Hier gingst du von uns Schorsch

Auf einer Wanderung gehe ich an diesem Marterl vorbei:

Beeindruckt von der Schlichtheit der Botschaft bleibe ich stehen. Hier ging Schorsch in die Büsche und kam nicht mehr raus.

Andächtig im Moment versunken erinnere ich mich an Schorsch Dorsch (von dem ich bereits kürzlich berichtet hatte), der eigentlich Georges hieß weil seine Ururgroßmutter Französin war und den seine Mutter bevorzugt mit einem Fisch namens Franzosendorsch bekochte. Vor allem erinnere ich mich daran, dass auch Schorsch Dorsch nicht mehr lebt.

Zu Schorschs kurzem Leben von nicht einmal siebenundzwanzig Jahren ist Folgendes zu sagen: Auf eine schwierige Kindheit folgte eine schwierige Zeit des Erwachsenwerdens. Kontakt mit Frauen fand nicht statt. Ich weiß noch, als wir Doktor spielten und Jungs und Mädchen sich intensiv begutachteten. Schorsch jedoch schmollte angewidert in der Ecke und ließ die ihm Zugedachte einfach sitzen. Nie sah man Schorsch mit einer Frau, bis man ihn schließlich fragte: Schorsch, bist du schwul? Schorsch sagte: Nein, ich warte nur auf meine Traumfrau.

Eines Tages tauchte tatsächlich eine Frau auf namens Otilie. Sie stand da in schrecklich biederen Klamotten und wirkte wie eine, die auch noch nie bei Doktorspielen mitgemacht hat. Sehr unsicher war ihr Auftreten – nein – mehr noch: Man sah ihrem Körper an, dass er voller Angst steckte. Frau Dorsch jedoch betonte Otilies blaue Spuren in ihrem Blut. Sie war so entzückt von der Vorstellung, dass ihr Schorsch nun eine gutbürgerliche Existenz als Ehegatte starten könnte, dass sie Schorsch und Otilie eine Verlobungsreise nach Paris spendierte.

Ich stelle mir die beiden vor, wie sie durch Paris flanieren, mit ihren dicken Brillen auf den Nasen und den leicht schielenden Augen, was ein Sich-in-die-Augen-schauen schwierig macht. Auch alles andere zwischen den beiden stelle ich mir schwierig vor.

An einem Abend jedenfalls gingen sie zur Pont des Arts, um dort ein Schloss anzubringen und ihre Liebe zu besiegeln. Schorsch hatte das Bügelschloss seines Fahrrads dabei, weil er kein anderes gefunden und so dieses in den Koffer gesteckt hatte. Auf der Brücke war alles vollgesteckt mit Schlössern. Lange suchten die beiden nach einer Lücke an einer Strebe, bis sie endlich fündig wurden. Schorsch öffnete das Schloss und gab es um die Strebe. Als es zuschnappte, wollte er Otilie den Schlüssel geben, damit sie ihn in die Seine wirft. Doch genau in diesem Moment krachte die Brücke in sich zusammen. Das Fahrradschloss von Schorsch war genau das eine Schloss zuviel für die Statik der Brücke. Die zusammenkrachende Brücke riss Schorsch und Otilie in den Tod.

Frau Dorsch war tief schockiert, dass ihr Schorsch ausgerechnet in ihrem geliebten Frankreich den Tod fand und hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt. Herr Dorsch meinte: Warum musste er auch sein Fahrradschloss auf die Brücke hängen? Ein normales Türschloss hätte es doch auch getan!

Ich stehe noch immer beim Marterl am Wegrand, wo Schorsch von uns ging. Ich sollte jetzt endlich mal nach Paris fahren und zur neuerbauten Pont des Arts gehen. Dort werde ich dann andächtig stehen und mir denken: Hier gingst du von uns Schorsch.

Vorwarnungen zur Katastrophe an der Pont des Arts

Emil hat Konstanze geküsst

„Im Mai also“, sagte Emil, „soll es gewesen sein: In Sydney hat der Schriftsteller Junot Diaz die Schriftstellerin Zinzi Clemmons geküsst. So weit, so romantisch. Eine schöne Geschichte: Ein Schriftsteller küsst und schreibt nicht nur darüber. Doch zunächst wurde diese Geschichte ganz anders erzählt: Zinzi Clemmons sagte noch in Sydney, Junot Diaz habe sie sexuell genötigt. Außerdem sagte sie, nun würden auch viele andere Frauen an die Öffentlichkeit gehen, die Junot Diaz ebenfalls sexuell genötigt hat. Diaz, offenbar noch völlig unter dem Eindruck des intimen Moments mit Clemmons stehend, unterwarf sich voll und ganz der Geschichte Clemmons. Er hielt schriftlich fest, dass er volle Verantwortung übernehmen wolle für seine Vergangenheit.

Wie ging es weiter? Zunächst einmal gingen die anderen Frauen nicht an die Öffentlichkeit. Entweder hat Diaz sie nicht geküsst, oder sie empfanden die Küsse nicht als sexuelle Nötigung, sondern als Küsse, die sie lieber für sich behalten wollen. Das Ausbleiben dieses Shitstorms der anderen Frauen sorgte jedenfalls dafür, dass erste Zweifel an der Geschichte von Clemmons aufkamen. Eine Menge von Leuten zerbrach sich nun den Kopf, wie es denn wirklich gewesen sein könnte. Mitten in dieses Kopfzerbrechen hinein sagte Junot Diaz plötzlich, dass er Mist geschrieben habe mit diesem Statement über Verantwortung, denn einen Übergriff habe es nie gegeben. Ja – hat es denn nun einen Kuss gegeben, und wenn ja, war es ein übergriffiger? Noch immer zerbrechen sich viele Leute den Kopf über einen Kuss, den es vielleicht gegeben hat, dessen Natur und Beschaffenheit jedoch im Nebel der Vergangenheit zu verschwinden droht.“

„Warum erzählst du mir das?“ fragte Josefine: „Was willst du mir damit sagen?“

„Ich weiß nicht. Mehr habe ich auch nicht zu erzählen. Erzähl du doch etwas!“

„Wir wollten ein Feature über den Opernsänger Nicolai Gedda und sein Leben machen. Dann meinte jemand in der Redaktion, dass er einst den Paganini gesungen hat mit dem Lied Gern hab ich die Fraun geküsst, und einer, der so etwas singt, denn könne man im Moment nicht bringen. MeToo und so – viel zu heikel.“

„Das ist doch unglaublich!“ echauffierte sich Emil.

„Reg dich nicht so auf! Was ist denn los mit dir?“ Josefine beugte sich näher zu Emil und fragte mit liebevollem Ton: „Was habt du und Konsti denn gemacht, als ihr euch diese Woche getroffen habt? Konsti wirkte so gut gelaunt heute.“

Emil lehnte sich zurück und schaute Josefine in die Augen. Josefine strich ihm über die Wange und meinte lächelnd: „Und deswegen regst du dich so auf. Junot Diaz und der Kuss oder Nicht-Kuss. Nicolai Gedda und seine Küsse an alle Frauen. Emil“, sagte sie und sah ihm jetzt tief in die Augen: „Ich fühle mich geliebt von dir und ich liebe dich.“

Als Abschluss dieser Geschichte, und das darf als gesichert gelten, folgte ein Kuss zwischen Josefine und Emil.

Zusammenfassend soll festgestellt werden:

Emil hat Konstanze geküsst.
Junot Diaz hat Zinzi Clemmons geküsst oder auch nicht.
Nicolai Gedda hat alle Frauen geküsst.

Wie aus vererbter Angst Miserablismus wird

Es gibt etwas, sagt Vorderbrandner, das ich vererbte Angst nenne. Es steckt in mir und in vielen anderen in diesem Land. Über die vererbte Angst in mir kann ich Folgendes sagen: Mein Urgroßvater hat große Angst erfahren im Ersten Großen Krieg und sie in die Familie eingebracht. Mein Großvater war erster Erbe der Angst meines Urgroßvaters, um dann selbst die große Angst im Zweiten Großen Krieg zu erfahren. Mein Vater war dann Erbe der Angst aus zwei großen Kriegen, ohne selbst diese große Angst zu erfahren. Er hatte sie im Blut. Das Konzept der großen Angst dominierte sein Leben. Ein anderes Konzept kannte er nicht. Es klingt fatal und es ist auch so: Er sollte das Konzept der großen Angst bis zu seinem Tod nicht aus sich herausbekommen.

Dann kam ich als nächster Angst-Erbe, der nicht den geringsten Hauch der tatsächlichen großen Angst im Krieg selbst erlebt hat. In den 1980er-Jahren, dem Jahrzehnt meiner Kindheit, sangen viele andere von der Angst, zum Beispiel Die Schmidts und die Jungs aus der Tierhandlung. Am Ende dieses Jahrzehnts, am Beginn meines Übergangs zum Erwachsenwerden, veröffentlichten die Jungs aus der Tierhandlung ein Lied namens Miserablismus, das so einprägsame Aussagen enthält wie: Verneine Glück als eine Option und du wirst nicht mehr enttäuscht sein! Liebe ist ein unmöglicher Traum. Dein Leben ist als Drama inszeniert: Jede Vorstellung hat kein glückliches Ende aber eine deprimierende Botschaft. Blicke um der Sache willen immer finster drein (Angst! Angst! Angst!), das zeigt der Welt deine Substanz und Tiefe! Das Leben ist ein unmöglicher Entwurf und Liebe ein nicht wahrnehmbarer Traum. Es wird die Philosophie des sogenannten Miserablismus entworfen, eine Art Manifest der kultivierten Angst. Und diese Philosophie wurde meine Religion für mein beginnendes Erwachsenenleben. Natürlich war mir damals nicht bewusst, dass ich ein Anhänger des Miserablismus geworden war. Es gab für mich einfach kein anderes Leben, so sehr war die große Angst meiner Väter in mir verankert. Leben bedeutete Miserablist sein, nichts anderes. Ich unterfütterte diese Lebensform mit der Musik der Schmidts und der Jungs aus der Tierhandlung. Apropos Schmidts: Vor etwa zehn Jahren wurde mein miserablistisches Elend so groß, dass ich Schmidts-Platten hervorkramte und das Lied Der Himmel weiß wie elend mir zumute ist in Dauerschleife anhörte. Ich war auf dem Höhepunkt des Miserablismus angelangt, musste jedoch erkennen, dass Miserablismus in zu harten Dosen zum Tod führt. In der Todesangst, der scheinbaren Erfüllung jedes Miserablisten, entschied ich mich für das Leben.

Nun war der Gang ins Leben jedoch nicht so einfach, denn die geerbte Angst stand mir hartnäckig im Weg, wie ein großer und steiniger Berg. Trotzdem begab ich mich auf Wanderung, kletterte über steile Hänge und kroch durch dunkle Höhlen, weil ich eine Ahnung von dem bekommen hatte, was ein Leben ohne geerbte Angst sein könnte. Angst an sich, sagt Vorderbrandner, ist ein gutes lebenserhaltendes Gefühl, zum Beispiel die Angst vor dem Tod im Krieg. Wenn sich die Angst jedoch im Körper festsetzt wie Krebs, ohne ersichtlichen äußeren Grund, wird sie zum lebenszersetzenden Albtraum.

Es war ein harter Weg über und durch diesen steinigen Berg. Auf steilen Hängen und in dunklen Höhlen begegnete ich dem Manifest meines bisherigen Lebens, dem Lied Miserablismus der Jungs aus der Tierhandlung. Wie magisch angezogen tauchte ich tief ein in die Tiefen dieses Lieds. Bei diesem Tiefgang entdeckte ich, dass im Refrain gesungen wird: Miserablismus ist und ist nicht, und im Mittelteil: Aber wenn „ist“ nicht war und „ist nicht“ war, dann kannst du nicht sicher sein: Aber du könntest große Freude finden. Eine Logik, die für mich plötzlich sehr logisch war, obwohl ich sie so viele Jahre überhört hatte. Jetzt war mir klar: Die Jungs aus der Tierhandlung singen gar keine Hymne auf den Miserablismus, sondern eine Persiflage auf die Lieder des Elends der Schmidts. An diesem Tag, auf dem steilen Hang am Eingang zur dunklen Höhle, erkannte ich den Miserablismus als verwerfungswürdiges Konzept und begann voll Zuversicht an ein Leben zu glauben, in dem ich große Freude finden kann. An ein freies und selbstbestimmtes Leben jenseits der vererbten Angst, sagt Vorderbrandner.

Schorsch Dorsch

Bei Dorschs gibt es immer Fisch. Was naheliegend ist, aber ich finde es trotzdem komisch.

Wir sitzen an der Tafel bei Dorschs mit dem Fischbesteck in der Hand, als Fini Herrn und Frau Dorsch fragt: „Warum haben Sie Ihren Sohn eigentlich Schorsch genannt?“

„Weil meine Urgroßmutter Französin war“, sagt Frau Dorsch.

Fini und ich schauen uns fragend an, einig darin, dass diese Antwort für uns keinen Sinn ergibt. Frau Dorsch, als aufmerksame Beobachterin unserer nonverbalen Kommunikation, fügt eine Erklärung hinzu:

„Schorsch heißt eigentlich Georges, zu Ehren meiner Urgroßmutter, aber alle nennen ihn Schorsch. Schorsch ist halt die eingebayerte Form von Georges, entstanden wohl zur Napoleon-Zeit, als die Franzosen in Bayern herrschten.“

Fini und ich schauen zu Schorsch, der mit seiner Gabel lustlos am Dorsch auf seinem Teller herumstochert.

„Was wir heute essen, ist übrigens Franzosendorsch, ganz nach dem Geschmack von Schorsch“, sagt Frau Dorsch dann noch.

 

Auf der Suche nach der Realität

Lieber Georg,

seit über zweihundert Episoden bist du nunmehr ein treuer Begleiter meiner Schreibversuche. Du hast meine Texte auf den Kopf gestellt und wieder zurück auf die Füße, hast sie geschüttelt und gerüttelt und von allen Seiten betrachtet wie eine geliebte Frau. Heute möchte ich den Spieß umdrehen und mich mit dir befassen, und zwar mit der konkreten Frage, ob du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt bist.

Ausgangspunkt dieser Frage war eine Zugfahrt nach Ismaning, die mich an Daglfing vorbeiführte. Als der Zug in Daglfing hielt, fiel mir mein Text von letzter Woche ein, in dem ein gewisser Ger aus Dingolfing der Mann einer Trude aus Ring – entschuldige – einer Trude aus Trudering ist. In Daglfing wurde es mir klar wie eine Nacht voller Sterne: Ger ist nicht aus Dingolfing, sondern aus Daglfing, einem Nachbardorf Truderings. Wie sonst hätte er Trude kennenlernen können! Dingolfing ist doch viel zu weit entfernt von Trudering! Da habe ich ziemlichen Unsinn geschrieben letzte Woche, den ich hiermit korrigiere:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Daglfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Ich habe den Text also nun aus der Fiktion in die Realität geholt. Um mich endgültig von der Realität dieser Tatsachen zu überzeugen, fragte ich den Mann, der neben mir im Zug saß: „Kennen Sie Ger und Trude?“ und er sagte: „Nein, ich komm aus Buxtehude“, was ein gewisser Rückschlag in meiner Realitätsfindung war. Außerdem fiel mir ein, dass im Text von letzter Woche nicht nur Ger und Trude, sondern auch drei Brüder mit dem gleichen Vornamen Georg und den drei unterschiedlichen Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer vorkommen. Da wurde mir klar, dass du auch die Realität dieser drei Brüder anzweifeln würdest. Eines ist klar: Diese drei Brüder sorgen für mächtig Unordnung in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Brüder unterschiedliche Vornamen und gleiche Nachnamen trägt. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle Brüder gleiche Vornamen und unterschiedliche Nachnamen trügen! Da kennte man sich ja überhaupt nicht mehr aus in dieser Welt!

Zusätzlich führen zwei der drei Brüder sowohl mit Frauen als auch mit Männern intime Beziehungen. Diesen Satz muss ich wohl nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen haben, denn plötzlich sagte der Mann, der mir im Zug gegenübersaß: „Aha, Schwuchteln also!“, stand wutentbrannt auf und verließ in Englschalking den Zug. „Nein nein“, sagte ich, „das sollte man etwas differenzierter sehen“, doch das hörte der wutentbrannte Mann nicht mehr, sondern nur der Mann neben mir aus Buxtehude. „Ja ja“, sagte ich zum Mann aus Buxtehude, „es ist nicht leicht für den dritten Bruder, der neulich mit aller Bestimmtheit und Zivilcourage zu seinen Brüdern sagte: Ich steh nur auf Muschis, und das ist gut so!“ In Zeiten der Me-Too-Debatte eine mutige Aussage, und ich hatte Glück, dass ich diese Aussage nur zitierte, denn sonst hätten sich sicher viele Frauen im Zug sexuell belästigt gefühlt.

Als ich in Ismaning aus dem Zug stieg, sah ich am Bahnsteig einen Mann, der mir bekannt vorkam. Ich fragte ihn: „Kennen wir uns?“ Er sagte: „Ich glaube nicht. Ich bin Ger aus Dingolfing.“ – „Dann habe ich Sie verwechselt“, sagte ich: „Ich kenne nämlich nur einen Ger aus Daglfing.“

Du siehst also, wie ich immer auf der Suche nach der Realität bin und das Fiktionale im Grunde verabscheue. Wenngleich sich die Realität in jeder Sekunde ändert und es nicht leicht ist, ihr zu folgen. Die Fiktion aus schwarz und weiß erscheint erträglicher und beständiger als die graue Realität. Wie sonst könnten weiße Männer der Fiktion erliegen, mehr wert zu sein als schwarze Männer und als Frauen jeglicher Couleur?

Ich hoffe, ich konnte dich von der Realität meines Textes überzeugen und kehre nun zu meiner Ausgangsfrage zurück: Bist du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt?

Bis bald, Dein Emil

Drei Brüder und der Ring am Fing

Es waren einst drei Brüder, die hießen mit Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer. Als gemeinsamen Vornamen hatten sie Georg. In ihrer Kultur war es üblich, sich beim Vornamen anzusprechen. In ihrem speziellen Fall jedoch war man dazu übergegangen, sie beim Nachnamen anzusprechen.

Um ihre individuelle Entwicklung zu fördern, machten die Brüder oft unterschiedliche Dinge. So war Stürz nach Dingolfing gefahren, während Türze nach Aubing und Ürzer nach Trudering gefahren war. Als sie wieder zurückgekehrt waren von ihren Ausflügen, hatten Stürz und Türze nichts Besonderes zu berichten. Ürzer jedoch, vor allem weil er wusste, dass Stürz in Dingolfing gewesen war, berichtete von seinem Ausflug nach Trudering Folgendes:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Dingolfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Trudering

Abschied ist ein Schaf so schwer

Ich spielte mit meinen Kindern im Wohnzimmer, sagt Mitterbichler, da kamen meine Schwiegereltern noch einmal herein für den Moment, vor dem sie sich eigentlich drücken wollten: Gleich würden sie zum Bahnhof fahren und in einen Zug einsteigen, der sie nachhause nach Bremen bringt. Sie drückten ihre Enkel, meine Schwiegermutter sehr körperlich, mein Schwiegervater mehr in Gedanken. Meine Schwiegermutter meinte, es hätte schlimmer kommen können: Amerika, Australien, zum Beispiel. Da ist es doch ein Glück, dass es nur München geworden ist. München – Bremen, das ist doch eigentlich keine Entfernung in der heutigen Zeit. Und trotzdem: Abschied ist ein Schaf so schwer, sagte meine Schwiegermutter, um dem Schmerz mit Humor zu begegnen, sagt Mitterbichler.

Als sie das sagte – Abschied ist ein Schaf so schwer – kamen Erinnerungen in mir hoch, sagt Mitterbichler. Erinnerungen an Abende auf dem Sofa, als Kind, als im Fernsehen die ZDF-Hitparade lief mit Dieter-Thomas Heck und Roger Whittaker Abschied ist ein scharfes Schwert sang. Zu dieser Zeit starb mein Großvater, der Vater meiner Mutter, meint Mitterbichler daraufhin: Ich spürte die Traurigkeit zuhause im Wohnzimmer, wo die Familie versammelt war. Ich stellte mich auf einen Stuhl, als eine Art Bühne, und sang voller Inbrunst Abschied ist ein scharfes Schwert. Ich glaube, es war das erste eigene Konzert das ich gab, als damals Achtjähriger. Meine Mutter weinte hemmungslos, sagt Mitterbichler.

Später, als Student, trat ich mit meiner Band auf Festen und Bällen auf, wo wir Schlager interpretierten, um Geld zu verdienen. Bald kam mir die Idee, Abschied ist ein scharfes Schwert als Schlusslied bei diesen Festen und Bällen zu spielen. Wir probten das Lied. Unser Bassist und unser Schlagzeuger waren sehr gelangweilt wegen der Eintönigkeit ihrer Linien in diesem Lied. Ich versuchte dem zu begegnen, indem ich es mit dem Whittakerschen Akzent ziemlich übertrieb und hatte großen Spaß dabei. Oder war der Spaß nur so groß, weil so großer Ernst dahinter war? Zwischen Konsti, meiner ersten großen Liebe, und mir kriselte es damals nämlich gewaltig. Außerdem wollte sie nach Göttingen zum Studieren. Ein Abschied stand im Raum. Bei den Proben war ich deswegen einmal so durcheinander, dass ich statt scharfes Schwert Schaf so schwer sang. Abschied ist ein Schaf so schwer waren seitdem geflügelte Worte innerhalb der Band. Scheinbar auch in Bremen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass meine geflügelten Worte von meiner Schwiegermutter zitiert wurden, sagt Mitterbichler.

Als wir für einen großen Ball engagiert wurden, beschlossen wir, das Lied zum ersten Mal vor Publikum zu spielen. Ich setzte mir eine große Brille auf, wie Roger Whittaker sie immer trug, und versuchte, seinen schmachtenden Akzent so gut wie möglich nachzuahmen. Konsti und Kathi waren als Backgroundsängerinnen dabei, obwohl Konsti und ich uns gerade getrennt hatten. Da flossen bei mir die Tränen hinter der dicken Brille, sagt Mitterbichler.

Meine Schwiegermutter drückte ihre Enkel noch einmal an sich, während mein Schwiegervater die Wohnung schon verlassen hatte. Es ist anzunehmen, dass er im Treppenhaus, wo er wartete, ein paar stille Tränen verdrückte, sagt Mitterbichler. Da war er also, der Moment des Abschieds. Opa Oma Bahnhof, sagte meine Tochter zu mir, als wir am Fenster standen und den beiden nachsahen und winkten. Als wir sie nicht mehr sahen, nahm ich meine Gitarre und gab ein kleines Konzert, wie in alten Zeiten:

Der Ball war nie mein Freund

eine Fußballgeschichte

Der Ball ist nicht mein Freund, und zwar deshalb, weil ich mich nicht aufrichtig um diese Freundschaft bemühe. Er klebt mir nicht am Fuß, weil ich nicht genug übe, dass er mir am Fuß klebt. Wie soll sich der Ball da daran gewöhnen, mir am Fuß zu kleben? Ich verlange zuviel vom Ball, ohne selbst etwas dafür zu tun. Das würde jede Freundschaft überfordern.

Um mich vom Ball abzulenken, betrete ich das Fußballfeld. Es kommt mir zunächst einmal sehr groß vor. Dann betreten meine Mitspieler das Fußballfeld. Es kommt mir immer noch sehr groß vor. Aber bevölkerter. Das gefällt mir.

Der Ball, da er nicht mein Freund ist, hat sich nicht zu mir, sondern zu einem meiner Mitspieler gesellt. Neidisch betrachte ich die Freundschaft der beiden. Wie soll ich mich nun, ohne dass der Ball mein Freund ist, ins Spiel einbringen? Ich beginne, auf dem Spielfeld herumzulaufen und hoffe, dass mein Mitspieler sich vom Ball, seinem Freund, trennen kann und ihn mir zuspielt. Ich laufe herum und biete mich hinten, vorne, links und rechts für ein Zuspiel an. Als ich den Ball zugespielt bekomme, schaue ich mich unverzüglich nach einem Mitspieler um, dem ich den Ball zuspielen kann. Denn ich will den Ball nicht zu lange behalten, um uns beide in unserer Nicht-Freundschaft nicht zu überfordern.

Als die Gegner auf das Spielfeld kommen, werden die Räume, in denen man den Ball bekommen und in die man ihn spielen kann, enger. Denn das ist das Ziel des Gegners: die Räume eng zu machen, um selber den Ball zu bekommen. Wobei es, auch im Profibereich, immer mehr Mannschaften gibt, die den Ball gar nicht haben wollen – ich vermute, weil keiner in der Mannschaft ein Freund des Balles ist. Anders kann ich es mir nicht erklären. Solche Mannschaften haben keine Freude am Spiel, sondern wollen den Ball irgendwie ins Tor bugsieren und hoffen danach, dass das Spiel schnell vorbei ist. Aber das nur nebenbei.

Unser Trainer hat uns eine Taktik verordnet, also uns gesagt, wie wir uns auf dem Spielfeld positionieren sollen, um die Räume gut zu besetzen; um bei eigenem Ballbesitz möglichst gut anspielbar zu sein und bei gegnerischem Ballbesitz den Ball möglichst schnell zu erobern. Die radikalste Taktik, die ich je erlebt habe, war, als unser Trainer sagte: „Heute spielen wir gegen eine schlechte Mannschaft. Wir spielen ohne Torwart, dafür mit einem Stürmer mehr. Wir gehen voll auf Offensive.“ Diese Taktik hat sich jedoch nicht bewährt, und wir spielen seitdem immer mit Torwart.

Das Problem bei der Taktik ist: Oft funktioniert sie nur unzureichend, weil erstens jeder in der Mannschaft die Aussagen des Trainers anders interpretiert. Ich zum Beispiel habe an manchen Tagen große Lust, Tore zu schießen, an anderen große Angst, Tore zu kassieren. Je nach Gefühlslage spiele ich also offensiver oder defensiver. Und zweitens ist der Gegner ständig darauf bedacht, die Umsetzung der eigenen Taktik zu verhindern. Fußball ist also ein komplexes soziales Gefüge von zweiundzwanzig Personen, die ständig ihre räumliche Zuordnung ändern, um den Erfolg der eigenen Mannschaft zu ermöglichen und den der anderen zu verhindern. Und dazwischen rollt und fliegt der Ball herum.

Zurück zu meinem zwiespältigen Verhältnis zum Ball und unserer verhinderten Freundschaft. Da er nicht mein Freund ist, konzentriere ich mich sehr auf den Gegner: Wo er herumläuft und welche Räume er zulässt. Ich konzentriere mich also auf die Räume, in die der Ball gespielt werden kann, um mich oder meine Mannschaftskameraden dem gegnerischen Tor anzunähern. Oft vergesse ich dabei – ich habe es bereits erwähnt – den Ball. Ich entferne mich immer mehr von ihm und es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals noch Freunde werden.

Warum ich immer noch Fußball spiele? Weil ich ein sozialer Mensch bin und weiß, dass das Soziale auf dem Fußballfeld nur durch den Ball ermöglicht wird. Und weil ich insgeheim davon träume, dass der Ball und ich noch einmal dicke Freunde werden, ich mit ihm durch die sich öffnenden Räume gehe und ihn mit einem liebevollen Tritt ins Tor bugsiere.

Von Kombi-Nationen und einstürzenden Hauswänden

Es ist eine gewagte These, die Schweden als Kombi-Nation zu bezeichnen. Ich tue das nur, weil die Nachbarn meiner Eltern einen Volvo Kombi besaßen und im Film Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman immer wieder ein gelber Volvo Kombi prominent im Bild ist. Volvo Kombis waren Kästen auf vier Rädern. Sicher wie eine Trutzburg und geräumig wie eine große Rumpelkammer. Als Kind träumte ich davon, einmal so einen Volvo Kombi zu besitzen. Aber selbst die Volvo Kombis sind heute nicht mehr eckig wie einst. Sie sind abgerundet und haben eine schräge Heckklappe, als wollten sie Sportwagen und Kombi in einem sein und sind doch nichts von beidem.

Während ich also versuche, meine gewagte These der Schweden als Kombi-Nation zu falsifizieren und mich von dem nostalgischen Gedanken abzulenken, einen eckigen Volvo Kombi zu erwerben, liege ich in meinem Bett und schaue Richtung Osten. Da es Morgen ist, liegt es nahe, dass ich durch meine Blickrichtung nach Osten in die Sonne blicke. Doch ich blicke nicht in die Sonne, sondern an die Wand. Selbst wenn ich es zu meinem Tagwerk machen würde, die Wand zu beseitigen, die meinen Blick nach Osten versperrt, würde ich nur an eine weitere Wand blicken. Außerdem würde ich – es ist zu vermuten – meine Nachbarn verärgern, indem ich die trennende Wand zwischen unseren Wohnungen beseitige. Und selbst wenn sich meine Nachbarn einverstanden zeigten, wären mindestens die Wände von zwei weiteren Häusern zu beseitigen für den freien Blick nach Osten in die tiefe Morgensonne. Zu den statischen Problemen, die sich aus diesen Einreißaktionen ergeben würden, kann ich mangels technischer Expertise an dieser Stelle nichts sagen. Insgesamt erscheint es jedoch nicht lohnend, die Wände einzureißen wie einst Themroc, nur um ein paar Strahlen der Morgensonne abzubekommen.

Doch zurück zu der Zeit, als die Schweden eckige Volvo Kombis besaßen und eine Kombi-Nation waren. Damals gab es auch Autos namens Hummer, die aussahen wie gefährliche kleine Panzer. Hummers werden heute nicht mehr gebaut, dafür aber viele andere Autos, die ebenfalls aussehen wie gefährliche kleine Panzer. Man nennt diese Autos SUVs – Sport Utility Vehicles. Das Wort Sport soll von der eigentlichen Bestimmung ablenken: Während man sich nämlich früher mit Sportwagen selbst zu Tode gefahren hat,

sehen SUVs so aus, als ob damit andere zu Tode gefahren werden sollen.

Viele dieser SUVs fahren in der Stadt herum, auf dem beengten Platz zwischen den Wänden der Häuser. Warum fahren die großen SUVs zwischen den Wänden der Häuser herum? Ich habe dazu folgende – gewagte – These: Die Fahrer der SUVs wollen mit ihren Autos nicht zwischen den Hauswänden fahren. Dies sind nur Erkundungsfahrten, um ihre eigentliche Aktion vorzubereiten: nämlich um gegen die Häuswände fahren, um diese einzureissen und um so ein paar Strahlen der tiefen Morgensonne abzubekommen, wenn sie morgens in ihren Betten erwachen. Mit Spannung und Furcht zugleich erwarte ich also nun den Tag, an dem die SUV-Fahrer mit ihrer Aktion beginnen.

Oder sollte ich diese These ebenfalls falsifizieren?

Vater und Sohn

ein Stück für zwei Personen

Vater (Mitte vierzig)
Sohn (elf Jahre alt)

Der Vater hält den Sohn in fester Umklammerung. Der Sohn schaut ihm über die Schulter, den Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne gewandt, und will sich aus der Umklammerung befreien. Der Vater aber hält ihn stoisch fest, scheinbar liebevoll, aber doch auf eine subtile Art gewaltsam.

Vater: Mein Junge, mein Junge, mein lieber kleiner Junge!

Der Sohn entkommt der Umklammerung und wendet sich mit stolzer Brust vom Vater ab. Der Vater schaut den Sohn traurig von hinten an.

Vater: Ich habe alle Tischkanten abgeschrägt, damit du dir nicht mehr den Kopf an ihnen aufschlägst.

Sohn: Ich schlage mir den Kopf nicht mehr auf.

Der Sohn geht ein paar Schritte.

Vater: Wo gehst du hin?

Sohn: In den Garten.

Vater: In welchen Garten?

Sohn: In den Obstgarten.

Vater: Nein! Bitte nicht! Der Obstgarten liegt direkt neben der Straße. Wenn wieder ein Auto von der Straße abkommt, wird es dich zu Tode fahren.

Sohn: Die Autos kommen nicht von der Straße ab. Sie bleiben auf der Straße. Außerdem haben sie jetzt eine Leitplanke montiert, die ein Auto nicht mehr von der Straße abkommen lässt.

Vater: Ach, Leitplanke! Neulich wurde ein Auto von der Leitplanke ausgehoben und kopfüber in den Garten geworfen. Normalerweise wäre der Fahrer gestorben. Wie durch ein Wunder hat er überlebt. – Du warst nicht da, als dieser Unfall passierte.

Sohn: (genervt) Nein, ich war auf Landschulwoche. – Ich gehe jetzt in den Garten!

Vater: In den Obstgarten?

Sohn: Ja, in den Obstgarten!

Vater: Wieso musst du jetzt in den Obstgarten gehen? Es ist zu gefährlich!

Sohn: Ich will jetzt in den Obstgarten gehen! Ich will sehen, ob es schon rote Äpfel gibt.

Vater: Die Äpfel! Die Äpfel! Ich bin der Meinung, man sollte den Apfelbaum fällen. Es ist viel zu gefährlich, sich dort aufzuhalten, direkt neben der Straße, wo jederzeit ein Unfall passieren…

Sohn: (unterbricht den Vater) Es ist wunderschön im Schatten des Apfelbaums.

Vater: Immer diese Sturheit! Wenn ich etwas sage, sagst du genau das Gegenteil. Wieso hört mir eigentlich nie jemand zu?

Sohn: Ich will einfach nur in den Obstgarten gehen.

Vater: Es ist zu gefährlich! Lass dir das sagen! Ich weiß, was gefährlich ist. Ich weiß es noch genau, damals, als die Amerikaner Salzburg bombardierten…

Sohn: Was haben die Bomben auf Salzburg damit zu tun, dass ich in den Obstgarten gehen will? Immer entwickelst du aus Lappalien deine Horrorgeschichten! Hör endlich auf damit! Niemanden interessiert das!

Vater: Aber es war ein flammendes Inferno damals. Die Nacht war hellerleuchtet…

Sohn: (stürmt auf den Vater zu und schlägt auf ihn ein) Hör endlich auf mit dieser damit! Es interessiert mich nicht!

Der Vater holt mit der Hand aus, gefriert dann aber in seiner Bewegung und fängt zu weinen an.

Der Sohn geht in den Obstgarten, steigt auf die Leitplanke und lässt die Autos nah an sich vorbeirauschen.

Sohn: Frei! Ich bin frei!

Welt Wer Worte