich mit ihren Gesichtern: Wir wollen sterben.“

Dann war es still. Vorderbrandner sagte nichts. Sein Blick entspannte sich etwas, und doch war noch immer eine große Konzentration in seinen Augen.

„Was ist jetzt?“ fragte ich vorsichtig.

„Sie haben sich umgedreht und sind weggegangen. Dort vorne bei den Bäumen gehen sie, friedlich und einträchtig. Ich glaube es geht ihnen gut. Ich lasse sie gehen.“

Wir standen da, im Mondlicht des kalten Märzabends. Vorderbrandner redete weiter:

„Ich begreife jetzt, warum ich mich oft dem Tod so nahe, so vertraut gefühlt habe. Weil ich so sein wollte wie mein Vater. Und was will ein Sohn mehr als sterben, wenn sein Vater sterben will.“

Vorderbrandner fing laut zu schreien an. Er rannte wie wild umher und schrie aus voller Kehle:
„Nein! Nein! Ich will nicht sterben. Ich will leben! Ich liebe das Leben doch über alles!“
Er warf sich auf den Boden und begann hemmungslos zu weinen.

Ich stand daneben, im hellen Mondlicht. Es sprach aus mir wie ein Gebet:

„Vorderbrandner, du lebst! Und wie du lebst! Deine Wut und deine Tränen zeugen von deiner unbändigen Lebenskraft. Die Zeit wird kommen, da wirst auch du sterben wollen. Doch jetzt wirst du leben, leben, leben!“

 

Oskars Anfang und Ende

Oskar, der früher Emil hieß, ist ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums. Oskar spaziert gern durch die Straßen Münchens. Wir haben ihn schon einige Male dabei begleitet. Heute wollen wir uns die Frage stellen: Wer, außer ein Hagestolz, ist Oskar?

Oskar ist ein Wissenschaftler. Er ist mit der dualistischen Weltsicht groß geworden, hat sie verinnerlicht durch und durch. Einer seiner Grundsätze, ohne dass er es selbst weiß, lautet: Gebt mir das Böse, damit ich gut sein kann!

Wir erinnern uns, dass Oskar die Schleißheimer Straße in München begehen wollte, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er hatte große Schwierigkeiten, den Anfang der Schleißheimer Straße zu finden, bis er feststellen musste, dass es den Anfang der Schleißheimer Straße gar nicht mehr gibt, weil der Anfang der Schleißheimer Straße jetzt Rudi-Hierl-Platz heißt (München, Schleißheimer Straße). Oskar, als Meister der Dualität, sagte sich: Wo ein Anfang, da ein Ende. Und schlussfolgerte nach seiner Erfahrung mit der Schleißheimer Straße: Wo kein Anfang – da kein Ende. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.

Er dachte an den Anfang und das Ende vieler Dinge, bis er schließlich bei seinem Leben angelangt war. Wann hat es begonnen? Als er den Leib seiner Mutter verließ? Als seine Mutter und sein Vater sich liebten? Oder irgendwo dazwischen? Oder gar schon davor?

Als Dualist, der sich sehr der Physik zugewandt fühlt, dachte er jetzt: Aus nichts kann nichts werden, also ist schon immer etwas da gewesen; wenn es auch nicht das war, was ich jetzt mein Leben nenne.

Oskar ging ins Bett. Von dort aus lief er die Schleißheimer Straße entlang, und sie nahm einfach kein Ende. Sie war wie ein endloser Raum. Das machte Oskar ganz schwindelig. Doch der Schwindel beunruhigte ihn nicht, nein – er wiegte ihn in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Agathe ohne Fenster

„Vor Monaten wollte ich dir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen (Agathe und das Fenster). Doch dann habe ich dir die Geschichte von Josefine und den Türen erzählt.“

„Ich glaube, du hast mir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählt. Ich kann mich aber nicht mehr an sie erinnern. Erzähl sie mir nochmal!“

„Die Geschichte ist schnell erzählt: Agathe steht an ihrem Fenster, während ich ins Freie eines schönen Tages laufe, über grüne Wiesen und durch bunte Wälder. Doch Agathe, anstatt mitzukommen, schließt das Fenster hinter mir.“

„Das ist eine schöne und eine traurige Geschichte.“

„Findest du? Es ist eine eingebildete Geschichte. Denn Agathe ist nie am Fenster gestanden als ich von ihr ging und schon gar nicht hat sie es zugemacht. Ich bilde mir das nur ein.“

„Vielleicht willst du es dir einbilden. Steht das Fenster für etwas, das du zwischen Agathe und dich schiebst, damit es euch trennt?“

„Wieso sollte ich wollen, dass uns etwas trennt?“

„Keine Ahnung. Ich suche nach Gründen, warum du mir seit Monaten die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen willst.“

„Gründe! Es gibt so viele Gründe, unendlich viele. Die ich noch nicht betreten habe.“

„Leg deine Scheu ab, diese Gründe zu betreten. Denk dir Agathe ohne das Fenster, ohne irgendetwas, das euch trennt.“

„Agathe ohne irgendetwas. Das ist gut. Das gefällt mir. Ich glaube, ich dringe zu den wahren Gründen meines Daseins vor.“

Kleine Philosophie des Lebens

Jeden Tag erwache ich und frage mich: Was ist das Leben? Dann lebe ich, den ganzen Tag, und vor lauter Leben vergesse ich die Frage, die ich mir am Morgen gestellt habe.

Abends gehe ich ins Bett und erinnere mich an die Frage die ich mir morgens gestellt habe: Was ist das Leben? Um eine Antwort zu finden, lasse ich den Tag Revue passieren und sage mir schließlich: Das ist es, das Leben. Und schlafe zufrieden ein.

Josef im Interview

Neulich bin ich in den Himmel aufgefahren und habe den heiligen Josef zu einem Interview getroffen.

Emil: Josef, die Menschen auf der Erde feiern wieder mal Weihnachten. Freust du dich darüber?
Josef: Ich weiß nicht recht. Ich bin etwas zwiegespalten.
Emil: Inwiefern?
Josef: Die Menschen feiern Jesus und Maria, und ich steh blöd daneben.
Emil: Wie war das damals, als Maria dir sagte, sie sei schwanger?
Josef: Sie druckste ganz schön rum. Klar, das Kind war ja nicht von mir, obwohl wir verlobt waren und heiraten wollten.
Emil: Von wem war denn das Kind?
Josef: Sie hat es mir nie gesagt. Ich vermute, sie hatte eine Affäre mit Hans dem Schreiner.
Emil: Was hat sie stattdessen gesagt?
Josef: Sie redete plötzlich davon, dass sie ein Kind von Gott empfange, und dass ihr, wie durch ein Wunder, ohne sexuelle Aktivität die Frucht in den Leib gelegt worden sei. Das fand ich komisch. Denn so schlimm finde ich sexuelle Aktivität nicht, dass man auf so ein Wunder hoffen müsste. Außerdem machte ich mir ernsthaft Sorgen um sie. Hatte sie solche Panik, dass ich sie verlasse, was sie dazu veranlasste, eine solch abstruse Geschichte zu erfinden? Oder geht mit Schwangeren generell die Phantasie durch?
Emil: Du bist aber dennoch bei ihr geblieben.
Josef: Ja. Da kam der Beschützerinstinkt in mir durch. Außerdem fand ich sie schon wahnsinnig toll. Sie hat sich ja auch trotz des Kindes für mich und gegen Hans den Schreiner entschieden. Außer beim Sex. Da blieb sie hartnäckig.
Emil: Wie? Sie hatte danach noch Sex mit Hans dem Schreiner?
Josef: Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Ich vermute, ihr damaliger PR-Manager, wie hieß der nochmal – Petrus, glaube ich – hatte großen Anteil daran. Also, ich weiß nicht ob sie mit dem auch was hatte, ist auch nicht wichtig, aber auf alle Fälle wollte der die Nummer mit dem Sohn Gottes groß rausbringen.
Emil: Du willst also sagen, Maria hat aus PR-technischen Gründen keinen Sex mit dir gehabt?
Josef: Als das Ding voll am Laufen war, also die Story mit dem Sohn Gottes und der Jungfräulichkeit, waren Maria und ich einmal sehr leidenschaftlich über uns hergefallen, als sie plötzlich von mir abrückte und sagte, sie dürfe keinen Sex mit mir haben, denn Petrus hätte gemeint, sie müsse als Jungfrau authentisch wirken. Wenn sie mit mir Sex hätte, würde man das merken. Da wurde ich wirklich zornig auf Petrus und wollte dafür sorgen, dass Maria aus dieser Nummer rauskommt. Sie aber meinte, ich solle bedenken, wieviel wir verdienen mit ihren Auftritten als Jungfrau Maria im Gegensatz zu meinem kärglichen Zimmermann-Lohn. Da habe ich klein beigegeben.
Emil: Und dein Sohn, ääh, ich meine Jesus, welche Rolle hat der dabei gespielt, als er auf die Welt gekommen war?
Josef: Bei seiner Geburt waren wir bei meinen Eltern im Bethlehem. Als bei Maria die Wehen einsetzten, verordnete Petrus, wir sollen in den alten Stall gehen, er habe dort bereits alles arrangiert. Der Stall war schön mit Kerzen und Fackeln ausgeleuchtet. Vier Reporter waren da: Lukas, Matthäus und… wie hießen die beiden anderen jetzt? Schließlich kamen auch noch drei maskierte Typen, als ob wir Fasching hätten, und haben sich als Heilige Drei Könige ausgegeben. Sie hatten Zeug dabei, das hat so gestunken, dass ich nach einer Weile unauffällig zum Holzhacken gegangen bin.
Emil: Wie ging es Jesus, als er so im Scheinwerferlicht heranwuchs?
Josef: Ich glaube, er hat es vom ersten Moment an genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Er war ein Star, der Sohn Gottes, mehr geht nicht, und dazu seine Mutter, die ewige Jungfrau. Die Frauen kamen wegen ihm, die Männer wegen ihr. Später hat sich der Junge dann gewaltig inszeniert! Ein gigantisches Spektakel hat er abgezogen. Der Eselsritt zum Beispiel, ein Wahnsinn! Ich glaube, irgendwann hat er übertrieben und sich viele Feinde geschaffen. Einer der Jungs, die ständig an seiner Seite waren und mit ihm rumhingen, ich glaube es war Judas, ist dann von der Clique abgesprungen und hat den Römern gesagt, dass Jesus einen an der Klatsche habe.
Emil: Auffallend viele Frauen sind während der dramatischen letzten Stunden Jesus‘ gesehen worden.
Josef: Kein Wunder, er hat ja mit vielen was gehabt. Vor Verehrerinnen konnte er sich nicht retten. Richtig sexsüchtig war er, der Sohn der ewigen Jungfrau. (lacht)
Emil: Wie ging es Maria, als ihr Sohn gekreuzigt wurde?
Josef: Ich glaube, sie fühlte sich wie eine alte Jungfrau. (lacht wieder) Sie war traurig wie eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie wusste, mit Jesus war ihr kongenialer Gegenpart von ihr gegangen. Wer konnte schon ahnen, dass dieser PR-Coup des Petrus eine derart langandauernde Wirkung über den Tod Jesu hinaus haben würde.
Emil: Auch du wirst sehr verehrt von den Menschen. Es gibt viele Kirchen und Plätze auf der Erde, die deinen Namen tragen.
Josef: Ich habe keine Ahnung wieso. Ich finde, ich habe in dieser Geschichte ja schon die Arschkarte gezogen. Aber es ist halt wie es ist. – Wer hat das geschrieben? Sigmund Freud, euer neuer Gott?
Emil: Der Dichter Erich Fried hat geschrieben: Es ist was es ist, sagt die Liebe.
Josef: Auch gut. Ich geh jetzt holzhacken. Diese Tradition habe ich mir auch im Himmel beibehalten. Schöne Weihnachten!

Emil Hinterstoisser 2014 und 2015

Gewissheiten

Ich übe täglich, Ungewissheit zu akzeptieren. Das ist meine schwerste Übung. Ich hätte gerne Gewissheit.

Vor kurzem sagte jemand zu mir, die einzige Gewissheit bestehe aus Holz und sei viereckig. Doch nicht einmal dieser Gewissheit stimme ich zu: Was ist, wenn am Tag nach meinem Tod ein Gesetz erlassen wird, das die Verwendung von Holzsärgen verbietet? Dann würde mir die einzige Gewissheit genommen, an die ich in meinem Leben geglaubt habe. Was ist, wenn ich verfüge, verbrannt und in einer Urne bestattet zu werden? Dann nehme ich mir selbst diese Gewissheit.

Ein Großindustrieller baute sich eine Villa und wollte Gewissheit haben, dass nicht eingebrochen wird. Also ließ er dicke Stahlbetonmauern bauen, unterbrochen nur von dicken Stahltüren und Fenstern aus Panzerglas. Die Fenster konnte man aus Sicherheitsgründen nicht öffnen. Das Haus musste aufwändig klimatisiert werden. Als nach seinem Tod niemand mehr in diesem Gefängnis wohnen wollte, hatte man größte Schwierigkeiten, das massive Bauwerk abzureißen. Der Großindustrielle kam zu mir und sagte: Ich wollte Gewissheit haben und habe ein Gefängnis geschaffen.

Ich nehme an, dass morgen die Sonne aufgeht. Ist es gewiss? Ich habe mir angewöhnt, mich jeden Tag überraschen zu lassen von der Sonne und mich zu freuen, wenn sie wieder da ist. Ich glaube zu wissen: Der neue Tag bringt viele Überraschungen, aber ganz gewiss keine Gewissheiten.

Goldener Herbst, zwei bis drei Sekunden lang

Ich habe heute nicht viel zu sagen. Es ist eine Woche vergangen seit letztem Donnerstag. Es wäre also die Geschichte dieser vergangenen Woche zu erzählen. Ich bin ein Freund der Chronologie. Ich werde nun eine Chronologie der Ereignisse liefern, der Ereignisse seit letztem Donnerstag.

Der Herbst ist golden, wird jeden Tag goldener. Wohin wird das führen? Zu goldenen Blättern. Die Blätter werden fallen. Doch noch sind die meisten an den Bäumen, bis der erste nächtliche Frost sie lockert.

Das Glück des Lebens ist eine Momentaufnahme von maximal zwei bis drei Sekunden, die mich sprachlos macht. Wieviele Momente passieren in einer Woche? Die Vergangenheit ist vergangen. Zu oft missbrauche ich sie als Erklärung für meine Gegenwart. Die Gegenwart ächzt unter diesen Vergangenheitsbeschwichtigungen. Ehe ich die Gegenwart greifen kann, ist sie vergangen, obwohl sie gerade noch Zukunft war.

Die Chronologie der Ereignisse der vergangenen Woche mündet darin, dass ich sie nun niederschreibe. Am wichtigsten scheint mir zu sagen, was die vergangene Woche betrifft, dass der Herbst golden ist und jeden Tag goldener wird. Doch das habe ich bereits gesagt.

Es gibt noch etwas, das ich erwähnen möchte: Ich habe viele Leute getroffen letzte Woche. Manche lächelten, manche waren traurig, aber die meisten waren – gar nichts. Die haben nicht geschaut mit ihren Augen, die waren nicht hier. Es ist schade, dass sie nicht hier sind. Aber es ist ihre Sache. Ich lerne, dass Leute nicht hier sein wollen, in diesen zwei bis drei Sekunden der Gegenwart.

Ich wollte auch mal nicht hier sein, und jetzt weiß ich warum: Weil mir diese zwei bis drei Sekunden viel zu unbedeutend erschienen, um ihnen Beachtung zu schenken. Ich sah das Leben in großen Chronologien der Ereignisse, und die Größe dieser Ereignisse gab meinem Leben erst Bedeutung. So bemerkte ich nicht, dass ich es versäume, in diesen zwei bis drei Sekunden Dinge zu entscheiden und zu tun, die meinem Leben Richtung geben. Ich wurde entschieden und getan und mein Leben hat gewissermaßen ohne mich gelebt. Mein Leben ohne mich – ist das nicht gelebtes Unglück?

Soeben habe ich entschieden, weiterzuschreiben. Ich möchte noch einmal betonen, dass der Herbst golden ist, seit einer Woche, und immer goldener wird. Ansonsten gibt es nichts zu sagen, was ich im Moment sagen könnte. Weil ich sprachlos bin vor Glück.

App-Laus

Ich möchte auf folgende Frage zurückkommen: Wieso spricht man von Lausbuben und nicht von Lausmädchen? Die Haarpracht der Mädchen bietet oft eine reichere Fülle als die der Buben. Die Läuse haben dort mehr Platz, sich einzunisten. Es ist also anzunehmen, dass Läuse Mädchenköpfe Bubenköpfen vorziehen. Bei den Buben ist es ja zudem so: Wenn sie älter werden und sich gern Männer nennen, verlieren sie oft ihr Kopfhaar, sodass für die Laus wenig bis gar kein Platz zum Verstecken bleibt. Manche der Buben rasieren sich gar freiwillig die Haare vom Kopf. Dafür beobachte ich neuerdings, dass viele sich einen umso mächtigeren Bart im Gesicht wachsen lassen, der wiederum ein hervorragendes Rückzugsgebiet für Läuse darstellt. Mädchen, die sich mit solchen bärtigen Buben einlassen, rechnen wohl mit lausigen Küssen. Oder haben gemerkt, dass nicht die Haare, sondern der Bart einen Buben zu einem Lausbuben macht.

Aber ich will nicht zu negativ werden. Neben der Kopf- beziehungsweise Bartlaus gibt es eine Laus, die durchaus positive Gefühle weckt, nämlich die Applaus. Schauspieler und Bühnenschaffende freuen sich sehr über ihr Erscheinen. Sie können süchtig werden nach dieser Laus, und bleibt sie aus, kann sie das in eine schwere Schaffenskrise stürzen. Nun hat sich neuerdings eine Unterart der Applaus entwickelt, die zwiespältige Gefühle in mir hervorruft: Die sogenannte App-Laus (sprich: Äpp-Laus). Die App-Laus nistet sich in jeglichen Smartphones ein und befällt die auf ihr gespeicherten Anwendungen. Benutzt jemand auf seinem Smartphone so eine befallene App, sorgen die App-Läuse dafür, dass derjenige seinen Blick nicht mehr von seinem Smartphone abwenden kann. Das habe ich schon mehrmals beobachtet. Rote Ampeln, hupende Autos – alles ist ihm egal, weil ihn die App-Laus in seinem Bann hält. Nicht der Affe laust, sondern die App. Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass so eine befallene App lebensgefährlich ist. Wäre es nicht sinnvoll, zu warnen vor diesen lebensgefährlichen Kreaturen? Doch ich weiß nicht, ob Warnen etwas bringt.

Vor kurzem war ich wandern und sah einen, der Steine einsammelte. Das ist nicht gefährlich, doch plötzlich nahm er die Steine in den Mund und verschluckte sie. Ich sagte zu ihm: Iss doch keine Steine!, woraufhin er brüsk antwortete, es sei seine Entscheidung, ob er Steine esse oder nicht und dass mich das überhaupt nichts angehe. Er schickte mich weiter, sagte, ich solle verschwinden. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, wie er einen richtig großen Stein verschluckte. Mich würgte es bei dem Anblick. Jemand hat mir erzählt, dass er daran gestorben sei, an seinem Steineschlucken. Ich stellte mir vor, wie so ein harter Stein seinen weichen und gewundenen Darm durchbohrte und er unter großen Schmerzen elendig verreckte. Steineschlucken ist also gefährlich. Soll man jetzt vor Steinen warnen? Soll man Gebiete, in denen Steine vorkommen, zu Sperrgebieten erklären?

Als Erklärung für das Verhalten dieses Mannes könnte ich in Betracht ziehen, dass die Steine, die er verschluckte, wohl von der Steinlaus befallen waren. Oder tue ich den Läusen unrecht, wenn ich sie für alles verantwortlich mache, was mir nicht gefällt? Vielleicht gibt es die App-Laus gar nicht und ich habe sie nur erfunden? Das wäre wissenschaftlich noch zu untersuchen.

Die Dinge der Welt

Mein Freund Georg ist ein ordnungsliebender Mensch, und nichts liebt er mehr, als Dinge in eine Struktur zu bringen. Da ihn jedoch seine Beziehungen mit der Welt regelmäßig in ungeordnete Krisen stürzen, hat er neuerdings die Philosophie als Disziplin für sich entdeckt. Er studiert in letzter Zeit Buch über Buch, gerät dabei jedoch zunehmend in Unruhe.

Ich sitze mit ihm am Tisch, als er zu mir sagt: „Lieber Emil! Was ich erkenne ist, dass die Philosophie viel mit den Dingen dieser Welt zu tun hat. Meine Bücher bringen mich da nicht weiter. Das ist zu theoretisch.“
Er macht eine kurze Pause. Ich signalisiere ihm, er solle fortfahren. Was er tut.
„Lieber Emil, du bist doch ein Mensch, der sich viel mit den Dingen der Welt beschäftigt. Könntest du nicht mal rausgehen zu den Dingen der Welt, fort von den Büchern, und mir dann berichten, was du erfahren konntest?“

Es erscheint mir eine große Aufgabe, die mein Freund Georg mir da stellt. Doch er hat Recht – nichts interessiert mich mehr als die Dinge der Welt. Meine Neugier ist grenzenlos. Ich verspreche also, mich um sein Anliegen zu kümmern.

Eine große Aufgabe beginnt man am besten mit kleinen Schritten. Ich gehe raus ins Freie, das erscheint mir sinnvoll. Da finde ich die Dinge der Welt am ehesten, glaube ich. Ich sehe eine Pflanze am Wegrand stehen. Sie ist zweifelsohne ein Ding der Welt. Ich frage sie: „Wie geht es dir in deinem Grünsein?“ Sie gibt mir keine verbale Antwort. Natürlich nicht. Das wäre doch eine große Überraschung, wenn mir die Pflanze eine verbale Antwort gäbe. Doch gibt sie mir wirklich gar keine Antwort? Sie erscheint mir plötzlich viel grüner als wenn ich sie nicht gefragt hätte. Ich treffe einen Mann und frage ihn: „Wie geht es dir in deinem Mannsein?“ Er schaut mich irritiert an und sagt: „Sonst geht’s dir gut? Du hast vielleicht Probleme!“ Dann geht er weiter. Ich treffe ein Kind und frage es: „Wie geht es dir in deinem Kindsein?“ „Ich verstehe deine Frage nicht“, sagt das Kind, „aber sie ist lustig. Wollen wir etwas spielen?“ Gerne würde ich mit dem Kind etwas spielen, aber ich habe eine Mission: etwas zu erfahren über die Dinge der Welt.

Allmählich denke ich mir jedoch, dass mich diese Fragerei nicht weiterbringt. Ich sollte mich aufs Beobachten verlegen. Ich beobachte Menschen. Sie scheinen ganz nett miteinander umzugehen, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass sich viele von ihnen dauernd anschreien mit ihren Blicken und Gesten. Sie haben gequälte Gesichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die hatte oft ein gequältes Gesicht. Aber sie hat nie erzählt, was sie denn so quält. Einmal habe ich sie so lange getriezt deswegen, bis sie zwar nicht geschrien, aber geweint hat. Es klingt komisch, aber das war der schönste Moment, den ich mit meiner Großmutter hatte. So nah waren wir uns vor diesem Moment nicht und danach auch nie mehr wieder. Soll ich die Menschen, die ich beobachte, die scheinbar so nett miteinander umgehen, fragen, ob sie, nur für eine Minute, mal offen miteinander schreien? Vielleicht würde das ihre Gesichter von den gequälten Ausdrücken befreien? Ich befürchte, viele von ihnen würden sagen: Wenn ich zu schreien anfange, müsste ich mich selbst erklären. Das will ich vermeiden. Ich bleibe lieber stumm. Und außerdem: Wenn jeder schreit, wo kommen wir denn da hin? Doch ich will ja keine Fragen mehr stellen, nur beobachten. So ein Gesichtsausdruck sagt mehr als tausend Worte, die ihn widerlegen oder verheimlichen wollen, denke ich mir.

Ein weiterer Gedanke kommt während des Beobachtens zu mir: Der Mensch ist immer auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn das stimmt, wieso fällt es mir dann so schwer, mich mit mir selbst zu befassen? Wieso ist es ein scheinbar automatisiertes Muster, auf andere zu zeigen, obwohl ich selbst der Betroffene bin? Was ist so schlimm an mir, dass mir dabei unbehaglich werden könnte? Mir kommt jetzt die entscheidende Frage in den Sinn, die ich mir zu stellen habe: „Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ Das ist die entscheidende Frage, und nur wenn ich sie mir beantworte, können die Dinge der Welt einen Sinn für mich ergeben.

Ich breche meine Beobachtungen ab und gehe voller Freude über diese Erkenntnis zu Georg. Ich setze mich zu ihm und sage: „Georg, wenn du den Dingen der Welt auf den Grund gehen willst, dann frage dich zuallererst: ‚Georg, wie geht es dir in deinem Georgsein?‘ Als ich mir selbst diese Frage stellte, erschienen mir die Pflanzen plötzlich viel grüner, die Menschen viel menschlicher und die Sonne viel heller.“

„Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musstest du rausgehen? Das ist herzlich wenig. Ich habe dich losgeschickt, um etwas über die Dinge der Welt zu erfahren, und du wirfst mir alles wieder zurück? Hättest du mir das nicht gleich sagen können?“

„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen“, murmle ich für mich, durch Georgs Aussage an meinen eigenen Gedanken mich erinnernd.
„Was?“ fragt Georg
„Nein“, sage ich, „hätte ich nicht. Ich hätte es dir nicht gleich sagen können“, beantworte ich Georgs Frage.
„Nein! Was du gerade gemurmelt hast meine ich!“
„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.“

Enttäuscht wendet Georg seinen Blick von mir ab. Er sieht zum Fenster hinaus und beachtet mich nicht mehr. Ein gequälter Ausdruck liegt in seinem Gesicht. Ein stiller Schrei liegt in der Luft. Ich entscheide mich zu gehen. Georg jetzt allein zu lassen erscheint mir das einzig Sinnvolle. Leise schließe ich die Tür. Ein Gedanke kommt zu mir: Um sich selbst zu erfahren, geht der Mensch hinaus zu den Dingen der Welt und begegnet ihnen.

„Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ frage ich mich. Ich gehe hinaus in den Tag, der noch lange nicht zu Ende ist.