Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Der verliebte Schönheitschirurg

Dem Schönheitschirurg Dr. Silikus ging es schlecht, deshalb suchte er einen Psychiater auf.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte der Psychiater.

„Ich habe mich in eine Frau verliebt, die als Patientin zu mir kam. Sie will sich von mir die Brüste größer machen lassen.“

„Ich sehe das Problem nicht.“

„Ich kann es nicht. Ich kann ihre Brüste nicht operieren, denn ich finde sie schön, wie sie sind.“

„Haben Sie ihr das gesagt?“

„Nein. Sie weiß von nichts.“

„Hm… Warum sind Sie Schönheitschirurg geworden?“

„Als Kind habe ich oft einen Metzger besucht, der ein Freund meines Vaters war. Er hatte eine eigene Schlächterei. Ich habe beim Schlachten und Ausnehmen der Tiere zugesehen, später habe ich dann selbst Hand angelegt. Es faszinierte mich, die Teile des Körpers zu berühren, zu spüren, sie zu erforschen und mit ihnen umzugehen. Als ich später Medizin studierte, um in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, erinnerte ich mich an die Stunden beim Metzger und beschloss, Chirurg zu werden.“

„Vom Metzger zum Chirurg, gut. Aber wieso Schönheitschirurg?“

„Alle sagten: Mit herkömmlicher Chirurgie arbeitest du dir einen Wolf ab im Krankenhaus. Aber mit plastischer und ästhetischer Chirurgie, da kannst du richtig Geld verdienen!“

„Verstehe. Das Geld treibt Sie an. Wen treibt es nicht an! – Lehnen Sie manchmal auch Aufträge ab?“

„Wie?“

„Naja, weigern Sie sich zum Beispiel manchmal, eine bestimmte Operation durchzuführen?“

„Nein. Was der Kunde will, wird gemacht. Schließlich verdiene ich mein Geld damit.“

„Sie kämen also nie auf die Idee, einem Patienten zu sagen, ihn nicht zu operieren, weil Sie die Operation als nicht notwendig und zielführend erachten?“

„Nein. Da könnte ich gleich zusperren. Wissen Sie, für die meisten Leute, die zu mir kommen, ist es nicht notwendig, sich operieren zu lassen. Die sind nur eitel und ertragen ihre eigene Existenz nicht. Sie erhoffen sich von meinen Eingriffen ein schöneres Leben, das nichts mehr mit ihrem bisherigen zu tun hat. Ich kann diese Leute nicht mehr ertragen: kleinere Nase, größere Brüste, Fältchen im Gesicht und Fettpölsterchen an den Schenkeln weg – als ob das so wichtig wäre! Diese Leute glauben, dass sie mit dem Geld, das sie mir zahlen, vor sich selbst weglaufen können.“

„Will das die Frau, in die sie sich verliebt haben, auch?“

„Ich glaube schon. Sie sagt, eine Frau müsse große Brüste haben, mindestens B-Körbchen, sonst sei sie keine Frau.“

„Das hat sie Ihnen gesagt?“

„Ja. Ich hatte ihr gesagt, dass sie sehr schöne Brüste habe, daraufhin hat sie mir das geantwortet.“

„Sie sagten doch, Sie hätten ihr nichts gesagt?“

„Doch, das habe ich ihr gesagt. Es lag mir außerdem auf den Lippen, ihr zu sagen, dass sie eine sehr schöne Frau ist, mit ihren A-Körbchen-Brüsten, aber das habe ich ihr nicht gesagt. Es erschien mir nicht angebracht und unprofessionell.“

„Werden Sie die Frau operieren?“

„Nein! Ich kann es nicht! Ich darf diese schönen Brüste nicht zerstören, sie sind ein Wunder der Natur. Sie gehören zum Gesamtkunstwerk, als das ich diese Frau wahrnehme.“

„Dann sagen Sie ihr, dass Sie ihre Brüste nicht operieren werden!“

„Was nützt das? Sie wird zu einem anderen Schönheitschirurgen gehen und sich dort operieren lassen!“

„Das kann sein. Aber Sie können von dieser Frau, weil Sie sie lieben, nicht verlangen, dass sie sich selbst liebt.“

„Das verstehe ich nicht!“

„Denken Sie darüber nach! Im übrigen empfehle ich zur Therapie folgendes: Bewerben Sie sich in der Unfallchirurgie eines Krankenhauses. Dort arbeiten Sie sich dann einen Wolf daran ab, die entstellten Unfallopfer so gut es geht wieder herzustellen. Sie können das und werden Spaß daran haben! Sie werden zufrieden sein! Das Geld, das Sie verdienen werden, wird schon reichen, keine Sorge! Sie werden das Leben wieder lieben, so wie Sie diese Frau lieben, die Sie nicht operieren wollen.“

Das Leben über alles

Vorderbrandner ist im Theater gewesen und hat Terror gesehen. In dem Stück wird ein Gerichtsprozess verhandelt: Ein Militärpilot ist wegen Mordes angeklagt. Er hat ein Passagierflugzeug mit 164 Personen an Bord abgeschossen. Das Flugzeug war von einem Terroristen gekapert worden und steuerte auf das vollbesetzte Fußballstadion in München mit 70.000 Zuschauern zu. Durfte der Militärpilot die Maschine abschießen, um Schlimmeres zu verhindern? Rechtlich hatte er keinerlei Rückendeckung, denn der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Also darf man unschuldige Passagiere in einem Flugzeug nicht abschießen, so das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Wenn die Flugzeuge, die am 11. September 2001 in die Hochhäuser in New York und in den Pentagon flogen, vorher vom Militär abgeschossen worden wären – würden wir uns besser fühlen? fragt Vorderbrandner.

Nein, sage ich. Wir würden uns nicht besser fühlen. Wir wüssten ja nicht, ob sie in die Hochhaustürme und in den Pentagon geflogen wären. So etwas konnte sich bis zu diesem Tag niemand vorstellen, dass jemand eine solche Tat begehen würde. Und die Terroristen haben es über Funk nicht angekündigt. Es würde sich erst recht um Mord handeln, wenn die Flugzeuge abgeschossen worden wären.

Die amerikanische Regierung unter George Bush hat damals gesagt, ein Abschuss wäre rechtlich erlaubt gewesen.

Weil die Amerikaner das Recht für sich beanspruchen, alle zu töten, die nicht so denken wie sie.

Nein. Weil sie die Menschen in den Hochhäusern und im Pentagon retten wollten.

Ich will etwas ausholen: Ich erzähle dir, was ich am 11. September 2001 gemacht habe. Ich habe meinen kleinen Neffen gehütet. Bald habe ich mitgekriegt, was geschehen war, und habe den Fernseher angemacht. Ich sah die Bilder der einschlagenden Flugzeuge, die Explosionen, immer wieder, und mein kleiner Neffe saß neben mir und sah sie auch. „Was ist mit den Menschen in den Flugzeugen passiert?“ fragte er mich, nachdem wir lange fassungslos vor dem Fernseher gesessen waren. „Die sind alle gestorben.“ „Und mit den Menschen in den Hochhäusern?“ „Viele konnten sich wahrscheinlich retten, aber viele sind auch gestorben.“

Abends wollte ich ihn ins Bett bringen, aber er wollte immer wieder die Bilder der einschlagenden Flugzeuge sehen. „Komm“, sagte ich, „ab ins Bett!“ Ich hatte ein schlechtes Gewissen, den kleinen Buben so lange diesen Schrecklichkeiten ausgesetzt zu haben. Aber er ließ sich nicht vom Fernseher bewegen.

„Wieso willst du das denn immer wieder sehen?“ fragte ich ihn schließlich.

„Vielleicht fliegen die Flugzeuge beim nächsten Mal vorbei. Dann müssen nicht so viele sterben.“

Jetzt verstand ich seine Anspannung, und seine Hoffnung, dass die Flugzeuge doch nicht in die Hochhäuser einschlagen. Erst jetzt wurde mir bewusst, was passiert war. Es geht nicht um die Amerikaner oder um die Moslems. Es geht um die Menschen in den brennenden Hochhäusern. Ich war ergriffen und gerührt vom Glauben meines kleinen Neffen an das Leben, wie er jedes Mal wieder aufs neue hoffte, dass die Flugzeuge vorbeifliegen würden.

Schließlich schaffte ich es, ihn ins Bett zu bringen. Ich musste mich sehr überwinden, den Fernseher auszumachen, so unfassbar war das alles. Im Bett erzählte ich ihm die Geschichte von dem Mädchen, das durch die bevölkerten Straßen geht, an das Gute im Menschen glaubt und sich jedesmal freut, wenn ihr Glaube mit einem Lächeln erwidert wird. Während ich ihm das erzählte, konnte ich meine Tränen nicht unterdrücken. Was war denn da passiert heute? Irgendwann schliefen wir beide nebeneinander ein.

Seit diesem Erlebnis mit meinem kleinen Neffen am 11. September 2001 glaube ich noch viel mehr an das Leben als davor. Ich glaube an das Leben, bis zum letzten Moment und bedingungslos. Wieso also sollte man Passagierflugzeuge abschießen dürfen? Ist das nicht eine Absage an das Leben? Hätte man die Flugzeuge am 11. September 2001 abgeschossen, würden die Zwillingstürme in New York noch immer in den Himmel ragen, aber man würde sich fragen, ob man die Passagiere nicht vielleicht doch hätte retten können. Man hätte die Mordabsicht der Terroristen mit Mord vergolten. Wird das dem Leben gerecht?

Ich wurde im Theater, während der Vorstellung von Terror, von Ängsten getrieben, sagt Vorderbrandner; dass unser westliches Leben bedroht wird von dunklen Mächten, die uns vernichten wollen. Und ich dachte, dass man einen redlichen Menschen wie den angeklagten Militärpiloten, der nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, der unsere Werte schützt und verteidigt, doch nicht wegen Mord verurteilen darf. Leben heißt, sich entscheiden. Wenn es sein muss, über Leben und Tod. Das hat mir Terror vor Augen geführt.

Ich wollt ich wär ein Huhn

Der Mensch hat den Wunsch, ein Huhn zu sein. Denn ein Huhn hat nicht viel zu tun. Es legt täglich ein Ei, ansonsten hat es frei. Hühner in beengten Geflügelfarmen haben so wenig zu tun, dass sie sich mir ihren Schnäbeln gegenseitig verletzen. Doch dazu später.

Bleiben wir zunächst bei der Frage, wie weit der Mensch gekommen ist mit seinem Wunsch, ein Huhn zu sein. Viele laufen auf den Straßen bereits herum wie blinde Hühner, starren gebannt auf ihre Smartphones und haben keinen Blick mehr für ihre Umwelt. Es werden Forderungen laut, diese blinden Hühner einzusperren, um ihre Umwelt vor ihnen und sie selbst vor sich zu schützen. Wahrscheinlich würden die blinden Hühner es nicht merken, wenn sie eingesperrt werden. Falls doch, könnte man ihnen zur Ablenkung vor der Festnahme eine App installieren, mit der sie virtuell durchs All fliegen, um die Festnahme zu einem unkomplizierten, gewaltlosen, vom Betroffenen unbemerkten Vorgang zu machen.

Was sollte man mit denen machen, die ein Huhn sein wollen, aber nicht über den Umweg, zunächst ein blindes Huhn unter Menschen zu sein? Man könnte sie gleich einsperren, in einen Raum ähnlich einem Ei, der dafür sorgt, dass die körperliche Ver- und Entsorgung rund um die Uhr funktioniert, ohne das der Betroffene sich bewegen muss. Wer soll das bewerkstelligen? Computer natürlich. Künstliche Ernährung, künstlicher Darmausgang, alles kein Problem. Visuelle Projektionen an die Innenwand vom Ei sorgen für geistige Ablenkung. Der Mensch lebte wie ein Küken im Ei. Er hätte das Huhn sozusagen überholt in seinem Nichstun, indem er dessen pränatalen Status annimmt.

Womit wir wieder bei den echten Hühnern wären, die in Geflügelfarmen so wenig zu tun haben, dass sie sich mit ihren Schnäbeln gegenseitig verletzen. Für diese Hühner entwirft man mittlerweile Beschäftigungsprogramme. Man gibt ihnen zum Beispiel gepresste Dinkelballen mit eingeschlossenen Weizenkörnern. So picken sie an den Dinkelballen, um Weizenkörner zu finden, anstatt sich mit ihren Schnäbeln an das Gefieder des Nachbarn zu machen. Entwickeln sich Hühner also gegenläufig zum Mensch? Der eine will mehr tun, der andere weniger?

Ist der ideale Mensch ein im Nichtstun erstarrtes, von der digitalen Berieselung eingelulltes Huhn? Braucht der Mensch nicht auch etwas zu tun, um seinem Leben Sinn und Erfüllung zu geben? Dinkelballen, in denen er nach Weizenkörnern sucht. Herausforderungen, die er zu bewältigen hat. Oder sind das alles unberechtigte Zweifel am Nichtstun, und ich sollte mich endlich davon überzeugen lassen, ein Huhn (im Ei) sein zu wollen?

Inszenierung des Lebens

Die Rollen in dem nun folgenden Schauspiel sind klar verteilt: Das Leben ist der Stierkampf, ich bin der Stierkämpfer. Um mich auf meine Rolle vorzubereiten, haben sie mir einen Holzverschlag gebaut. Sie sagen, ein Stier sei etwas Gefährliches. Wer sagt das? Die das sagen, sind das dieselben, die mir den Holzverschlag gebaut haben? Wollen die, die den Holzverschlag gebaut haben, mich beschützen vor dem Leben oder abhalten vom Leben? Habe ich den Holzverschlag selbst gebaut? So klar die Rollen sind, so unklar ist die Inszenierung.

Ich fühle mich nicht bereit für das Leben, denn sein Erscheinen als Stierkampf schüchtert mich ein, obwohl ich noch keinen Stier gesehen habe. Ich verkrieche mich hinter dem Holzverschlag. Es ist dunkel, nichts zu sehen, nur die Maserung des Holzes vor meinen Augen. Ich bekomme Angst. Bekomme ich Angst wegen dem Holzverschlag, weil durch ihn das Leben, das sich auf der anderen Seite befindet, eine unsichtbare Bedrohung wird? Oder hätte ich ohne den Holzverschlag noch viel mehr Angst? Ich stelle mir die bedrohlich schauenden Augen eines Stiers vor. Ich schmiege mich an das Holz. Ich rieche sein Aroma. Der Geruch betört mich. Ich vergesse das Leben, diesen bedrohlichen Stierkampf, so betört bin ich vom Geruch des Holzes. Ich bin Holzschnüffler statt Stierkämpfer, während auf der anderen Seite des Holzes das Leben weitergeht. Wie ist das Leben auf der anderen Seite des Holzes? Sind die Stiere schon wild, weil ich mich nicht zeige? Sie sagen, Stiere seien immer wild, zu allem bereit. Ich schnüffle weiter am Holz, um meine Angst zu bändigen. Ich glaube zu bemerken, dass ich, je länger ich am Holz schnüffle, desto weniger mit dem Leben zu tun habe. Trotzdem schnüffle ich wie ein Süchtiger am Holz herum. Deswegen schnüffle ich wie ein Süchtiger am Holz herum. In jedem Fall, ob trotzdem oder deswegen, schnüffle ich wie ein Süchtiger am Holz herum. Während meiner wilden Schnüfflerei ahne ich, dass das Leben weitergeht, auch wenn ich nichts mit ihm zu tun habe. Was passiert im Leben? Ich horche, eng an das Holz angeschmiegt. Ich höre Geräusche, die ich nicht einordnen kann. Sind die Stiere wild geworden? Meine Gedanken spielen verrückt. Die Angst kommt wieder, wie ein Blitz durchzuckt sie meinen Körper. Angestrengt horche ich weiter. Alles was ich höre beunruhigt mich. Der Geruch des Holzes, er betört nicht mehr, er ist nur noch schal.

Ich erinnere mich an die Rolle des Lebens: ein Stierkampf. Wenn das Leben ein Stierkampf ist, was ist die Rolle der Stiere in diesem Schauspiel? Sind sie wirklich nur die blutrünstige Fassade, der ich hilflos ausgeliefert bin? Ich sehe die kraftvollen, bulligen Stiere vor meinem geistigen Auge. Ich spüre ihre Kraft, obwohl ich noch nie einen Stier gesehen habe. Ich rieche das Holz nicht mehr. Stattdessen rieche ich Schweiß, Fleisch und Blut, und ehe ich denke, dass ich jetzt wohl mitten im Leben bin, birst das Holz in Stücke. Ein heftiger Einschlag des Lebens, der so nicht im Drehbuch stand.

Ich lebe, trotz dieses Einschlags, das ist erstaunlich. Ich überlege: Es war ein Einschlag des Lebens, denn ich lebe. Wäre ich tot, hätte diesen Einschlag wohl der Tod verursacht. Es war ein Einschlag des Lebens, was jeder Logiker mir wohl bestätigen würde. Der Geruch des Holzes kommt mir wieder in den Sinn, doch ich verfolge ihn nicht weiter. Stattdessen folge ich dem Geruch von Schweiß, Fleisch und Blut. Die Stiere galoppieren herum, und ich bin mitten im Leben, was im Drehbuch wiederum so vorgesehen war. Ich stolpere beinahe über eines der herumliegenden Holzstücke, und ehe ich weiter denken kann, was jetzt wohl geschieht, springe ich geistesgegenwärtig auf einen Stier, halte mich an seinen Hörnern fest und galoppiere mit ihm davon. Ich glaube zu träumen, aber es ist tatsächlich so: Ich sitze auf einem wild galoppierenden Stier. Ist das der Stierkampf des Lebens? Schneller, immer schneller galoppiert der Stier. Die Geschwindigkeit betört mich, wie mich vorhin der Geruch des Holzes betört hat. Doch das ist eine unzureichende Analogie. Der Stier ist mein Freund, er trägt mich durchs Leben. Wie kann das Leben ein Stierkampf sein, wenn der Stier mein Freund ist? Sind die Rollen klar verteilt? Jetzt, wo alles klar ist, ist alles unklar. Die Inszenierung des Lebens nimmt ihren Lauf.

Die Wahrheit über Ingeborg Bachmann

Ich habe Angst, nichts zu wissen. Deshalb gehe ich ins Internet, in diese Mischung aus gigantischer Müllhalde und allwissendem Archiv. Das weiß ich nicht, das habe ich gelesen.

Ich lese, und das Lesen ist eine Tätigkeit, die ich oft mit Nichtstun verbinde, weil mein Körper dabei untätig herumhängt, während mein Kopf nach Bildern sucht. Um die Bildersuche zu erleichtern, schaue und höre ich. Ich höre Marcel Reich-Ranicki sprechen. Marcel Reich-Ranicki ist seit etwa drei Jahren tot, deshalb höre ich ihn nicht persönlich, sondern in einem Video, das 2001 aufgezeichnet wurde. Das habe ich gelesen, dass das Video im Jahr 2001 aufgezeichnet wurde, doch meine Fähigkeit reicht nicht so weit, mich ins Jahr 2001 zu denken, deshalb spricht Marcel Reich-Ranicki zu mir im Jahr 2016, beziehungsweise, um es weiter zu präzisieren: Er spricht heute. Er spricht über Ingeborg Bachmann, die damals, 2001, als er über sie sprach, schon lange tot war, nämlich seit 1973, so habe ich es gelesen. Weiß ich jetzt irgendetwas über Ingeborg Bachmann, weil ich Marcel Reich-Ranicki über sie sprechen höre, oder kann ich nur vermuten, wer Ingeborg Bachmann vielleicht war?

Ich lese ein paar Zeilen in Malina, dem Roman Ingeborg Bachmanns. Ich werde traurig über so viel Traurigkeit. Sind nur die Bachmann und meine Mutter so traurig, oder sind es alle Frauen? Kann man sich in Traurigkeit verlieren und sie zu einem permanenten Zustand ausgestalten? Traurigkeit in Permanenz, ist das noch Traurigkeit, oder nennt man das Depression? Ist es wichtig, wie man etwas nennt?

Ich traue meinen Begriffen nicht, will Klarheit in meine Sprache bringen. Deshalb lese ich Wittgenstein, der schreibt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Da fällt mir auf, dass ich denke, dass das Gegenteil von Fall Aufstieg ist. Ist die Nicht-Welt also alles, was der Aufstieg ist? Da Wittgenstein schon tot ist, noch länger als Ingeborg Bachmann, und ich ihn nicht mehr dazu befragen kann, beschließe ich, den Gedanken nicht weiterzuverfolgen und lege das Buch Wittgensteins beiseite. Stattdessen höre ich wieder Reich-Ranicki zu, wie er über die Bachmann redet und könnte mir denken: Was Reich-Ranicki sagt, ist die Wahrheit, über die Bachmann und überhaupt. Doch ich will mir das nicht denken, denn es beschleicht mich ein Gefühl, dass das der Wahrheit nicht gerecht wird. Ist die Wahrheit das, was ich für sie halte, oder ist selbst das eine Lüge, die sich in meinem Kopf festgesetzt hat? Wechselt meine Wahrheit jeden Tag ihr Gewand, und es ist meine Aufgabe, ihr jeden Tag unters Gewand zu schauen? Bilde ich mir zu viel ein, bei den vielen Bildern, die ich in meinem Kopf erschaffe?

Mit dem Gefühl, nichts zu wissen, über die Bachmann im besonderen und über die Welt im allgemeinen, verlasse ich das Internet. Ich gehe aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße. Ich staune über den Boden unter und über den Himmel über mir. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Darüber, dass ich wirklich hier bin. Hier und heute. Und die Welt erlebe, mit all ihren Geheimnissen.

Marcel Reich-Ranicki über Ingeborg Bachmann

Das Wogen und das Ruhen der Menschheit

Vorderbrandner hat zu sich geladen, zum philosophischen Gespräch. Ich gehe immer mit einem gewissen Widerwillen zu diesen Abenden, denn ich finde: Während Vorderbrandner spricht, passiert das Leben.

Vorderbrandner sitzt in seinem Stuhl und sucht mit ausladenden Bewegungen seiner Arme und Hände seine Worte:“Die Menschheit bewegt sich in großen, wogenden Wogen, auf der Suche nach ihrer inneren Ruhe und ihrem inneren Gleichgewicht.“

Mitterbichler, der auch in unsere Runde gestoßen ist, sieht ihn an und sagt:“Die innere Ruhe meiner Kinder würde mir oft schon reichen zum Glück, der Rest der Menschheit soll in großen Wogen wogen, meinetwegen.“

„Wie kannst du von deinen Kindern verlangen, dass sie zu ihrer inneren Ruhe finden, während die Welt um sie herum unruhig wogt? Die Menschheit ruht und wogt gemeinsam, niemand kann sich da ausschließen. Vielleicht ist das schwer zu akzeptieren. Manche halten es nicht aus, das Wogen und das Ruhen, und dann schießen sie, mitten hinein in die wogende und ruhende Menge, so als wollten sie ausbrechen aus etwas, aus dem es kein Ausbrechen gibt, weil es ihr Leben ist. Vergewaltige deine Kinder nicht, Mitterbichler, lass sie wogen und ruhen im Rhythmus der Menschheit!“

„Vorderbrandner, red nicht solchen Käse! Du hast keine Kinder, die dir schlaflose Nächte bereiten, die dich jeden Tag aufs Neue herausfordern mit ihrer schonungslosen Art, dir deine Schwächen aufzuzeigen.“

„Nein, ich habe keine Kinder. Aber trotzdem schlaflose Nächte. Kürzlich, in so einer schlaflosen Nacht, ist mir bewusst geworden, warum viele Männer schwul werden. Aus Angst. Nicht aus Angst vor den Frauen, sondern vor ihrer eigenen Männlichkeit. Ich komme aus einem Landstrich, da bekommen die Männer folgende Vorgaben für ihre Männlichkeit: Es gibt die Jungfrau Maria, die es anzubeten gilt. Gedanken an Sex mit ihr sind streng verboten und moralisch äußerst verwerflich. Alle anderen Frauen aber haben sich die Männer untertan zu machen und mit ihrer Stärke zu dominieren. Männer haben keine Schwächen, Schwächen haben nur die Frauen. Gleichzeitig glauben auch viele Frauen an dieses Bild der Männlichkeit, sie unterwerfen sich ihm, glauben an ihre Schwachheit und eifern dem Ideal der unbefleckten Jungfrau Maria nach. Manche Männer nun, die mit diesem Rollenverständnis nicht zurecht kommen, suchen ihr Heil in gleichgeschlechtlicher Liebe.“

„Gut Vorderbrandner. Aber was hat das mit meinen Kindern zu tun?“

„Alles hat mit allem irgendwie zu tun. Es hat keinen Sinn, nach Ursache und Wirkung zu suchen. Vielleicht würde ich alles, was ich gerade gesagt habe, nicht mehr sagen. Aber ich habe es gesagt. Der Landstrich, aus dem ich komme, hat mich so geprägt, dass mein Verhältnis zu Frauen ein schwieriges ist. Doch gleichgeschlechtliche Liebe stellt für mich keine Alternative dar. Ist das der Grund für meine schlaflosen Nächte?“

Mitterbichler trinkt einen Schluck von seinem Wein, während Vorderbrandner beobachtet, wie der Nachhall seiner Worte den Raum erfüllt. Ich nutze diesen Moment der Ruhe, um die Runde zu verlassen. Mein Fahrrad wiegt mich nachhause mit rhythmischen Bewegungen. Josefine ist noch wach, als ich nachhause komme. Sie fällt mir um den Hals, als hätte sie mich sehnlichst erwartet. Ich reisse ihr und mir die Kleider vom Leib, mit der festen Absicht, Kinder zu machen.

Walentin Worderbrandner

Ich kam zur Tür herein und Vorderbrandner schaute mich missmutig an. Er sagte: „Ich zweifle an der Sprache – an ihrer Fähigkeit, irgendetwas zu sagen.“

„Ich weiß.“

„Was? Du weißt?“

„Heute ist Donnerstag, Redaktionstag, da zweifelst du regelmäßig an der Sprache, weil du etwas Geschriebenes liefern sollst.“

„Das meine ich nicht. Ich meine es wirklich ernst diesmal mit dem Zweifel. Gut dass du Geschriebenes erwähnst: Ich meine nämlich vor allem die geschriebene Sprache, an der ich zweifle. Wie kann etwas Geschriebenes etwas aussagen, wenn es sich durch nichts ausdrücken kann als durch Schrift, durch etwas Totes wie Schrift?“

„Weil du mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen hinter dieser Schrift stehst und ihr etwas Lebendiges dadurch gibst.“

„Danke für die Belehrung, Herr Oberlehrer!“

„Du hast Recht. Ich wollte gerade etwas Weises sagen. Meist kommt Wirres dabei heraus. Aber es ist egal. Wichtig ist doch nur, welches Bild in meinem Kopf ist, das ich transportieren will. Ob das Bild, das ich im Kopf habe, beim Leser ankommt, ist eine andere Frage. Es ist als Schreibender bereits ein Riesenerfolg, wenn mein Bild überhaupt gelesen wird und irgendein Bild im Leserkopf kreiert wird.“

„Vielen Dank für das Kurzreferat! Ich betitle es mit: Das Wisuelle.“

„Das gefällt mir, Vorderbrandner: Das Wisuelle. Das ist ein noch viel passender Begriff als Das Bild. Es ist das Ganze: die Gedanken, die Gefühle – ist mir warm, ist mir kalt, bin ich verliebt, bin ich verlassen worden.“

„Das W machts eben – mit V wär es wieder nur ein Bild, das Visuelle.“

„Schön dass dir das W gefällt.“

„Gefallen? Ich arrangiere mich mit deinem W-Tick.“

„Mag sein, dass ich einen W-Tick habe. Aber die Welt hat einen noch viel größeren Tick: einen WWW-Tick. Alles hängt nur noch am Netz. Aber ich muss in der Tat aufpassen mit meinem W-Tick: Erinnerst du dich an Valentina, die mal zu uns stoßen wollte? Die hat es sich dann anders überlegt, als ich ihr mein WWW-Konzept (Weises, Wirres, Wisuelles) erläutert habe, weil sie plötzlich dachte, sie müsste sich fortan Walentina nennen, um mit mir zu arbeiten.“

Weises wirres wisuelles

„Nur deswegen ist sie nicht geblieben?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist es besser. Könnte sein, dass ich wohl nur scharf war auf Walentinas Wagina – oder Valentinas Vagina, das ist mir jetzt einerlei – und nicht auf ihre Schreibkünste.“

„Und sie auf Peters Penis und nicht auf deinen.“

„Vorderbrander, du machst dich! Haben wir deine Zweifel an der Sprache nun ausgeräumt?“

„Ich zweifle, dass ich nicht zweifle.“

„Solange du mir nicht sagst: ‚Ich lebe, dass ich nicht lebe‘, ist alles halb so schlimm. Ich werde dir deine Zweiflereien schon austreiben! An die Arbeit! Und verzeih mir, wenn ich dich ab jetzt manchmal Walentin Worderbrandner nenne!“

Nur Liebe

Sie lagen nebeneinander und spürten sich. „Liebst du mich?“ fragte sie ihn. „Ja, ich liebe dich!“ sagte er.

Was ist an diesem Dialog auszusetzen? Nichts. Er ist wunderschön. Der Haken ist: Sie dachte sich das Wort nur in diesen Dialog hinein. „Liebst du nur mich?“ – „Ja, ich liebe nur dich!“

Während er seine Antwort so dachte: „Ja, ich liebe dich! Weil ich mein Leben liebe, und du gibst meinem Leben Lebendigkeit.“

Durch ihr Nur war der Eifersucht Tür und Tor geöffnet. Ihre Beziehung entwickelte sich wie das Leben eines Vogels im Käfig, der seiner Kernfähigkeit, dem Fliegen, beraubt ist. Was ist eine Beziehung wert, die ihrer Kernfähigkeit, dem Lieben, beraubt ist?

Sterben wollen

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner.

„Dein Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot“, sagte ich. Wir spazierten durch den Park. Es war abends, bereits dunkel. Der Mond schien hell.

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner. „Da!“ sagte er, und deutete auf eine Stelle vor sich. „Siehst du ihn denn nicht?“

„Wo denn?“

„Da! Sieh nur, wie aufrecht und aufgeschlossen er da steht. So kenne ich ihn nicht. Ich kenne meinen Vater nur als geknickten Mann, der einen großen Sack Trauer mit sich herumschleppt, den er mit niemandem teilt. Jetzt steht er da, aufrecht und selbstbewusst. Still! Er spricht zu mir:“

„Ich bin 53 Jahre alt. Ich will sterben. Es ist Zeit zu gehen.“

„Hast du das gehört? Wie er das gesagt hat! So gütig und würdevoll. Ich kann ihm nicht böse sein. Es ist gut. Mein Gott, siehst du ihn denn nicht?“ flehte Vorderbrandner mich an. „Wie das Mondlicht ihn bescheint! Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben, weil ich ihn einfach nur bewundere.“

„Da! Da kommt ein zweiter Mann. Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, woher er kommt. Vielleicht ist er den kahlen Bäumen des März entstiegen wie eine Knospe im Frühling. Er stellt sich neben meinen Vater. Er ist etwas jünger als mein Vater, ohne Zweifel. Wer ist das?“

Vorderbrandner stand mit konzentriertem Blick neben mir, und ich spürte: Ich darf ihn nicht unterbrechen.

„Es ist mein Großvater“, sagte er plötzlich. „Natürlich, es ist mein Großvater. Wie sie dastehen, so voller Güte und dennoch seltsam entrückt und unnahbar. Sie sehen mich an. Sie sagen nichts. Nichts, was ich hören kann. Doch sie sagen ganz deutlich mit ihren Gesichtern: Wir wollen sterben.“

Dann war es still. Vorderbrandner sagte nichts. Sein Blick entspannte sich etwas, und doch war noch immer eine große Konzentration in seinen Augen.

„Was ist jetzt?“ fragte ich vorsichtig.

„Sie haben sich umgedreht und sind weggegangen. Dort vorne bei den Bäumen gehen sie, friedlich und einträchtig. Ich glaube es geht ihnen gut. Ich lasse sie gehen.“

Wir standen da, im Mondlicht des kalten Märzabends. Vorderbrandner redete weiter:

„Ich begreife jetzt, warum ich mich oft dem Tod so nahe, so vertraut gefühlt habe. Weil ich so sein wollte wie mein Vater. Und was will ein Sohn mehr als sterben, wenn sein Vater sterben will.“

Vorderbrandner fing laut zu schreien an. Er rannte wie wild umher und schrie aus voller Kehle:
„Nein! Nein! Ich will nicht sterben. Ich will leben! Ich liebe das Leben doch über alles!“
Er warf sich auf den Boden und begann hemmungslos zu weinen.

Ich stand daneben, im hellen Mondlicht. Es sprach aus mir wie ein Gebet:

„Vorderbrandner, du lebst! Und wie du lebst! Deine Wut und deine Tränen zeugen von deiner unbändigen Lebenskraft. Die Zeit wird kommen, da wirst auch du sterben wollen. Doch jetzt wirst du leben, leben, leben!“

 

Oskars Anfang und Ende

Oskar, der früher Emil hieß, ist ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums. Oskar spaziert gern durch die Straßen Münchens. Wir haben ihn schon einige Male dabei begleitet. Heute wollen wir uns die Frage stellen: Wer, außer ein Hagestolz, ist Oskar?

Oskar ist ein Wissenschaftler. Er ist mit der dualistischen Weltsicht groß geworden, hat sie verinnerlicht durch und durch. Einer seiner Grundsätze, ohne dass er es selbst weiß, lautet: Gebt mir das Böse, damit ich gut sein kann!

Wir erinnern uns, dass Oskar die Schleißheimer Straße in München begehen wollte, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er hatte große Schwierigkeiten, den Anfang der Schleißheimer Straße zu finden, bis er feststellen musste, dass es den Anfang der Schleißheimer Straße gar nicht mehr gibt, weil der Anfang der Schleißheimer Straße jetzt Rudi-Hierl-Platz heißt (München, Schleißheimer Straße). Oskar, als Meister der Dualität, sagte sich: Wo ein Anfang, da ein Ende. Und schlussfolgerte nach seiner Erfahrung mit der Schleißheimer Straße: Wo kein Anfang – da kein Ende. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.

Er dachte an den Anfang und das Ende vieler Dinge, bis er schließlich bei seinem Leben angelangt war. Wann hat es begonnen? Als er den Leib seiner Mutter verließ? Als seine Mutter und sein Vater sich liebten? Oder irgendwo dazwischen? Oder gar schon davor?

Als Dualist, der sich sehr der Physik zugewandt fühlt, dachte er jetzt: Aus nichts kann nichts werden, also ist schon immer etwas da gewesen; wenn es auch nicht das war, was ich jetzt mein Leben nenne.

Oskar ging ins Bett. Von dort aus lief er die Schleißheimer Straße entlang, und sie nahm einfach kein Ende. Sie war wie ein endloser Raum. Das machte Oskar ganz schwindelig. Doch der Schwindel beunruhigte ihn nicht, nein – er wiegte ihn in einen tiefen und erholsamen Schlaf.