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Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Die Offenheit des Künstlers

Ich fühlte mich im Sommerloch und saß etwas ratlos vor einem weißen Blatt Papier. Ich sah nach draußen. Ich sah, wie die sattgrünen Blätter der Esche im reifen Sommerwind wogten. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich öffnete, und vor mir stand Grübeldinger aus Salzburg, der Salzburg normalerweise nie verlässt. Zumindest hatte er das bisher immer behauptet. Er fühle sich gezwungen, in Salzburg zu sein, hat Grübeldinger über all die Jahre immer wieder gesagt, es sei Verrat an seinem eigenen Leben, Salzburg zu verlassen. Er sei glücklich und gleichzeitig todunglücklich, immer in Salzburg zu sein und es nie zu verlassen, wobei er meist betonte, dass er glücklich sei, in Salzburg zu sein, aber unglücklich sei über seinen inneren Zwang, es nie zu verlassen. Das Sein in Salzburg mache ihn glücklich, während das Nie-verlassen-können-von-Salzburg ihn unglücklich mache. Es sei aber nunmal seine Pflicht, in Salzburg zu sein. Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als Grübeldinger vor meiner Tür stand, dieser Tür, die sich nicht in Salzburg, sondern in München befindet. Ehe ich etwas sagen konnte, sagte Grübeldinger: Ich habe den Künstler in mir entdeckt. Es ist die Pflicht eines jeden Künstlers, offen für die Welt zu sein, und so habe ich beschlossen, von Salzburg nach München zu fahren.

Es gelang mir, Grübeldingers Worte zu vernehmen und sie gleichzeitig zu ignorieren, was eine neue Erfahrung für mich war. Ich konnte diese neue Erfahrung jedoch nicht reflektieren, da ich mich an Grübeldinger vorbeizwängte und mich ins Treppenhaus begab. Die Treppen knarzten unter meinen Füßen, als ich ins Freie stürmte. Ich raste wie entfesselt die Straße entlang und hatte gerade noch Zeit, die sattgrünen Blätter der Pappeln im reifen Sommerwind zu sehen, als mich plötzlich ein Luftzug erfasste und mich nach oben zog. Ich schwebte über den Häusern Münchens und erinnere mich, dass mich eine Angst erfasste, so ganz ohne Boden unter meinen Füßen. Die Angst wich schnell der Begeisterung, denn es war ein schöner Anblick, die Stadt im reifen Sommerlicht unter mir und die Berge in der Ferne glitzern zu sehen. Ich dachte kurz an Grübeldinger, wie er vor meiner offenen Tür steht mit seiner neuentdeckten Offenheit. Zumindest meine Tür steht ihm offen.

Ich blicke nach unten und versuche zu erkennen, was unter mir liegt, doch ehe ich mich weiter damit beschäftigen kann, bin ich auf einem Berggipfel gelandet und erkenne unter mir das einsame Bergahorn, das ich letzten Sommer einmal besucht habe. Freudig schwebe ich zu ihm und lande in seiner Krone. Seine Blätter wogen im reifen Sommerwind. Unter uns erkenne ich einen See, an dessen Oberfläche der Wind kleine Wellen kräuselt. Ich will mich abkühlen im Wasser des Sees und schwebe also weiter, als ich plötzlich meine Schwerelosigkeit verliere und mit einem heftigen Satz ins Wasser stürze. Wasser gischtet und spritzt um mich herum. Ich erkenne ein paar Fische, die erschrocken zur Seite springen. Als sich das Wasser nach meinem Einschlag beruhigt hat, drehe ich mit den Fischen ein paar Runden im See. Auf einmal merke ich, dass ich heftig zu schwitzen beginne, was ich merkwürdig finde, denn ich schwimme mit den Fischen im kühlen Wasser. Ich schaue nach oben zur Sonne, die das Wasser hell beleuchtet. Mitten in dieser Wasser-Sonnen-Welt denke ich plötzlich an meine Wohnungstür und mache mir Sorgen, weil ich sie nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Ich schließe meine Augen, beschließe aber gleich darauf, sie zu öffnen, um Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Ich öffne also die Augen und sehe die sattgrünen Blätter einer Esche über mir, die im reifen Sommerwind wogen. Die Sonne scheint hell und warm, und ich schwitze in ihren flachen Strahlen. Ich höre eine sehr angenehme Stimme, sehr nah, die sagt: „Lass uns schwimmen gehen!“ Trotz dieser sanften und liebevollen Einladung fällt mir genau in diesem Moment wieder die offene Tür ein, die ich nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Grübeldinger und die offene Tür – das ist ein Bild, das mich nicht verlässt; die Offenheit des Künstlers, von Salzburg nach München zu fahren. Merkwürdigerweise sehe ich Grübeldinger jetzt am Münchner Hauptbahnhof stehen, wie er einen Zug nimmt nach Worpswede. Wieso Worpswede? Ich weiß nicht, wieso ich glaube, dass Grübeldinger nach Worpswede fährt. Ich weiß auch nicht, ob es wichtig ist zu wissen, dass Grübeldinger meine Wohnungstür verschlossen hat, bevor er nach Worpswede gefahren ist.

Ich blicke in die tiefe Sonne und sehe vor mir die Umrisse eines Frauenkörpers. Mir gefällt dieser Frauenkörper im tiefen Sonnenlicht. „Lass uns schwimmen gehen!“ höre ich wieder die Stimme sagen. Langsam erhebe ich mich. Die Sonne blendet. Ich gehe wie blind durch das sanfte Gras, das ich unter meinen Füßen und an meinen Beinen spüre, von Gefühlen geleitet.

In den Wolken

Die Wolken hingen schwer zu mir herab. Sie sanken und sanken, sodass ich plötzlich mitten unter ihnen war und sie nicht mehr als Wolken, sondern als dampfende Kälte wahrnahm. Ich verlor die Orientierung, ging einen Schritt nach dem anderen und hoffte, mich nicht im Kreis zu bewegen ohne es zu bemerken. Ich erinnerte mich, dass ich von Schluchten umgeben bin, was eine Gefahr darstellte, die ich jedoch nicht als solche wahrnahm, weil ich vor lauter dampfender Kälte nicht mehr sicher war, ob ich von Schluchten umgeben bin, obwohl ich mir eben noch sicher war. Vermutlich verhinderte die dampfende Kälte, die in mich hineinkroch, die Wahrnehmung dieser Gefahr. Das wäre eine mögliche Erklärung, die jedoch nicht zwingend ist, da die dampfende Kälte, die ich nun als solche wahrnahm, eben noch Wolken gewesen waren. Ich spielte eine Melodie auf dem Klavier, um mich vor der dampfenden Kälte, die man zum besseren Verständnis auch als Wolken bezeichnen könnte, abzulenken, die mich ihrerseits von der Gefahr der mich umgebenden Schluchten ablenkte. Das Klavierspiel wiederum bewirkte, dass ich mich in ihren Armen wiederfand. Ich spürte die Wärme ihres Körpers, ganz im Gegensatz zur dampfenden Kälte, sodass ich beschloss, das Klavierspiel zu beenden, woraufhin das Klavier beschloss, von selbst weiterzuspielen. Dies störte mich jedoch nicht sehr, da ich intensiv mit dem Abtasten ihres Körpers beschäftigt war. Das Klavierspiel unterstützte mit seinem sanften Rhythmus dieses Abtasten. Ehe ich das Abtasten intensivieren konnte, gingen wir nach draußen. Nein – ich habe es nicht als Gehen in Erinnerung, eher als Schweben. Waren wir bekleidet oder nackt? Es war nicht wichtig, denn draußen war die dampfende Kälte verschwunden. Die Sonne schien hell und warm. Die Blätter der Bäume, deren Farbe ich vergessen habe – ich glaube, ein sattes Grün wahrgenommen zu haben -, wogten im leichten Sommerwind. Wir schwebten weiter, so hatte ich keine Zeit, die Bäume weiter zu betrachten. Das machte nichts – das Schweben war angenehm. Wir schwebten über Blumenwiesen, bis wir in eine Steinlandschaft kamen. Bei den Steinen schwebten wir nicht weiter. Wir kletterten über die Steine. Mit jedem Schritt spürte ich die Steine unter mir. Nach dem Schweben war es angenehm, die Steine zu spüren.

Plötzlich zog eine langer Schatten heran, und ich erinnerte mich an die dampfende Kälte, doch ehe ich aufschauen konnte, um zu prüfen, ob der Schatten der Schatten eines Berges war oder eine Wolke, die heranzog, wurde ich selbst gezogen und fand mich hoch in der Luft wieder. Um mich herum Alpendohlen, die um sonnenbeschienene Berggipfel schwebten. Ich konnte mich selbst nicht sehen, doch es ist anzunehmen, dass ich eine Alpendohle war, weil ich so harmonisch mit meinen Fluggenossen durch die Felsklüfte flog. Ich versuchte, meine Flügel zu erspüren, um festzustellen, ob ich tatsächlich eine Alpendohle bin. Plötzlich sehnte ich mich nach den Steinen in der Felslandschaft unter meinen Füßen. Stattdessen fand ich mich in ihren Armen wieder. Draußen vermeinte ich Regen zu hören, was mich annehmen ließ, drinnen zu sein. Ich überlegte, ob draußen oder drinnen für mich noch gültige Kategorien sein können. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, schlief ich ein.

Das Sein in seinen Verschiedenheiten

Vorderbrandner ist wieder in eine Sinnkrise verfallen. Das merke ich sofort, als ich ins Büro komme. Lustlos sitzt er vor seinem Laptop, die Bücher links und rechts davon gestapelt.

„Was ist denn los?“

„Das Verb. Das Verb! Ich bin ein Bezweifler seiner Existenzberechtigung: Alles ist. Wozu braucht es mehr Verben als sein?“

„Ist nicht alles verschieden in seinem Sein? Benötigen wir dafür die weiteren Verben, um diese Verschiedenheit zu beschreiben?“

„Dafür gibt es die Nomen: Ich bin Vorderbrandner, du bist Hinterstoisser.“

„Ich habe eine Idee: Wir führen für jeden ein neues Verb ein. Das wird der Wirklichkeit gerechter. Du, Vorderbrandner, bist nicht, sondern zwist, weil du immer den Zwist suchst. Zwisten – ein neues Verb, nur für dich!“

„Und du, Hinterstoisser, bist der große Allmächtige. Du bist, über allem Zwist.“

„Ich weiß nicht was ich. Es gibt noch kein Verb für mich. Das wäre doch eine Aufgabe, ein Verb für mich zu finden!“

Den Rest des Tages lauschen wir Ernst Jandl bei der Rezitation seines Gedichts auf dem land und hoffen, dadurch neue Verben zu finden:

Ernst Jandl: auf dem land

b.w.gung

Bei mir in der Straße hat ein neuer Laden eröffnet. Auf dem Schild steht: b.w.gung. Ich bin ein neugieriger und offener Mensch, deshalb will ich unbedingt mal in diesen neuen Laden hineinschauen. Ich bin auch ein vorsichtiger Mensch, deshalb mache ich mir vorher meine Gedanken über diesen Laden, bevor ich hineinschaue.

Es wird wohl ein Chinese namens Gung sein, der diesen Laden führt, denke ich. Ich habe nichts gegen Chinesen, im Gegenteil, ich bin neugierig auf andere Kulturen und offen ihnen gegenüber. Aber man stelle sich nur vor, ich betrete den Laden des Herrn Gung und dann steht da zum Beispiel ein Afghane und ein Syrer drinnen. Das wäre eine schwierige Situation, ein Zusammenstoß der Kulturen, auf den ich mich natürlich vorbereiten sollte.

Heute morgen, als ich an dem Laden vorbeigehe, denke ich mir, dass es sich nicht lohnt, so viel zu denken, und ich gehe spontan in den Laden des Herrn Gung. Im Laden begrüßt mich ein Mann, der so gar nicht aussieht wie ein Chinese. Eher wie ein stinknormaler Deutscher. Ich frage den Mann, ob Herr Gung da sei.

„Herr Gung?“

„Ja, Herr Gung. Der Laden heißt B.W.Gung, also nehme ich an, dass er von Herrn Gung geführt wird.“

„Sie haben eine blühende Phantasie“, sagt der Mann und lächelt. „Benedikt Wegener ist mein Name. Freut mich, dass Sie mich besuchen! Der Name meines Ladens steht für Be-we-gung. Ich habe mich der Bewegung verschrieben, weil ich finde, dass sich die Menschen zusehends zu wenig bewegen und nur noch vor ihren Laptops, Tablets und Smartphones sitzen.“

Ich schaue mich im Laden um.
„Sie betreiben also ein Fitnessstudio? Aber sie habe ja gar keine Geräte!“

„Mit Bewegung meine ich das Voranschreiten im Freien, also dreidimensionales Gehen ganz ohne Brille. Ich gehe mit den Leuten herum und zeige ihnen die Phänomene unserer Erde in Echtansicht.“

Herr Gung geht mit mir aus dem Laden und zeigt auf einen Baum auf der anderen Straßenseite: „Sehen Sie die Blätter dieses Baumes, wie sie sich im Wind bewegen?“
Benedikt Wegener geht über die Straße zum Baum. Ich folge ihm.
„Ich habe meiner vier Monate alten Tochter die grünen Blätter gezeigt, wie sie sich im Wind bewegen. Sie war fasziniert, geradezu hingerissen. Da kam mir die Idee für meinen Laden.“

Ich habe mich, wie gesagt, gewissenhaft vorbereitet auf den Besuch im Laden Benedikt Wegeners, der für mich doch immer Herr Gung bleiben wird. Ich habe mit vielem gerechnet: mit chinesischem Deutsch, mit Afghanen und ihren verschleierten Frauen, mit Syrern die Messer zücken. Aber nicht mit grünen Blättern, die sich im Wind bewegen. Ich sollte mich öfter überraschen lassen.

Streitbarer Stürmian

Wir, mein Mitarbeiter Vorderbrandner und ich, sind ein kleines Schreibbüro, das sich aber einträglichen Einnahmequellen nicht verschließen will. Ich habe deshalb Vorderbrandner zur Fußball-Europameisterschaft nach Frankreich geschickt, um dort ein Gespräch mit dem deutschen Nationalspieler Stürmian Beinschweiger zu führen.

Ich hatte Vorderbrandner eindringlich gebeten, seine Sprachverliebtheit hintanzustellen, denn es ginge um Fußball und nicht um Sprache, aber Beinschweiger führte ihn mit eloquenter Wortwahl auf Irrwege:

Vorderbrandner: Stürmian Beinschweiger, heute, kurz vor Ihrem 120. Länderspiel für Deutschland…

Beinschweiger: Ich bestreite es.

Vorderbrandner: Das Spiel oder dass Sie es bestreiten?

Beinschweiger: Wie? Ja, ich bestreite es.

Vorderbrandner: Sie bestreiten also das Spiel, und Sie bestreiten, dass Sie es bestreiten.

Beinschweiger: Mir scheint, Sie wollen einen Streit vom Zaun brechen!

Vorderbrandner: Nein, da verstehen Sie mich falsch. Ich bestreite aufs Eindeutigste, dass ich einen Streit mit Ihnen vom Zaun brechen will, jedoch würde mich interessieren, wie Sie Ihre Rolle sehen in diesem Ihrem mutmaßlich bevorstehenden 120. Länderspiel für Deutschland, dass Sie, wie ich nach wie vor annehme, bestreiten werden, ohne dies zu bestreiten?

Beinschweiger: Was ist das für eine Frage? Das ist doch ein Widerspruch: Wie kann ich ein Spiel bestreiten, ohne es zu bestreiten?

Vorderbrandner: Nun, das ist wiederum eine Frage, die Sie aufgeworfen haben, und ich fürchte, wir werden diesen Widerspruch nicht so schnell auflösen können, da uns die deutsche Sprache, die Sprache dieses Landes, für das Sie in Kürze Ihr 120. Länderspiel bestreiten werden, eine Falle gestellt hat, in der wir, wie es scheint, gefangen sind. Im übrigen sagte ich aber nicht, dass Sie ein Spiel bestreiten, ohne es zu bestreiten, sondern dass Sie ein Spiel bestreiten, ohne dies zu bestreiten.

Beinschweiger: Wollen Sie mich nun etwas fragen oder nicht?

Vorderbrandner: Nach unserem bisherigen Gespräch liegt es mir auf der Zunge zu sagen, dass ich es natürlich nicht bestreite, Sie etwas fragen zu wollen, jedoch sollten Sie dazu die Bereitschaft zeigen, etwas antworten zu wollen, ohne uns in sprachliche Widersprüche zu verwickeln, die ein klar festgelegtes Frage-Antwort-Schema nicht zulassen.

Beinschweiger: Hören Sie, ich habe keine Lust, mit Ihnen zu streiten. Stellen Sie anständige Fragen, die ich beantworten kann, oder ich breche das Gespräch ab!

Vorderbrandner: Streiten und bestreiten, unser Gespräch scheint zwischen diesen Polen zu pendeln. In jedem Fall wünsche ich Ihnen alles Gute für Ihr 120. Länderspiel für Deutschland, das Sie, wie ich hoffe, verletzungsfrei bestreiten werden. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bestreiten

Sommermärchen, immer wieder

Deutschland ist seit 2006, seit der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, ein Sommermärchenland. Da wurde gefeiert und Fahnen wurden geschwenkt. Eine Selbstberauschung historischen Ausmaßes.

Ich bin vernarrt in den Fußball, in seine Athletik, in seine Taktik. In seine Einfachheit, in seine Komplexität. Ich liebe dieses Spiel.

Als der letzte Elfmeter geschossen war, zogen sie laut und grölend durch die Straßen und betranken sich noch mehr, als sie ohnehin schon waren. Eine Selbstberauschung historischen Ausmaßes. Sind wir im Krieg gegen andere Nationen, oder war es nur ein Fußballspiel?

Ich habe gelesen: In Frankreich, der Grand Nation, also der Nation der Nationen überhaupt, zumindest laut Selbstdefinition, gehen sie ins Bistro und schauen sich ein Fußballspiel an, ohne grölend die Fahnen zu schwenken, einfach so. Und danach reden sie miteinander und gehen nachhause. Ja, geht denn das? fragt da der Deutsche. Wo bleibt denn da das Sommermärchen? Und zieht fassungslos weiter, mit einer Flasche Bier in der Hand.

Ich brauche den Fußball, aber brauche ich dazu die National-Mannschaften? Ich habe gelesen: Patriotismus ist, wenn man sein Land liebt. Nationalismus ist, wenn man die anderen Länder hasst. In Tagen des Brexit, des Aufschwungs der Rechtspopulisten, löst der Begriff der Nation bei mir Angst aus. Angst vor Abgrenzung und Isolation.

Müssen jetzt auch noch die National-Mannschaften gegeneinander spielen? – Beruhige dich, Emil: Es ist alles nur Fußball, sagt eine innere Stimme zu mir. Na denn: Prost Sommermärchen!

BRD gegen UdSSR 1972

Walentin Worderbrandner

Ich kam zur Tür herein und Vorderbrandner schaute mich missmutig an. Er sagte: „Ich zweifle an der Sprache – an ihrer Fähigkeit, irgendetwas zu sagen.“

„Ich weiß.“

„Was? Du weißt?“

„Heute ist Donnerstag, Redaktionstag, da zweifelst du regelmäßig an der Sprache, weil du etwas Geschriebenes liefern sollst.“

„Das meine ich nicht. Ich meine es wirklich ernst diesmal mit dem Zweifel. Gut dass du Geschriebenes erwähnst: Ich meine nämlich vor allem die geschriebene Sprache, an der ich zweifle. Wie kann etwas Geschriebenes etwas aussagen, wenn es sich durch nichts ausdrücken kann als durch Schrift, durch etwas Totes wie Schrift?“

„Weil du mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen hinter dieser Schrift stehst und ihr etwas Lebendiges dadurch gibst.“

„Danke für die Belehrung, Herr Oberlehrer!“

„Du hast Recht. Ich wollte gerade etwas Weises sagen. Meist kommt Wirres dabei heraus. Aber es ist egal. Wichtig ist doch nur, welches Bild in meinem Kopf ist, das ich transportieren will. Ob das Bild, das ich im Kopf habe, beim Leser ankommt, ist eine andere Frage. Es ist als Schreibender bereits ein Riesenerfolg, wenn mein Bild überhaupt gelesen wird und irgendein Bild im Leserkopf kreiert wird.“

„Vielen Dank für das Kurzreferat! Ich betitle es mit: Das Wisuelle.“

„Das gefällt mir, Vorderbrandner: Das Wisuelle. Das ist ein noch viel passender Begriff als Das Bild. Es ist das Ganze: die Gedanken, die Gefühle – ist mir warm, ist mir kalt, bin ich verliebt, bin ich verlassen worden.“

„Das W machts eben – mit V wär es wieder nur ein Bild, das Visuelle.“

„Schön dass dir das W gefällt.“

„Gefallen? Ich arrangiere mich mit deinem W-Tick.“

„Mag sein, dass ich einen W-Tick habe. Aber die Welt hat einen noch viel größeren Tick: einen WWW-Tick. Alles hängt nur noch am Netz. Aber ich muss in der Tat aufpassen mit meinem W-Tick: Erinnerst du dich an Valentina, die mal zu uns stoßen wollte? Die hat es sich dann anders überlegt, als ich ihr mein WWW-Konzept (Weises, Wirres, Wisuelles) erläutert habe, weil sie plötzlich dachte, sie müsste sich fortan Walentina nennen, um mit mir zu arbeiten.“

Weises wirres wisuelles

„Nur deswegen ist sie nicht geblieben?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist es besser. Könnte sein, dass ich wohl nur scharf war auf Walentinas Wagina – oder Valentinas Vagina, das ist mir jetzt einerlei – und nicht auf ihre Schreibkünste.“

„Und sie auf Peters Penis und nicht auf deinen.“

„Vorderbrander, du machst dich! Haben wir deine Zweifel an der Sprache nun ausgeräumt?“

„Ich zweifle, dass ich nicht zweifle.“

„Solange du mir nicht sagst: ‚Ich lebe, dass ich nicht lebe‘, ist alles halb so schlimm. Ich werde dir deine Zweiflereien schon austreiben! An die Arbeit! Und verzeih mir, wenn ich dich ab jetzt manchmal Walentin Worderbrandner nenne!“

Unterwegs nach St. Petersburg

Ich bin wütend und brülle die Frau an: „Setzen Sie sich gefälligst auf Ihren Platz, und kommen Sie nicht mehr auf die Idee, ihn jemandem anzubieten! Niemand will auf Ihrem Platz sitzen! Sie haben das auszuhalten, dass Sie dort sitzen und sonst niemand dort sitzen will! Sie soziale Vergewaltigerin, Sie kümmergenisierter Krüppel!“

Ich sehe mich im Waggon um. Es herrscht Stille und alle sehen mich an. Ich setze mich auf meinen Platz und kann meinen Atem hören. Meine Wutrede hat mich angestrengt. Ich sehe zum Fenster hinaus. Die Landschaft zieht vorüber. Meine Wutrede hat mich durcheinandergebracht. Wo war ich stehen geblieben mit meinen Gedanken? – Die russischen Zaren haben St. Petersburg erbaut und zur Hauptstadt gemacht, um Russland näher an Europa heranzuführen. Was hat die russischen Zaren zu dieser Weltoffenheit getrieben, zu diesem Interesse für Europa, um eine neue Stadt in einer Sumpflandschaft mit Überschwemmungsgefahr zu bauen? Heutzutage will jeder raus aus Europa, zum Beispiel die Briten, und die Russen bauten sich einst eine neue Hauptstadt, um nach Europa zu kommen!

Nach jeder Haltestelle blicke ich auf, zu der Frau hinüber, ich blicke auf, ob jemand eingestiegen ist und sie wieder jemanden nötigt, ihren Platz einzunehmen, um ihr soziales Gewissen zu beruhigen. Bevor ich mich wieder den Gedanken widme, die mir eigentlich wichtig sind, sollte ich erklären, was mich so entzürnt hat an dieser Frau und mich wütend auf sie einbrüllen ließ: Sie ist wohl etwa dreißig Jahre alt und hat durchaus hübsche Anlagen, aber es strahlt eine innere Unzufriedenheit aus ihren Augen, die ihre hübschen Anlagen überlagert. An einer Haltestelle war nun eine andere Frau eingestiegen, vermutlich etwa doppelt so alt wie die eine Frau, die an ihrem Platz sitzt mit der Unzufriedenheit in ihren Augen. Die jüngere Frau erhob sich von ihrem Platz und forderte die ältere Frau auf, ihren Platz einzunehmen. Die ältere Frau verweigerte sich höflich dieser Aufforderung. Die jüngere Frau bot erneut ihren Platz an, worauf die ältere erneut verweigerte. Das ging so weiter, bis die jüngere die ältere unerbittlich anflehte, sie möge doch bitte ihren Platz einnehmen, denn sonst fühle sie sich so schlecht, und das würde sie nicht aushalten. Es war eine Nötigung in ihren Worten, in ihren Gesten, in ihren unzufriedenen Augen, mit der sie die ältere Frau zwingen wollte, ihren Platz einzunehmen. Ich hatte während dieser ganzen Szene versucht, an St. Petersburg zu denken, doch es fiel mir immer schwerer, bis ich schließlich vollkommen von der Szene erfasst wurde und zu meiner Wutrede ansetzte.

Nun herrscht Ruhe im Waggon. Die ältere Frau hat sich etwas entfernt und lehnt an einer durchsichtigen Trennwand. Wo war ich stehen geblieben? Bei den Sumpfgebieten, auf denen St. Petersburg erbaut wurde? Ich weiß es nicht mehr. – In jedem Fall steht da also nun St. Petersburg, auf diesen ehemaligen Sumpfgebieten, immerhin die viertgrößte Stadt Europas. Es scheint ziemlich allein zu stehen in einem Europa, das keiner mehr zu haben scheinen will. Ich versuche, nicht aufzublicken zu der Frau, denn ich merke, dass meine Gedanken kompliziert werden und einige Konzentration erfordern. Wäre da nicht diese Unzufriedenheit in den Augen dieser Frau, ich würde mich nicht wehren können gegen den Impuls, zu ihr aufzublicken und durch ihre Augen ihre hübschen Anlagen zu erspähen. Doch so schaffe ich es, bei meinen Gedanken zu bleiben: Europa und die Nationen. Ist die Nation ein politisch gewollter Begriff, oder ist sie eine menschliche Notwendigkeit? Der Mensch tobt sich aus, und um dieses Austoben zu legitimieren, schafft er die Nation, um gegen andere Nationen Krieg zu führen. Der Feind sucht sich leichter anderswo als in sich selbst. Ist die junge Frau mein Feind?

Nein! Ich will mich nicht ablenken lassen, schon gar nicht von dieser Frau, die mich so wütend gemacht hat mit ihrer sozialen Vergewaltigung. Nein! Stattdessen denke ich: Ich fahre nicht so oft nach St. Petersburg, weil ich denke: Nur wenn ich russisch sprechen kann, verdiene ich es, St. Petersburg zu betreten. Bin ich zu streng zu mir?

Der Zug hält. Die ältere Frau steigt aus. Die jüngere wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich atme tief durch, weil ich mich schäme für meinen Wutanfall. Wieso machte mich diese Frau so wütend und jetzt so beschämt? Ich spüre neue Wut in mir hochkommen, weil es mir nicht gelingt, ihre hübschen Anlagen wahrzunehmen hinter diesen unzufriedenen Augen.

Agathes Fahrrad und die Sterne hinter ihr

Ich bin froh um Vorderbrandner. Er ist so etwas wie ein Bruder für mich. Ich habe mir als Kind immer einen Bruder gewünscht, am liebsten einen Zwillingsbruder. Und wenn ich an eigene Kinder denke, würde ich am liebsten Zwillinge haben. Ein einzelnes Kind stelle ich mir so einsam vor in seiner Welt. Woher kommt diese Einsamkeit?

Ich gehe mit Vorderbrandner die bevölkerte Straße entlang. Ich bemerke eine gewisse Aufregung bei ihm. Als ich ihn darauf anspreche, sagt er: „Die Welt dreht sich nur um Muschis und Schwänze.“

Was für eine Frau ist jetzt in seinem Kopf? Immer wenn er mit solchen Allgemeinplätzen rausrückt, drückt ihn etwas ganz Bestimmtes. Ich sage: „Du hast Recht. Die Welt dreht sich um Muschis und Schwänze. Ich finde diese Welt eine sehr anregende Welt, auf die ich jeden Tag aufs Neue gierig, neu-gierig bin. Ich habe nichts als Frauen im Kopf. Durch sie küsst mich die Muse, durch sonst nichts.“

Schweigend gehen wir weiter die bevölkerte Straße entlang. Vorderbrandner denkt an eine Frau, da bin ich mir sicher. Ich bin mir außerdem sicher, dass Frauen über das Leben bestimmen. Weil die Männer das nicht glauben wollen, erfinden sie unsinnige Geschichten, um Frauen zu unterdrücken. Und weil die Frauen schon so lange unterdrückt werden, haben viele von ihnen es sich zum Ziel gesetzt, die Männer zu unterdrücken.

Plötzlich bleibt Vorderbrandner vor einem Fahrrad stehen. Es ist ein altes schwarzes Damenfahrrad, mit einer gewissen Patina, aber elegant.

„Das ist ihr Fahrrad“, sagt er. „Das ist Agathes Fahrrad.“

Jetzt ist die Katze also aus dem Sack: Agathe heißt die Frau, um die es geht.

„Das ist das Fahrrad, mit dem sie mit mir durch die Nacht flaniert ist, durch diese laue, sternenklare Nacht letzten Sommer. Ich glaube, das ist ihr Fahrrad – nein, ich bin mir sicher: Das ist ihr Fahrrad! Ich sehe sie darauf sitzen, mit Eleganz, Anmut und Sinnlichkeit, und hinter ihr funkeln die Sterne.“

Vorderbrandner betrachtet das Fahrrad und erlebt noch einmal seine laue Sommernacht mit Agathe. Sein Blick sagt mehr als er jemals beschreiben könnte. In seinen Augen funkeln die Sterne dieser Nacht.

Er redet weiter: „Ich weiß gar nicht, ob ich Agathe noch erkennen würde. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit dieser Nacht letzten Sommer. Aber in meinem Kopf ist sie ständig da. Was macht sie mit mir? Bin ich verliebt in diese Nacht, oder bin ich verliebt in Agathe?“

Ich bin gerührt von Vorderbrandners Verliebtheit. Er ist verliebt in dieses Leben, das sich um Muschis und Schwänze dreht. Wir bleiben am Fahrrad stehen, während die Leute an uns vorbeigehen, so als wollten wir diesen Moment der Andacht in die Länge ziehen. Bin ich naiv, wenn ich glaube, dass es in diesem Leben um Liebe und nicht um Macht geht?

Ode an Josefine

Josefine kommt zur Tür herein und sieht mich lächelnd und zufrieden im Sessel sitzen.

„Was strahlst du so?“ fragt sie mich.

„Ich habe herausgefunden, warum die naturwissenschaftlichen Fächer in der Schule so eine Qual für mich waren.“

„Und das versetzt dich in so gute Laune?“

„Ich will es dir erklären. Ich versuche es. Die Verdunstung, zum Beispiel. Da steht: Bei einer Verdunstung geht ein Stoff vom flüssigen in den gasförmigen Zustand über, ohne dabei die Siedetemperatur zu erreichen. Ist das nicht ein Wunder, dass Wasser an der Luft verdunstet? Ich habe weitergelesen über Verdunstung, aber schon bald gab ich auf. Ich bin steckengeblieben bei diesem Wunder, so als würde ich voller Erstaunen beobachten, wie das Wasser aus frisch gewaschener Wäsche an der Leine verdunstet. Und so bin ich immer in den Physik- und Chemiebüchern steckengeblieben, weil ich aus dem Staunen nicht herauskam.“

Ich möchte Josefine noch von der Quelle erzählen, von dem Ort, an dem dauerhaft oder zeitweise Grundwasser auf natürliche Weise an der Geländeoberfläche austritt, und was für ein Wunder das ist, und wie schön es ist, sich am Quellwasser zu waschen und zu erfrischen, doch da geschieht schon das nächste Wunder: Josefine küsst mich leidenschaftlich.

Ich sollte dieses Wunder geschehen lassen, doch bei diesem Kuss, bei diesem oralen Körperkontakt, erwacht der Naturwissenschaftler in mir. Ich sollte in diesem speziellen Fall spezifizieren: der Philematologe.

Wie fühlt sich der Kuss an? Die Grenzen verschwimmen. Wo fange ich an, wo höre ich auf? Wer bin ich überhaupt? Ich weiß es nicht. Ich fühle es. Jeden Tag ist es ein neues Wunder, mich zu erleben, ohne zu wissen, wer ich bin. Ein Herantasten an das Leben, das ist jeder Tag. Dein Betasten meiner Lippen, meiner Haut, meines Körpers, mein Betasten deiner Lippen, deiner Haut, deines Körpers. Ist das nicht ein Wunder?

Ich wollte nichts über Wunder schreiben, weil ich es tunlichst vermeide, über Wunder zu schreiben. Wunder geschehen. Dennoch kann ich es nicht lassen, mit dem Schreiben. Ich weiß einen Ausweg: Ich lasse Musik sprechen. Vielleicht kann sie Wunder besser beschreiben: Ode an Josefine!