Was mach ich bloß an dieser Stelle?

Wir stecken fest. Beide, glaube ich. Zumindest bei mir bin ich mir sicher. Wir reden Worte, die nichts bedeuten. Wir bemühen uns, durch Gerede voranzukommen, kommen aber nicht vom Fleck. Wie denn auch? Alles was da ist, sind Gefühle, und Gefühle in Worte zu kleiden hat noch nie funktioniert. Sonst wären sie ja Gedanken. Die Gefühle stecken in unseren Körpern fest. Unsere Körper, die uns vielleicht helfen könnten, sind eingefroren. Unfähig, ihre Gefühle auszudrücken, sich zu bewegen, sich aufeinander zuzubewegen.

Ich träume davon, wie unsere Gefühle losgelassen werden und unsere Körper sich umschlingen, wie wir nacheinander greifen, um uns selbst zu begreifen. Wie alles fließt und unsere Tränen der Erleichterung fließen, weil alle Gefühle losgelassen sind, die uns bisher gefangen genommen haben. Ich bin die Angst, die Angst vor mir, wenn du dich fürchtest, bin ich bei dir, sage ich zu dir im intensivsten Augenblick unseres Umschlungenseins, und ich weiß, dass ich damit Blumfeld zitiere, doch nie war ein Zitat so wahrhaftig wie dieses. Spürst du, dass ich bei dir sein will? Nein, ich will mich nicht vor meiner Angst verkriechen, wie ich das schon so oft getan habe, nein, ich will durch sie hindurchgehen und mich dir zeigen, ohne Angst zu haben, dass du erschrickst und davonläufst. Denn davor habe ich die größte Angst: dass du davonläufst, du, durch die ich endlich zu mir komme. Ich bin nicht die Angst, nein, ich bin der, den ich durch dich erkenne.

Was mach ich bloß an dieser Stelle, an der wir uns so nahe sind? Wo ich mich kreuz und quer zerstreue, und längst noch nicht zu mir gekommen bin?

Hommage an Ingmar Bergman

Ingmar Bergmans Geschichten schauen auf den Grund der Seele. Einen seiner Filme zu sehen ist für mich wie eine Reise in die tiefsten Tiefen meines Lebens. Bergman hat immer wieder mit denselben Schauspielern zusammengearbeitet. Viele andere wollten unter ihm spielen, haben es aber nie getan.

Kürzlich habe ich geträumt, dass ich bei einem seiner Filme überraschenderweise ein Kandidat auf der Besetzungsliste war. Er suchte einen nordischen, zurückhaltenden Typen, der zu Wutausbrüchen neigt. Letztendlich lehnte er mich jedoch ab, was mich fürchterlich aufregte. Hatte er das Drehbuch nicht gelesen? Er, der größte Drehbuchautor aller Zeiten!

Hier die von Georg Stürzer nachgespielte Traumszene (Idee, Regie und Kamera: Harald Krist):

 

Ich wartete nicht auf Bergmans Antwort, sondern wachte vorher auf.

Der Künstler und die Liebe („Che farò senza Euridice?“)

Als ich minus vier Tage alt war, war ich mit meiner Mutter in einem Konzert in der Martinskirche in Basel*. Ich erinnere mich genau, als der Reigen seliger Geister** aus der Oper Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck gespielt wurde. Wohlig warm war es im Bauch meiner Mutter, und obwohl ich kaum mehr Platz darin hatte, tanzte ich zu den Klängen, die ich hörte. Ich bekam eine Ahnung, dass es eine andere Welt gibt als die wohlig-warme Bauchhöhle meiner Mutter. Eine selige Welt. Eine Welt seliger Geister.

Vier Tage später kam ich auf diese Welt. Es war ein Schock. Es war trocken. Es war kalt. Es war hell und grell. Wo war der Reigen seliger Geister? Keiner spielte für mich. Keiner tanzte für mich. Ich fand die Welt, in die ich geboren worden war, beschissen, und je nach Stimmung beweinte oder beschimpfte ich sie. Nur mit Musik konnte man mich beruhigen. Aber ich glaube, das wusste niemand. Denn wenn man mir Musik vorspielte, dann geschah das zufällig, obwohl ich mich so danach sehnte.

Nach ein paar Jahren des Lebens auf dieser Welt drang eines Tages die Melodie des Reigens seliger Geister an mein Ohr. Die Erinnerungen wurden wach. Ich rannte zu meiner Mutter und sagte aufgeregt: „Mutter, weißt du noch, damals, in Basel, in der Martinskirche, als wir den Reigen seliger Geister hörten!“
„Was?“
„Damals, ich war noch in deinem Bauch, als wir bei einem Konzert in der Martinskirche in Basel den Reigen seliger Geister hörten!“
Mutter lächelte, wie man ein Kind (leider) oft belächelt. Ich drängte sie, sich zu erinnern, es war mir sehr sehr wichtig, dass sie sich erinnert, mein Leben schien daran zu hängen, aber sie sagte nur: „Nein, ich erinnere mich nicht.“
Ein Schmerz durchzuckte mich, und ich verstand plötzlich Orpheus und seinen Schmerz, als er entdeckte, dass Eurydike vom Biss einer Schlange getötet worden war. Dieses Ich erinnere mich nicht meiner Mutter war wie der tödliche Biss einer Schlange.

Wie entrückt und von fern erlebte ich plötzlich diese Welt, und aus der Entrückung und Ferne fragte ich: „Mutter, warum bin ich in Basel geboren?“
Meiner Mutter war meine Fragerei lästig. Tadelnd schaute sie mich an.
„Mutter, wo war denn Vater, als ich geboren wurde? War er auch in Basel?“
„Du stellst Fragen! Ist das denn so wichtig? Geh jetzt an die frische Luft, um auf andere Gedanken zu kommen!“
„Mutter, wieso heiß ich denn Martin? Ist das, weil wir in der Martinskirche in Ba…“
„Du heißt so, weil der Name deinem Vater und mir gefiel! Und jetzt geh endlich nach draußen, bevor du hier weiter rumspinnst!“

Ich ging nach draußen und sah das Wasser, die Bäume und den Himmel. Die Vögel sangen. Sie sangen den Reigen seliger Geister. Und doch konnte mich ihr Gesang nicht trösten. Ich verging vor Sehnsucht nach Liebe. Mir wurde klar, dass ich sie immer suchen, aber nie finden würde. Eurydike wird immer wieder durch den Schlangenbiss getötet werden, und selbst wenn ich sie durch die Musik, durch dieses Lebenselixier, wieder zum Leben erwecke wie einst Orpheus, wird sie durch meinen Unglauben wieder sterben.

Was mache ich ohne Eurydike? Ich unterbrach den Reigen seliger Geister und klagte mein Leid***:

Che faró senza Euridice?
Dove andrò senza il mio ben?
Euridice!... Oh Dio! Rispondi!
Io son pure il tuo fedele!
Euridice!... Ah! Non m'avanza
più soccorso, più speranza,
né dal mondo, né dal cielo!

Was mach ich ohne Eurydike?
Wohin geh ich ohne meine Liebe?
Eurydike!... Oh Gott! Antworte!
Ich bin dir immer noch treu!
Eurydike!... Ach! Mir bleibt
keine Hilfe, keine Hoffnung,
weder auf Erden, noch im Himmel!

Ja, ich bin Künstler geworden. Es war unausweichlich. Künstler sind verlorene Seelen, auf der Suche nach der Liebe, ein Leben lang.

 

*Martinskirche in Basel

**Livemitschnitt des Konzerts

***Che farò senza Euridice?

 

Konrad Vert und Elisabeth Rauen

eine Geschichte über Kontrolle und Vertrauen

Konrad Vert war früher ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Ihn zu sehen war mir jedesmal eine große Freude. Doch seit er Elisabeth Rauen kennengelernt hat, hat sich das grundlegend geändert.

Konrad kam damals zu mir, völlig euphorisiert, und sagte: Stell dir vor: Ich habe eine Frau namens Rauen kennengelernt! Das ist meine große Chance! Durch sie kann ich mein großes Lebensthema, das Vertrauen, in meinen Namen integrieren: Vert-Rauen. Ich muss sie heiraten!

Konrad hofierte und umwöhnte in der Folgezeit Elisabeth – so heißt die damals so heftig Umworbene mit Vornamen – wie die Prinzessin auf der Erbse. Der Diener und seine Herrin. Schließlich schaffte es Konrad, dass Elisabeth einwilligte zu heiraten, und aus Konrad Vert und Elisabeth Rauen wurden Konrad und Elisabeth Vert-Rauen. Konrad wollte noch durchsetzen, dass der Doppelname ohne Bindestrich geschrieben wird, also Vertrauen, kam damit aber bei den Behörden nicht durch. Das hinderte ihn nicht daran, seine Vertrauen-Praxis zu eröffnen für alle, die auf der Suche nach dem Vertrauen in ihr Leben sind.

Der größte Fehler ist doch, dozierte Konrad bei jeder Gelegenheit, dass wir über alles Kontrolle haben wollen. Dabei braucht es Vertrauen statt Kontrolle. Kommt zu mir und ich zeige euch, wie das Vertrauen in euer Leben kommt!

Aber die Leute wollten sich nicht so recht einlassen auf seine Vertrauen-Workshops, und so schimpfte Konrad immer mehr auf die kontrollwütigen Individuen unserer Gesellschaft, die unfähig seien, Vertrauen in sich aufzubauen, die diese Unfähigkeit an sich nicht erkennen würden und deshalb nicht einmal fähig seien, zu ihm zu kommen, der ihnen zeigen würde, was Vertrauen heißt.

Schließlich wurde das Geld knapp, und ein Freund von Elisabeth lieh ihnen Geld. Konrad bezichtigte daraufhin Elisabeth, eine Affäre mit diesem Freund zu haben, mit diesem neureichen Scheusal, wie er sagte, der mit seinem Geld Kontrolle ausüben will. Eines Abends, Konrad war völlig verzweifelt und hatte einigen Alkohol getrunken, sagte er mir, er werde nun einen Detektiv engagieren, um Elisabeth und dieses kontrollierende Geldschwein beobachten zu lassen. Er werde ein für allemal aufdecken, dass dieses Schwein Elisabeths Untergang bedeutet und dass solche Schweine im Allgemeinen den Untergang dieser Welt bedeuten.

Ich fuhr ihm ins Wort und sagte: Konrad! Was du da treibst, ist totaler Mist. Du schürst nichts als Mißtrauen. Konrad Mist-Rauen. Du bist für mich Konrad Kont auf der Suche nach Rosina Rolle, zur Erlangung der totalen Kontrolle!

Da wurde Konrad fuchsteufelswild und fuchtelte mit den Armen. Dann sackte er in sich zusammen und sagte mit starrem Blick: So ist es eben – wenn jemand nicht vertrauen kann, braucht es Kontrolle. Ich wollte es nicht. Ich wollte die Welt in ihr Vertrauen bringen. Aber die Welt braucht eben Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle, nichts als Kontrolle!

Junge Sommer Liebe („Johanna, ich liebe dich!“)

Ich war noch keine zwanzig, sagt Vorderbrandner. Ich hatte zuviel Hermann Hesse gelesen. Meine Laune schwankte zwischen süß und bitter. Süße Verliebtheit und bittere Enttäuschung. Es war Juni und der Sommer war da. Durch wogendes Gras und unter dichten Laubdächern ging ich zu meinem besten Freund: der Alten Linde. Ich setzte mich an ihren Stamm und träumte: von süßer Verliebtheit und bitterer Enttäuschung. Meine Träume entbehrten jeglicher Grundlage. Durch sie, so kann ich es jetzt sagen, sagt Vorderbrandner, flüchtete ich mich vor dem Leben.

Doch an diesem Tag an der Alten Linde war alles anders. Ich nahm mir fest vor, mein Leben ab jetzt zu leben, und der erste Schritt in diesem Leben würde sein, Johanna zu sagen, dass ich sie liebe. Während ich diese Vorsätze fasste, kam Johanna durchs Gras gelaufen. Ich wurde brutal ins Leben geworfen. Johanna lächelte, nicht stark, aber sie lächelte und ich lächelte zurück, nicht stark, aber ich lächelte. Der erste Schritt ins Leben war geglückt. Johanna setzte sich ins Gras, nicht nahe von mir, aber auch nicht weit weg, ich würde sagen, sie machte das sehr vernünftig, indem sie uns alle Möglichkeiten offenließ. Ich nahm mein Buch zur Hand – Das Glasperlenspiel von Hesse – ein völlig unpassendes Werk für mein damaliges Alter, aber alles andere von Hesse hatte ich bereits gelesen und ich betrachtete mich damals schon als reifen Hesse-Leser. Ich tat so als ob ich lese, war aber viel zu aufgeregt dazu. Ich schielte zu Johanna rüber, und dann blätterte ich eine Seite weiter, weil ich meinte, sie würde sicher genau beobachten, ob ich wirklich lese. Es war anstrengend, und nach einer Weile wünschte ich, Johanna wäre nicht da und ich allein mit der Alten Linde. Aber sie war da, und das erinnerte mich an meinen Vorsatz, das Leben zu leben, indem ich Johanna sage, dass ich sie liebe.

Ich ging zu Johanna und sagte: „Ich gehe zum Bach, um mich zu erfrischen.“
„Oh ja“, sagte Johanna, „das ist eine gute Idee: Es ist sehr heiß!“ und blieb sitzen.
Ich ging weiter zum Bach, um mich zu erfrischen, und ich schwankte, ob ich nur Gesicht, Beine und Arme erfrischen sollte, oder ob ich mich ganz ausziehen sollte, um meinen ganzen Körper zu erfrischen. Schließlich siegte mein Mut über meine Scham und ich beschloss, dass es zu meinem neuen Leben gehört, mich am ganzen Körper zu erfrischen. Bange und erwartungsvoll sah ich zu Johanna hinüber, als ich mich auszog. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt. Nach der Erfrischung ging ich zur Alten Linde zurück, und als ich bei Johanna vorbeikam, sagte ich: „War sehr erfrischend!“ und sie lächelte, nicht stark, aber sie lächelte.

Ich setzte mich wieder an die Alte Linde und tat so, als ob ich lesen würde und sah im Augenwinkel, wie Johanna aufstand und zum Bach ging. Wohl, um sich zu erfrischen. Ich sah, wie sie ihr Sommerkleid auszog, um ihren ganzen Körper zu erfrischen, ehe ich mich wieder in Das Glasperlenspiel vertiefte. Sie kam zurück und rief mir zu: „Das war sehr erfrischend!“ Dann saßen wir beide da, und ich träumte nicht, sondern fand es schön, mit Johanna bei der Alten Linde in die tiefe Sonne zu blicken. Ein sanfter Abendwind wehte übers Gras und durch die Blätter der Linde. Da stand Johanna auf, und ich stand auch auf und sagte: „Es ist so schön hier, Johanna, und wenn du hier bist, ist es noch viel schöner!“
„Oh, danke!“ sagte Johanna: „Ich muss jetzt leider gehen!“
Wie ein Donnerschlag traf mich ihr Ich muss jetzt leider gehen! und riss mich aus allen Träumen. Ich sagte den durchaus mutigen Satz „Darf ich dich begleiten?“, aber ich vermute, ich hatte einen zu bettelnden Unterton, denn sie sagte: „Was? Nein. Ich gehe jetzt.“

Ratlos stand ich an der Alten Linde, dem Leben wieder sehr fern. Ich sammelte mich jedoch völlig unerwartet und rasch und sogar Humor gesellte sich zu mir und ich sagte: „Na gut, dann geh!“
„Was?“
„Geh! Geh voraus! Ich warte. Denn wenn wir beide gehen, begleite ich dich ja!“

Johanna ging über die Wiese. Ich sah ihr nach. Mir wurde schwindelig. Ich suchte bei der Alten Linde Halt und lehnte mich an ihren Stamm. Am Ende der Wiese blieb Johanna stehen. Sie drehte sich um. Ich schaute sie an und ließ meinen Blick nicht von ihr. Da sagte mein bester Freund, die Alte Linde: Komm, geh auch du! und ich setzte einen Schritt nach dem anderen ins Gras, sagt Vorderbrandner.

Abspann (Andantino)

Gedanken zur Europawahl

München ist schwarz-grün-schwarz nach der Europawahl. In den westlichen und östlichen Stadtbezirken hat die schwarze Bürgerlichkeit der CSU die Mehrheit. In der Mitte, von Nord nach Süd, regiert die grüne Bürgerlichkeit der Grünen. Kein Rot der SPD mehr nirgends. Das schmerzt mich als traditionellen Sozialdemokraten. Ein Sozialdemokrat ist für mich ein bürgerlich angepasster Kommunist, der Gerechtigkeit predigt und vor dem Kapitalismus der Eliten warnt, sich aber trotzdem mit ihm arrangiert. So konnte ich mit dem Kreuz für rot bisher gut in dieser Gesellschaft leben: mein soziales Gewissen beruhigen und gleichzeitig vom (Geld-)System profitieren. Doch zurück zu den urbanen Grünen, die elektrobetriebene SUVs fahren. Ein Kreuz für grün ist moderne Gewissensberuhigung. Änderungen wollen wir nicht, hier im Wohlstandsgebiet. Höchstens mehr Geld. In Rom war nie Revolution, sondern an den Rändern des Reiches. Ich treffe sie im Biomarkt, die grünen Faschisten, die glauben, die Erde zu retten, während an ihren Rändern die Pole schmelzen. Moderne Väter mit Baby umgeschnallt dozieren mit modernen Müttern ohne Baby umgeschnallt. Soziale Kälte, die sich der Klimaerwärmung entgegenstellt. Hier, im Biomarkt, trifft sich die grüne Elite im Kampf gegen die Welt da draußen. Wohlstand bewahren mit einem Kreuz für grün. Das Geld, die moderne Religion, hält die Gesellschaft zusammen. Das Vertrauen in es ist unerschütterlich, obwohl es längst nichts mehr wert ist. Ein Volk von Ackerbauern, nicht mehr möglich. Zu viele sind wir Menschen, eine zu erfolgreiche Spezies, die die Erde übervölkert. Aber noch schwebt sie herum, die Erde, um die Sonne. Ein Blatt stirbt im Herbst und wird im Frühjahr geboren. Das Geld ist mir viel wert, weil es nichts mehr anderes gibt, was mir etwas wert sein könnte. Enttäuscht wende ich mich ab von der modernen Frau, die keinen Mann mehr braucht, sondern sich selbst genügt. Mein Traum von Nähe zwischen Mann und Frau, er ist ausgeträumt in diesem System der schwarz-grünen Eliten. Das habe ich von meinem bürgerlichen Kommunismus.

Schwarz-grün-schwarzes München
Im Biomarkt

Ohne Klarheit in der Sprache ist der Mensch nur ein Gartenzwerg

Es war einmal eine Stadt, die bestand aus vier Stadtvierteln. Dann wurde eine Umlandgemeinde eingemeindet, und nun bestand die Stadt aus fünf Stadtfünfteln. Weil die ursprünglichen Stadtbewohner es aber gewohnt waren, von Vierteln zu sprechen, sprachen sie weiterhin von Vierteln statt von Fünfteln. Die Bewohner der eingemeindeten Umlandgemeinde fühlten sich wie das fünfte Rad am Wagen, weshalb die eingemeindete Umlandgemeinde wieder ausgemeindet wurde. Schließlich kann man nicht von Stadtvierteln sprechen, wenn man von Stadtfünfteln sprechen müsste. Die Realität dem Sprachgebrauch anzupassen erschien hier angebracht, denn ohne Klarheit in der Sprache ist der Mensch nur ein Gartenzwerg:

Björn Borg – eine schwedische Spießergeschichte

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten geheiratet und nannten sich fortan Herr und Frau Borg. Sie leisteten sich ein kleines Häuschen am Rande der Stadt, und in dem lebten sie auch. Sie wünschten sich zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und die bekamen sie auch. Sie nannten ihre Kinder Jörn und Inge. Damit hatten sie alles erreicht, was sie im Leben erreichen wollten. Sie hätten nun genauso gut sterben können, aber es war halt so, dass sie lebten, und so mussten sie sich das Leben irgendwie vertreiben.

Zwecks dieser Vertreibung gingen sie eines Abends in das Kulturzentrum am Stadtrand, zum Tanzabend. Sie tanzten und tranken und später gingen sie in leicht angeheitertem Zustand nachhause. In diesem angeheiterten Zustand bestiegen sie beide ihr Ehebett und befanden es eine gute Idee, sich wieder einmal körperlich nahe zu kommen. Es kam zum Koitus in dieser Nacht des angeheiterten Zustands, und das muss deshalb gesagt werden, weil es nicht irgendein Koitus war, sondern ein Koitus, der das Leben von Herrn und Frau Borg, in dem doch alles nur noch seinem Ende entgegenzutrudeln schien, entscheidend änderte.

Zwei Monate später war es nämlich Gewissheit: Durch diesen Koitus war Frau Borg schwanger geworden.
„Johan!“ sagte Frau Borg zu ihrem Mann: „Wie konntest du nur so leichtsinnig sein! Du weißt doch, dass ich auf keinen Fall mehr ein drittes Kind wollte!“
„Ich leichtsinnig? Du hattest mir gesagt, du verhütest!“
„Habe ich auch. Aber es ist wohl schiefgegangen.“
„Schiefgegangen? Du hast einfach nicht darauf geachtet! Nach dem Motto: Wird schon nichts passieren!“
„Du hättest dir einen Gummi überziehen können, dann wäre nichts passiert!“
„Wieso soll ich mir einen Gummi überziehen, wenn du verhütest? Außerdem weißt du, dass ich es mit Gummi nicht so gern mag.“
„Hängt also wieder alles an mir! Wenn du schon keinen Gummi überziehst, dann hättest du ihn wenigstens rausziehen können bevor du abspritzst!“
„Mach ich nächstes Mal und spritz dir mitten ins Gesicht! Bin gespannt, ob du das besser findest!“
„Werd nicht unverschämt!“ schrie Frau Borg und fing zu heulen an.
„Alma, beruhige dich! Ist es so schlimm, wenn wir noch ein Kind kriegen? Unser Häuschen ist doch groß genug!“
„Nein, ist es nicht!“

Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen wuchs das Kind in Alma Borg heran und kam planmäßig und ohne Komplikationen auf die Welt. Es war ein Junge. Kaum waren jedoch die ersten Anstrengungen der Geburt überwunden, entstand eine neue Diskussion zwischen Herrn und Frau Borg, wie der Junge denn heißen soll:
„Ich wollte nur einen Jungen, und der sollte Jörn heißen. Das weißt du genau! Es gibt keinen anderen Namen als Jörn für einen Jungen in meiner Welt!“ erzürnte sich Frau Borg.
„Es kann doch nicht ein so großes Problem sein, einen anderen Namen als Jörn für einen Jungen zu finden!“
„Doch, kann es!“
„Weil du eines daraus machst!

Ein minutenlanges Schweigen breitete sich anschließend zwischen den beiden aus. Bis Johan Borg eine Idee kam: „Weißt du was, ich habe die Lösung: Wir nennen ihn einfach auch Jörn!“
„Wie?“
„Der zweite Jörn. Wenn unser Land so liberal ist wie es sich gerne gibt, werden wir unseren zweiten Sohn doch wie unseren ersten nennen dürfen!“

Der Junge durfte Jörn genannt werden und wurde – zur Unterscheidung von seinem größeren Bruder – B-Jörn gerufen. Als B-Jörn schon zur Schule ging und den Buchstaben B lernte, stellte er fest, dass B im Wort nicht Be gesprochen wird, sondern nur B. Nach Schulschluss rannte er schnell nachhause, wo er an diesem Tag seinen Vater antraf, und sagte aufgeregt: „Papa, ich habe heute gelernt, dass ich gar nicht B-Jörn bin, sondern Björn!“
„Na gut, von mir aus!“ sagte Herr Borg: „Dann bist du ab heute Björn. – Jetzt müssen wir nur noch deine Mutter davon überzeugen…“

 

Der Kommunikationsberater

Der Kommunikationsberater öffnete die Fahrertür seines Porsche, drehte sich noch einmal zu uns um und sagte: „Es gilt jetzt, alle mitzunehmen!“

Ich ging daraufhin zur Beifahrertür, öffnete sie und setzte mich in den Wagen.
„Das wird schwierig!“ sagte ich, mich im Wageninneren umsehend.

„Was wird schwierig?“ fragte der Kommunikationsberater irritiert.

„Mit diesem kleinen Auto alle mitzunehmen. Nicht mal die, die jetzt noch dastehen, können Sie damit mitnehmen. Geschweige denn das ganze Team. Dabei haben sie gerade gesagt: Es gilt jetzt, alle mitzunehmen!

„Das war doch auf das Projekt bezogen! Steigen Sie sofort aus meinem Wagen aus, ich hab’s eilig!“

Ich stieg aus, lehnte mich an den Porsche und sagte: „Es wäre ein gutes Zeichen für das Projekt gewesen, wenn Sie mit einem Bus gekommen wären und jetzt alle mitnehmen würden. Stattdessen stellen Sie sich an Ihr Egomanen-Fahrzeug und meinen überhaupt nicht, was Sie sagen.“

„Was fällt Ihnen…“

„Was Sie mit Ihrem Verhalten sagen ist: In unserem auf Egozentrismus aufgebauten Wirtschaftssystem hat man den Sinn für das Gemeinsame verloren. Kommunikation findet nicht statt. Ich habe das erkannt und verdiene mit diesem Mangel mein Geld, den zu beseitigen mir überhaupt kein Bedürfnis ist. Im Gegenteil: Dann würde ich ja kein Geld mehr verdienen.

„Ach lassen Sie mich doch in Frieden! Ich habe Ihre schlauen Reden nicht nötig!“
Der Kommunikationsberater schlug die Tür seines Porsche zu und brauste davon.

Axel Witsel – eine Kritik am deutschen Alphabet

Ich stehe auf einer riesigen Tribüne. Die Tribüne ist mit drei anderen Tribünen verbunden. Die Tribünen stehen im Neunzig-Grad-Winkel zueinander und umschließen ein Fußballfeld. Alle Tribünen sind voll mit Menschen, mit insgesamt etwa achtzigtausend Menschen, wie ich mir sagen ließ. Eine Zahl, die ich gar nicht fassen kann. Sehr sehr viele Menschen auf engem Raum. Gleich wird ein Fußballspiel beginnen. Die achtzigtausend Menschen auf den Tribünen werden zweiundzwanzig Menschen auf dem Rasen beim Fußballspielen zusehen. Ich blicke auf die vielen Menschen um mich. Bei diesem Anblick weiß ich, warum ich als Junge Fußballprofi werden wollte: Achtzigtausend Menschen, die einem beim Spielen zusehen. So viel Aufmerksamkeit hat man sonst nie im Leben!

Der Stadionsprecher brüllt die Namen der Spieler in sein Mikrofon, aber im ohrenbetäubenden Lärm um mich verstehe ich nichts. Ich schaue auf einen der großen Bildschirme und lese den Namen des Spielers mit der Rückennummer 28: Axel Witsel. Ein Name, der mich beeindruckt. Ein Name wie eine eindringliche Forderung. Nämlich das deutsche Alphabet um zwei überflüssige Buchstaben zu kürzen: um das X und um das Z. Das X kann durch KS ersetzt werden, das Z durch TS. Axel Witsel betont auf geniale Weise diese Forderung: In der Schreibung des Vornamens Axel mit X der Hinweis auf den aktuellen Missstand, in der Schreibung des Nachnames Witsel der Protest dagegen durch die Ersetzung des Z durch TS. Wer Axel schreibt, muss auch Wizel schreiben, sagt der kühle Verstand. Wer sich Witsel schreibt, sollte sich auch Aksel schreiben, sage ich.

Die Spieler betreten das Feld. Axel Wizel trägt eine Afro-Frisur. Dunkler Teint. Blaue Augen, die sehr auffallen durch seine sonst dunkle Erscheinung. Das Spiel beginnt. Aksel Witsel bewegt sich grazil und demütig wie eine Gazelle und robust und bestimmend wie ein Löwe, ohne sich dabei zu widersprechen. Wie mich sein Name beeindruckt, so beeindruckt mich sein Spiel. Ich beneide ihn, mit welcher Eleganz und Souveränität er sich auf dem Rasen bewegt und wie ihm dabei achtzigtausend Menschen zuschauen. Axel Witsel – die leibhaftige Kritik am deutschen Alphabet!

Axel Witsel

Welt Wer Worte